Die Legende vom Rechts­bruch – ein Lehrstück

Die Gescheh­nisse des Som­mers 2015

Der Rechts­po­pu­lis­mus und neue Natio­nal­kon­ser­va­tis­mus hat in Deutsch­land einen beson­de­ren Motor. Er treibt die AfD sowie die Bewe­gun­gen in ihrem rech­ten Umfeld an und ermög­licht ihnen das Vor­drin­gen in bür­ger­li­che Milieus, die mit schmud­de­li­gen Rechts­extre­mis­ten, pöbeln­den Aus­län­der­fein­den und dump­fen Geschichts­re­vi­sio­nis­ten eigent­lich nicht in einen Topf gewor­fen wer­den wol­len. Der Treib­stoff, der den Durch­bruch vom rechts­extre­men Rand in die Mitte der Gesell­schaft beschleu­nigt, ist die Behaup­tung, „die Regie­ren­den“ hiel­ten sich nicht mehr an gel­ten­des Recht, die Ver­fas­sung werde noto­risch miss­ach­tet, in Deutsch­land habe das Unrecht die Herr­schaft übernommen.

Der Ein­druck, die Regie­rung lasse Unrecht gesche­hen oder setze sich gar selbst über ihre recht­li­chen Bin­dun­gen hin­weg, weckt gerade bei jenen Zorn, Wut und Wider­stand, die sich selbst als beson­ders recht­schaf­fen emp­fin­den: Ärzte, Pro­fes­so­ren, Leh­rer und Rechts­an­wälte, die sich zu fein dafür waren, mit Pegida-Demons­tran­ten auf die Stra­ßen zu zie­hen, unter­schrie­ben im ver­gan­ge­nen Jahr zu Zen­tau­sen­den gemein­sam mit offe­nen Rechts­extre­mis­ten eine Pro­test­re­so­lu­tion, in der die Wie­der­her­stel­lung von Recht und Ord­nung an den Gren­zen gefor­dert wurde.

Seit der Grün­dung der AfD ist die Klage über den angeb­li­chen fort­ge­setz­ten Rechts­bruch der Bun­des­re­gie­rung auch ein rhe­to­ri­scher Gene­ral­bass, der im poli­ti­schen Sound der Par­tei pul­siert. „Wir haben eine Regie­rung, die sich nicht an Recht und Gesetzt“ hält, rief der Öko­nom Bernd Lucke sei­nem Publi­kum bei der Par­tei­grün­dung im März 2013 zu. Zwei Jahre spä­ter aber war die AfD am Ende: Im Som­mer 2015 hatte sich das Füh­rungs­per­so­nal zer­legt. Bernd Lucke war als Vor­sit­zen­der gestürzt. In den Mei­nungs­um­fra­gen lag die AfD unter der 5-Prozent-Grenze.

Alex­an­der Gau­land nannte die Flücht­lings­krise rück­bli­ckend ein „Geschenk“ für seine Par­tei. Dass die AfD nicht nur mit Über­frem­dungs­ängs­ten, Isla­mo­pho­bie und ras­sis­ti­schen Ste­reo­ty­pen mobi­li­sie­ren, son­dern auch an die Rechts­bruch-Rhe­to­rik ihrer Grün­der­ge­nera­tion anknüp­fen konnte, wurde ihr auch von ande­ren leicht­ge­macht. Es waren Juris­ten, Jour­na­lis­ten und Poli­ti­ker, die mit rau­nend vor­ge­tra­ge­nen Beden­ken, über­dreh­ten Theo­rien und einer natio­na­len Ver­en­gung des Rechts­ver­ständ­nis­ses den Glau­ben beför­der­ten, im Som­mer 2015 sei es nicht mit rech­ten Din­gen zuge­gan­gen. Wie Tank­wär­ter an den Zapf­säu­len tru­gen sie mit dazu bei, die lee­ren Tanks der AfD wie­der auf­zu­fül­len. Wie Goe­thes Zau­ber­lehr­ling rie­fen sie Geis­ter her­bei, die sie spä­ter wie­der ein­hol­ten und von rechts außen unter Druck setz­ten. Aber auch die Regie­rung selbst trägt Ver­ant­wor­tung dafür, dass sich der Vor­wurf bis in weite Teile der sie tra­gen­den Par­teien ver­fes­tigte und dort bis heute wei­ter gärt. Die Akteure in Kanz­ler­amt und Minis­te­rien unter­schätz­ten lange die Wucht, mit der der Rechts­bruch-vor­wurf sie ein­ho­len soll­ten. Statt die recht­li­chen Argu­mente, die sie für sich in Anspruch neh­men konnte, offen zu erklä­ren und zu ver­tei­di­gen, ver­suchte auch die Regie­rung selbst, sich im juris­ti­schen Deu­tungs­ne­bel mög­lichst viele Optio­nen und Recht­fer­ti­gungs­stra­te­gien offen zu hal­ten. Zu einer Klä­rung des Streits vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt kam es nie, weil die CSU den ange­droh­ten Gang nach Karls­ruhe scheute und eine Klage der AfD Anfang die­ses Jah­res aus for­ma­len Grün­den abge­wie­sen wurde.

Dabei waren sich die Ver­ant­wort­li­chen im Som­mer 2015 aus guten Grün­den sicher, gerade in recht­li­cher Hin­sicht auf der rich­ti­gen Seite zu stehen.

