Es sind immer Raum und Zeit

Edgar Reitz über seine Tri­lo­gie "Hei­mat"

Die Film­reihe „Hei­mat“ hat Film­ge­schichte geschrie­ben und Edgar Reitz hat mit ihr den deut­schen Hei­mat­film maß­geb­lich geprägt. Doch was bedeu­tet Hei­mat über die fil­mi­sche Aus­ein­an­der­set­zung hin­aus für ihn? Hans Jes­sen hat nachgefragt.

Hans Jes­sen: Herr Reitz, 1984 kam der erste Teil Ihrer Tri­lo­gie „Hei­mat“ in die Kinos und Fern­seh­ge­räte. Kurz zuvor hatte der dama­lige Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl gesagt: „Hei­mat ist der Ort oder das Land, wo man gebo­ren und auf­ge­wach­sen ist … Dazu gehört die Bin­dung an Werte und die urtüm­li­chen Lebens­for­men unse­rer Hei­mat.“ Hei­mat wäre dem­nach vor allem ein geo­gra­fi­scher Ort, und/oder ein Ort nor­ma­ti­ver Set­zung. Stim­men Sie damit überein?
Edgar Reitz: Was er sagte, ist nicht falsch. Obwohl bei einem Poli­ti­ker immer eine poli­ti­sche Hal­tung und bestimmte Moral mit­schwingt. Wenn ich von Hei­mat spre­che, habe ich in dem Zusam­men­hang keine mora­li­schen Vor­stel­lun­gen, son­dern meine etwas ganz Rea­les, Kon­kre­tes. Etwas, was man erlebt und erfährt. Meine wich­tigste Erfah­rung mit dem Leben ist, dass wir den Ort, an dem wir gebo­ren wer­den und den Hori­zont unse­rer Kind­heit weder ört­lich noch zeit­lich selbst bestim­men kön­nen. D. h., im Hei­mat­be­griff ist zunächst ein­mal keine Frei­heit ent­hal­ten. Hei­mat ist eine Haut, ein Gehäuse. Die Frei­heit besteht immer darin, sich aus die­ser Haut hin­aus­zu­be­ge­ben und die­ses kleine Uni­ver­sum, das wir sozu­sa­gen von Geburt an wie einen Ute­rus mit­brin­gen, zu ver­las­sen. Wir müs­sen eine Distanz ent­wi­ckeln, aus der her­aus wir ent­schei­den kön­nen, ob wir die Ver­hält­nisse so las­sen oder nicht, ob wir uns fügen oder nicht fügen in die Tra­di­tio­nen und Ver­hält­nisse. Hei­mat war immer eine Haut, aus der ich ausbreche.

Hat Ihr Hei­mat­ver­ständ­nis auch mit Zeit zu tun? Alle drei Teile der fil­mi­schen Tri­lo­gie hei­ßen „Chro­nik“: „Hei­mat – Eine deut­sche Chro­nik“, „Die zweite Hei­mat – Chro­nik einer Jugend“, „Hei­mat Drei – Chro­nik einer Zei­ten­wende“. Chro­nik ist ein Zeitbegriff.
Es sind immer Raum und Zeit. Sie kom­men getrennt von­ein­an­der nicht vor. Wir haben ein Bild vor Augen, das ist z. B. Land­schaft, das Gesicht der Mut­ter, ein Haus, ein fami­liä­res Umfeld usw. Alles Orts­wahr­neh­mung – aber über­haupt nicht trenn­bar von unse­rer Zeit­wahr­neh­mung. Es ist von Anfang an unver­wech­sel­bar, wie die Dinge nach­ein­an­der und auch zeit­gleich mit ande­ren sind. Allein schon die Abwe­sen­heit des Vaters in einer bestimm­ten Zeit: Bei uns waren die Väter wäh­rend des Krie­ges abwe­send, da ist das Gesicht des Vaters ver­bun­den mit der Erin­ne­rung an die Zeit vor dem Krieg. Das Vater­ge­sicht ist das Frie­dens­ge­sicht. Als Krieg gibt es nur die Mut­ter, die am Krieg nicht teil­nimmt, son­dern sich ums Über­le­ben küm­mern muss. Sehr merk­wür­dige Erfahrung.

Eine Hei­mat­er­in­ne­rung, die in Kriegs­zei­ten wur­zelt, ist eine andere?
Sie ist eine voll­kom­men andere als die in soge­nann­ten Frie­dens­zei­ten. Ich denke, es gibt eine Art Zeit­hei­mat, durch die Zeit­ge­nos­sen­schaft. Eine bestimmte Zeit mit­ein­an­der erlebt zu haben erzeugt eine ebenso starke Ver­bin­dung, wie an einem Ort mit­ein­an­der gewe­sen zu sein.

