Ein hei­li­ger Klassiker

Lite­ra­tur­kri­tik am Grundgesetz

Manch­mal hilft es, sich einer gro­ßen Sache mit einer ein­fa­chen Frage anzu­nä­hern. Das Grund­ge­setz nun – Inbe­griff all des­sen, was uns als wert- und sinn­voll erscheint – ist sicher­lich eine große Sache. Aber seine so oft häu­fig behaup­tete Bedeut­sam­keit kann auch als Hemm­schwelle wir­ken. Es gilt als „Klas­si­ker“, und dies ist nach all­ge­mei­ner Defi­ni­tion ein Buch, des­sen Titel jeder kennt, das aber nie­mand gele­sen hat. Hier zeigt sich übri­gens eine unbe­kannte Par­al­lele zwi­schen dem Grund­ge­setz und der Bibel: Je grö­ßer die Hei­lig­keit, umso klei­ner die Leser­schar. Mit­ten im Weih­rauch­ne­bel kann man Buch­sta­ben eben schwer entziffern.

Viel­leicht kann da eine schlichte Frage wei­ter­hel­fen, fri­sche Neu­gier wecken und dazu anre­gen, sich die­ses kurze Meis­ter­werk ein­mal selbst vor­zu­neh­men. Zum Bei­spiel: Ist das Grund­ge­setz eigent­lich gut geschrie­ben? So fra­gen Lite­ra­tur­kri­ti­ker, aber auch schlichte Bür­ger. Wenn eine Ver­fas­sung kein juris­ti­scher Grund­la­gen­text blei­ben soll, der bloß von Exper­ten durch­drun­gen und genos­sen wer­den kann, muss sie auch die Ansprü­che eines inter­es­sier­ten Lese­pu­bli­kums befrie­di­gen. Das heißt, sie sollte ver­ständ­lich, klar, bün­dig, wahr­haf­tig, inter­es­sant und irgend­wie auch schön und erhe­bend for­mu­liert sein. Erfüllt das Grund­ge­setz diese Kriterien?

Wenn wir nun ein­mal Lite­ra­tur­kri­ti­ker spie­len, fällt uns als Ers­tes auf, dass es einen unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang zwi­schen Kürze und Würze gibt. Alle Arti­kel, die aus ein­fa­chen Sät­zen mit weni­gen Wör­tern bestehen, über­zeu­gen sofort. Je dich­ter sie sind, umso ein­leuch­ten­der wir­ken sie, desto mehr bein­dru­cken sie und inspi­rie­ren sie zum eige­nen Nach­den­ken: „Eigen­tum ver­pflich­tet“ – „Eine Zen­sur fin­det nicht statt“ – „Alle Men­schen sind vor dem Gesetz gleich“.

Arti­kel, an denen offen­kun­dig viel her­um­dis­ku­tiert wurde, dage­gen zei­gen schon durch ihre Länge und gewun­de­nen For­mu­lie­run­gen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Man lese nur Art. 13 GG mit sei­nen sie­ben Absät­zen über die Unver­letz­lich­keit der Woh­nung, der ein Grund­recht sein soll, aber nicht wirk­lich ist. Oder Art. 16a GG zum Asyl­recht. Dass er aus immer­hin fünf Absät­zen besteht und mit Fuß­no­ten ver­se­hen ist, für den Laien aber kaum ver­ständ­lich, offen­bart, dass er ein Grund­recht pro­kla­miert, über das kein ech­ter Kon­sens besteht. Da wirkt es fast höh­nisch, wenn der erste Absatz erklärt, dass poli­ti­sche Ver­folgte in Deutsch­land Asyl – nun ja: „genie­ßen“.

Anstoß könnte man auch an Sät­zen neh­men, die unbe­dingte Gel­tung bean­spru­chen, aber so nicht stim­men – z. B. „Die Würde des Men­schen ist unan­tast­bar“. Das klingt schlicht und erhe­bend, wie von Mose mit weni­gen Schlä­gen auf eine Stein­ta­fel gemei­ßelt. Doch jeder weiß natür­lich, dass Men­schen in ihrem Selbst­ge­fühl, ihrer Ehre, ihrem Scham­ge­fühl, ihrer Ein­zig­ar­tig­keit ver­letzt wer­den kön­nen. Tag­täg­lich geschieht dies, auch in Deutsch­land. Doch wer einen Schritt wei­ter­denkt, dem geht auf, dass hier eine para­doxe Wahr­heit auf das Schönste aus­ge­spro­chen ist: Das Kost­barste des Men­schen darf nicht ver­letzt wer­den, denn es ist unan­tast­bar. Das heißt, es ist, wenn man so will, heilig.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2019.

Von |2019-06-17T09:26:15+02:00März 27th, 2019|Grundgesetz|Kommentare deaktiviert für

Ein hei­li­ger Klassiker

Lite­ra­tur­kri­tik am Grundgesetz

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.