Ein schwie­ri­ger Weg

Die Inte­gra­tion des "Neuen Deutsch­land" in den Medi­en­markt der alten Bundesrepublik

Wie inte­griert man 17 Mil­lio­nen Men­schen? Die zwar die glei­che Spra­che spre­chen, aber aus einem ande­ren Land, aus einem ande­ren Sys­tem – aus einer ande­ren Welt kom­men? Deren Lebens­um­stände sich in kur­zer Zeit kom­plett wan­del­ten, die eine neue poli­ti­sche Ord­nung, eine neue Wäh­rung, einen neuen Arbeits­markt beka­men, andere Preise und Miet­ver­hält­nisse, neue Chefs, neue Ver­si­che­run­gen, eine neue Kon­sum­welt und vie­les mehr? Aber auch unge­ahnte Rei­se­per­spek­ti­ven, Mög­lich­kei­ten der Mit­spra­che, Eigenverantwortung.

Es sollte schnell gehen; es musste schnell gehen mit der deut­schen Ver­ei­ni­gung, sagen die betei­lig­ten Poli­ti­ker noch immer und beru­fen sich auf den Druck der Straße im Osten. Wor­über sie weni­ger gern reden: Damals sah die im Wes­ten regie­rende Union ein sich unver­hofft öff­nen­des Fens­ter der Gele­gen­hei­ten, die Ver­hält­nisse eines ver­ein­ten Deutsch­lands in ihrem Sinne zu regeln. Ent­stan­den ist eine Ein­heit, der der Osten fast bedin­gungs­los zustimmte und die für die Ost­deut­schen so gut wie alles ver­än­derte, für die West­deut­schen indes­sen wenig bis nichts. Der Osten bekam – auch weil viele danach rie­fen – das Sys­tem, das der Wes­ten längst hatte. Ein Bei­tritt; nicht wenige nen­nen es Anschluss.

Was das an Anpas­sungs­druck, an mate­ri­el­len und men­ta­len Ver­wer­fun­gen nach sich zog, sollte sich erst spä­ter zei­gen. Wenn 17 Mil­lio­nen Men­schen einem Sys­tem und einem Staat bei­tre­ten, müs­sen sie inte­griert wer­den. Das geschah mit Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nah­men, mit För­der­mit­teln. Es gab inte­gre Auf­bau­hel­fer, die in den Osten kamen, und Glücks­rit­ter, die den schnel­len Gewinn such­ten. Vie­les an der Ver­ei­ni­gungs­po­li­tik war kurz­sich­tig poli­tisch moti­viert, von Par­tei- und Wirt­schafts­in­ter­es­sen gelei­tet, war nicht nach­hal­tig genug, wie wir heute wis­sen – und der Dimen­sion der Auf­gabe nicht ange­mes­sen. Eine Dimen­sion, die erst aus der spä­ten Drauf­sicht nach und nach erkenn­bar wird. In die­sem neuen Deutsch­land musste sich das „Neue Deutsch­land“, die linke Zei­tung aus dem Osten, einen Platz suchen und erkämp­fen. Die Zei­tung war kei­nes­falls will­kom­men; wäre es nach dem Wil­len der DDR-Nach­lass­ver­wal­ter gegan­gen, das Blatt wäre schnell von der Bild­flä­che verschwunden.

Auch das ist Inte­gra­tion: sich unter radi­kal ande­ren Bedin­gun­gen zurecht­zu­fin­den und zu behaup­ten; mit den Lesern im kri­ti­schen, aber nicht defä­tis­ti­schen Gespräch zu blei­ben über Pro­bleme der Ver­gan­gen­heit und Defi­zite der Gegen­wart; Teil eines kon­tro­ver­sen, aber nicht destruk­ti­ven Dis­kur­ses über demo­kra­ti­sche Mög­lich­kei­ten und Her­aus­for­de­run­gen zu werden.

Wir schrei­ben selbst­ver­ständ­lich auch über die Inte­gra­tion von Migran­ten, von Men­schen mit Han­di­cap, über die Inklu­sion im Bil­dungs­we­sen, über
Fra­gen der Gen­der­ge­rech­tig­keit. Aber die größte Inte­gra­ti­ons­leis­tung des „Neuen Deutsch­land“ ist eine andere: seine Leser auf dem lan­gen, schwie­ri­gen Weg in eine neue Gesell­schaft zu beglei­ten, heute eine Platt­form für kri­ti­sche, linke Sicht­wei­sen zu bie­ten und damit eine Lücke auf dem Medi­en­markt der alten Bun­des­re­pu­blik zu füllen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2019.

Von |2019-11-05T10:55:56+01:00November 5th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

Ein schwie­ri­ger Weg

Die Inte­gra­tion des "Neuen Deutsch­land" in den Medi­en­markt der alten Bundesrepublik

Wolfgang Hübner ist Chefredakteur der in Berlin erscheinenden linken Tageszeitung "Neues Deutschland".