Als Tho­mas de Mai­zière auf dem Höhe­punkt der Krise vor der Frage stand, ob die deutsch-öster­rei­chi­sche Grenze mit mas­si­ven Poli­zei­kräf­ten und dem Ein­satz von Was­ser­wer­fern abge­rie­gelt wer­den solle, sah sich der Minis­ter mit einer gespal­te­nen Füh­rungs­mann­schaft kon­fron­tiert: auf der einen Seite waren die Beam­ten der Sicher­heits­ab­tei­lun­gen um Bun­des­po­li­zei­chef Die­ter Romann, der mit rigi­den, not­falls auch bru­ta­len Ges­ten ein Zei­chen unbe­ding­ter Ent­schlos­sen­heit set­zen wollte. Auf der ande­ren Seite waren die Ver­fas­sungs-, Aus­län­der-und Euro­pa­rechts­exper­ten, die einen end­gül­ti­gen Kol­laps des euro­päi­schen Asyl­rechts befürch­te­ten, wenn auch Deutsch­land unter dem Druck der Krise seine Bin­dung an die Dub­lin-Regeln auf­ge­ben würde. In der ent­schei­den­den Bespre­chung am 13. Sep­tem­ber folgte der Minis­ter den Ein­wän­den sei­ner Fach­ju­ris­ten, die eine Zurück­wei­sung von Asyl­su­chen­den für unver­ein­bar mit den Dub­lin-Regeln hiel­ten. Es ist eine bit­tere Pointe der Geschichte, dass aus­ge­rech­net diese Ent­schei­dungs­si­tua­tion zu dem Augen­blick sti­li­siert wurde, an dem das Unrecht die Herr­schaft an den deut­schen Gren­zen übernahm.

Horst See­ho­fer prägte das Wort von der „Herr­schaft des Unrechts“ in einem Zei­tungs­in­ter­view, mit der er die Stim­mung vor dem tra­di­tio­nel­len poli­ti­schen Ascher­mitt­woch der CSU im Februar 2016 anhei­zen wollte. Das Dik­tum erin­nerte an Begriffe, die bis dahin nur für den NS-Staat oder die SED-Dik­ta­tur ver­wen­det wor­den waren. See­ho­fer war indes nicht der erste, der es mit Blick auf die Flücht­lings­po­li­tik der Kanz­le­rin ver­wen­dete. Im Dezem­ber 2015 war in der Zeit­schrift „Cicero – Maga­zin für poli­ti­sche Kul­tur“ ein Arti­kel des bis dahin weit­ge­hend unbe­kann­ten Köl­ner Staats­rechts­do­zen­ten Ulrich Vos­gerau erschie­nen. Er stand unter der Über­schrift „Herr­schaft des Unrechts“. Vos­gerau, der spä­ter die AfD-Klage beim Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt for­mu­lierte, schil­derte die Kanz­le­rin in sei­nem Arti­kel als Kopf einer kri­mi­nel­len Schleu­ser­or­ga­ni­sa­tion. Dass sich die Regie­rung bei ihren Ent­schei­dun­gen auf euro­pa­recht­li­che Regeln beru­fen konnte, war dem Juris­ten durch­aus bewusst. Das Euro­pa­recht aber war in den Augen Vos­ger­aus ledig­lich Aus­druck einer von „Poli­tik und Medien“ pro­pa­gier­ten Ideo­lo­gie. Der Vor­wurf des Rechts­bruchs wurde begrün­det, in dem das Recht selbst dele­gi­ti­miert wurde. Der krude Auf­satz zog jedoch Kreise. Der CDU-Innen­po­li­ti­ker Wolf­gang Bos­bach emp­fahl das Pam­phlet im Deutsch­land­funk-Inter­view, um seine Zwei­fel an der Rechts­mä­ßig­keit des Regie­rungs­han­dels zu begrün­den. Aus dem Munde des Baye­ri­schen Minis­ter­prä­si­den­ten erreichte die schrille Anklage schließ­lich die breite Öffent­lich­keit. Für die AfD bedarf es seit­dem kaum noch eines wei­te­ren Begrün­dungs­auf­wands, um die Rechts­bruch-These unter die Leute zu brin­gen. Sie wurde zu einer Legende, die ihre Wir­kung ganz aus sich selbst her­aus ent­fal­tet. Ihre Geschichte aber ist auch ein poli­ti­sches Lehr­stück. Es illus­triert, dass Recht und Ver­fas­sung ein zen­tra­les Kampf­feld der Aus­ein­an­der­set­zung um die Zukunft Euro­pas sind. In der „offe­nen Gesell­schaft der Ver­fas­sungs­in­ter­pre­ten“ nach Peter Häberle liegt es an den Befür­wor­tern eines offe­nen, euro­päi­schen Rechts- und Demo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses, die­ses Feld nicht den Apo­lo­ge­ten der natio­nal­staat­li­chen Ver­en­gung und Schlie­ßung zu überlassen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 07-08/2019.

Von |2019-07-10T14:37:05+02:00Juli 10th, 2019|Meinungsfreiheit|Kommentare deaktiviert für

Die Legende vom Rechts­bruch – ein Lehrstück

Die Gescheh­nisse des Som­mers 2015

Stephan Detjen ist Chefkorrespondent des Deutschlandfunks und leitet das Hauptstadtstudio des Senders in Berlin. Im April veröffentlichte er zusammen mit Maximilian Steinbeis das Buch "Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch".