Mei­nungs­händ­ler

Wo ist der refor­ma­to­ri­sche Indi­vi­dua­lis­mus geblieben?

Ist es eine anste­ckende Krank­heit oder – schlim­mer noch – eine neue Mode? Viel­leicht habe ich bis­her nicht rich­tig auf­ge­passt, aber mir scheint, dass in jüngs­ter Zeit die Fälle von schwe­rer „Peti­tio­ni­tis“ deut­lich zuge­nom­men haben. Dar­un­ter ver­stehe ich den nicht zu unter­drü­cken­den Drang, zu einem belie­bi­gen Thema ein flam­men­des Plä­doyer dafür oder dage­gen zu ver­fas­sen und dann mas­sen­haft Unter­schrif­ten von mehr oder weni­ger bekann­ten Mit­men­schen ein­zu­sam­meln. Im Fie­ber­wahn wer­den anschlie­ßend die erreich­ten Pegel­stände in die Öff ent­lich­keit geru­fen: schon über 10.000 Unter­schrif­ten! Man könnte hier von kom­mu­ni­ka­ti­ver Rudel­bil­dung spre­chen – man kennt so etwas in ähn­li­cher Form ja vom Fuß­ball­platz. Die blanke Masse erreg­ter Men­schen soll eine Ent­schei­dung durch­set­zen oder ver­hin­dern. Mich wun­dert aller­dings, dass beson­ders Intel­lek­tu­elle und Künst­ler von dem „Petitionitis“-Virus befal­len wer­den. Eigent­lich müsste ihnen doch daran gele­gen sein, mit eige­nen, indi­vi­du­ell ver­fass­ten Tex­ten und ihrer unver­wech­sel­ba­ren Stimme wahr­ge­nom­men zu wer­den. Seh­nen sie sich nach der wär­men­den Enge eines Kol­lek­tivs? Oder empfin­den sie es als ent­las­tend, wenn jemand ande­res etwas für sie zu Papier bringt und sie nur zu unter­schrei­ben brau­chen? Ähn­lich ist es mit den immer belieb­ter wer­den­den soge­nann­ten „Off enen Brie­fen“: Jemand hat etwas geäu­ßert, was andere zu Recht oder Unrecht erzürnt. Doch anstatt ihn direkt anzu­spre­chen, mit ihm zu dis­ku­tie­ren, ver­fasst ein Team eine Beschä­mungs­epis­tel, gern ver­bun­den mit der For­de­rung nach Rück­tritt oder Ent­las­sung, und geht auf Unter­schrif­ten­samm­lung. Der Ange­griff ene wird dann gegen­ag­gres­siv reagie­ren. Oder er wird sich – wenn er so klug ist, sich von Medi­en­ex­per­ten bera­ten zu las­sen – flink ent­schul­di­gen und für eine gewisse Zeit ver­stum­men. Eine Ver­stän­di­gung ist so eher nicht mög­lich. Aber darum geht es hier ja gar nicht, son­dern um Klas­sen­keile, wie man sie aus der Grund­schule kannte. In den aso­zia­len Netz­wer­ken soll die „Peti­tio­ni­tis“ beson­ders hef­tig gras­sie­ren, aber da halte ich mich fern. Mir reicht schon, was es auf Papier gibt: diese meist schlech­ten, weil hek­tisch und von einem Kol­lek­tiv ver­fass­ten Texte, die kaum ver­hoh­lene kom­mu­ni­ka­tive Aggres­si­vi­tät, die Unlust zum Zuhö­ren und Nach­den­ken, der Zwang, andere und sich selbst in irgend­wel­che Schub­la­den zu pres­sen, diese Lis­ten mit den übli­chen Ver­däch­ti­gen. Manch­mal frage ich mich, ob es dafür eigent­lich schon spe­zi­elle Agen­tu­ren gibt, die über die ent­spre­chen­den Vor­la­gen, Daten­sätze und Ver­tei­ler verfügen.

Weh­mü­tig denke ich da – wer kann es mir ver­übeln? – an Mar­tin Luther zurück. Zwar hat er nicht eben immer vor­nehm mit sei­nen Geg­nern gestrit­ten, aber er hat es stets unter eige­nem Namen getan, seine The­sen selbst an eine Tür geschla­gen, eigen­stän­dig ver­öff ent­licht oder mit den Wor­ten ein­ge­lei­tet: „Hier stehe ich!“. Mehr von die­sem refor­ma­to­ri­schen Indi­vi­dua­lis­mus wünschte ich all den Mei­nungs­händ­lern unse­rer Tage, die jetzt noch von einer hef­ti­gen „Peti­tio­ni­tis“ geschüt­telt werden.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 07-08/2019.

Von |2019-07-09T17:43:16+02:00Juli 9th, 2019|Meinungsfreiheit|Kommentare deaktiviert für

Mei­nungs­händ­ler

Wo ist der refor­ma­to­ri­sche Indi­vi­dua­lis­mus geblieben?

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.