Ist für Sie „Hei­mat“ ein Erleb­nis- und Erfah­rungs­zu­sam­men­hang im Men­schen – mehr geis­tige Dimen­sion als mate­ri­elle Verortung?
Dahin­ter steht ein ganz ande­rer Begriff, oder sagen wir, eine Erfah­rung. Da geht es um die Frage der Zuge­hö­rig­keit zu ande­ren, nicht nur Per­so­nen, son­dern auch Lebens­ver­hält­nis­sen, Orten und kon­kre­ten Din­gen wie Fami­lie und Haus. Sich dazu­ge­hö­rig zu füh­len erzeugt ein Basis­ge­fühl der Sicher­heit oder Gebor­gen­heit. Genauer, ein Gefühl der Erin­ne­rung an Ähn­li­ches, aber auch der immer wie­der­keh­ren­den Angst, diese Zuge­hö­rig­keit zu ver­lie­ren, also Ver­lust der Geborgenheit.

Hei­mat ist ohne den Begriff des Ver­lus­tes nicht vorstellbar?
Nicht vor­stell­bar, weil es uns immerzu in die­ser Form begeg­net. Sobald wir Hei­mat den­ken, den­ken wir an Ver­let­zun­gen, Abschied­neh­men, Ver­luste von bestimm­ten emo­tio­na­len Brenn­punk­ten usw. Hei­mat ist ein Schlacht­feld der Gefühle.

Die erste Hei­mat-Staf­fel ab 1984 führte zu einem völ­lig unvor­her­ge­se­he­nen und unvor­her­seh­ba­ren Erfolg. In Deutsch­land sahen 10 Mil­lio­nen Zuschauer jede Folge, Über­set­zun­gen in über 30 Spra­chen. Wieso stößt Schab­bach, ein fik­ti­ves Dorf im Huns­rück, welt­weit auf sol­che Reso­nanz? Was haben Sie da angetippt?
Das war für mich zunächst auch völ­lig rät­sel­haft. Ich hätte die­sen Film so gar nicht machen kön­nen, wenn ich das geahnt hätte. Ist die­ses Ver­hält­nis zwi­schen Geschichte und Ort eine uni­ver­sell-mensch­li­che Sicht oder Erfah­rung? Die­ser Frage hätte ich mich nicht gewach­sen gefühlt. So war ich in mei­nen Erzäh­lun­gen ganz unge­hemmt in der Lage, meine per­sön­li­chen inne­ren Bil­der zu ver­ar­bei­ten, meine Erfah­run­gen auf­zu­grei­fen und Fami­li­en­ge­schichte in gewis­sen Ver­wand­lun­gen ein­fach ein­zu­brin­gen. Ich fühlte mich frei in der Fik­tion. Ich konnte bei der Ent­wick­lung der Cha­rak­tere hem­mungs­los her­um­spie­len. Leute, an die ich mich aus der Kind­heit erin­nere, habe ich zum Teil einer „Geschlechts­um­wand­lung“ unter­zo­gen. Aus einem Onkel wurde eine Tante, um ihn mir fremd zu machen, um ein Bild vor Augen zu haben, mit dem ich freier umge­hen kann. Ich habe meine per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen und Erfah­run­gen ver­wurs­tet, wie es mir in den Kram passte, um die Geschichte zu ent­wi­ckeln. Bei alle­dem werde ich mit mei­nem klei­nen Schab­bach-Uni­ver­sum zum Abbild der Geschichte oder der Rea­li­tät des Lebens, weil wir den glei­chen Geset­zen unter­lie­gen wie das Leben selbst. Wir müs­sen uns ver­tei­di­gen, wir müs­sen uns Raum schaf­fen, wir müs­sen über­le­ben, wir müs­sen sehen, dass wir durch­kom­men, wir müs­sen mit Wider­sprü­chen leben … So ent­steht ein leben­di­ger Filz. Das war bis zum Ende der Prozess.

Nach­dem Sie in drei gro­ßen Film­fol­gen das 20. Jahr­hun­dert in unter­schied­li­cher Chro­no­lo­gie durch­mes­sen hat­ten, kam 2013 der Film „Die andere Hei­mat“. Sie grei­fen wei­ter zurück in die Geschichte, ins 19. Jahr­hun­dert, als Huns­rücker in erheb­li­cher Zahl nach Bra­si­lien aus­wan­der­ten. Ist die­ser Stoff ver­wo­ben mit dem Hei­mat­be­griff der ers­ten drei Folgen?
Die Erin­ne­rung an diese große Aus­wan­de­rungs­welle lebte im Huns­rück schon immer. Mir war als Kind bekannt, dass es in der eige­nen Fami­lie sol­che Aus­wan­de­rer gege­ben hat, mit denen zum Teil auch nach meh­re­ren Gene­ra­tio­nen noch Kon­takte bestan­den. Diese Geschichte steckte in mir. Und wäh­rend der Dreh­ar­bei­ten von „Hei­mat Eins“ tauch­ten ganz gegen Ende, bei den Dreh­ar­bei­ten der Schluss­epi­sode, zwei Bra­si­lia­ner im Dorf auf. Sie waren auf der Durch­reise. Ich fand es erstaun­lich, dass die sofort anfin­gen, die Steine des Mau­er­werks zu unter­su­chen und sich die Frage zu stel­len: Was sind Schie­fer­steine? Das ist das Wort, was der Opa in Bra­si­lien immer gesagt hat, aber in Bra­si­lien gab es keine Schie­fer­steine. Das waren per­sön­li­che Erin­ne­run­gen. In der Zeit nach den drei gro­ßen Film­blö­cken hatte ich das Gefühl, diese Geschichte bedarf noch einer Erzäh­lung. Ich fragte mich: Was ist der tiefste Grund für diese Aus­wan­de­rungs­welle? Warum woll­ten die alle weg aus der Hei­mat? Wo ich doch auch weg wollte aus der Hei­mat – auf eine ganz andere Weise.

Sie sind als jun­ger Mensch nach Mün­chen gegangen.
Da kam ich auf den Begriff der Sehn­sucht. Des­we­gen heißt es ja auch „Chro­nik einer Sehn­sucht“. Sehn­sucht ist ein mit roman­ti­schen Vor­stel­lun­gen erfüll­tes deut­sches Wort. Auch nicht so leicht zu über­set­zen in andere Spra­chen. Es gibt dazu kaum Analogien.

Men­schen ver­las­sen end­gül­tig die alte Hei­mat, man kommt nicht so eben mal von Bra­si­lien zurück. Sie haben fest­ge­stellt, dass in der Distanz sich die alte Hei­mat in gewis­ser Weise zu einer geron­ne­nen Vor­stel­lung verfestigt.
Das ver­band mich mit die­sen Bra­si­lia­nern. Auch ich hatte eine geron­nene Vor­stel­lung. Den Huns­rück, aus dem ich komme, gibt es nicht. Das war immer wie­der meine schmerz­hafte Erfah­rung, selbst bei die­ser inni­gen Berüh­rung, mit einem Rie­sen-Film­team dort anzu­kom­men und zu sagen: Ich erzähle euch eure eigene Geschichte, indem ich meine Geschichte erzähle und bin somit einer von euch. Und doch war ich kei­ner von ihnen. Ich erzählte ihnen auch nicht ihre eigene Geschichte. Sie haben die Geschichte des Films, als er Erfolg hatte, gern mit ihrer eige­nen Geschichte ver­wech­selt. Aber Heim­kehr in die­sem Sinne gibt es nicht.

Wie geht das zusam­men, alte und neue Hei­mat? Kann man meh­rere Hei­ma­ten gleich­zei­tig in sich tragen?
„Zweite Hei­mat“ ist der Begriff, den ich über die zweite große Staf­fel gesetzt habe. Das ist die Zuge­hö­rig­keit, die wir selbst wäh­len. Zu Beginn die­ser Geschichte sagt Her­mann Simon: „Man wird zwei­mal gebo­ren. Das erste Mal aus sei­ner Mut­ter, und da kann man nichts dran ändern. Das zweite Mal aus einem eige­nen Kopf.“ Die Hei­mat, die wir uns da schaf­fen, setzt sich aus immer mehr Ein­zel­hei­ten und Zuge­hö­rig­kei­ten, auch Wider­sprüch­lich­kei­ten zusam­men zu etwas, was wir letzt­end­lich unsere Bio­gra­fie nen­nen. Diese Hei­mat ist etwas wesent­lich ande­res als die erste, nicht gewählte Her­kunfts­hei­mat. Aber die Sehn­sucht stammt aus der ers­ten. Die Sehn­sucht nach unaus­sprech­li­chen, ich würde sagen, kind­li­chen, zumin­dest in einer gewis­sen Weise unschul­di­gen, frü­hen Erfah­run­gen, die mit dem Gefühl der Gren­zen­lo­sig­keit und Gebor­gen­heit ver­bun­den sind. Auch wenn wir ins Neue auf­bre­chen. Da bleibt immer diese asso­zia­tive Ver­bin­dung mit einem unbe­wuss­ten früh gemach­ten Erfahrungshintergrund.

Als Sie mit der Arbeit an der Hei­mat-Tri­lo­gie began­nen, war das ein gesell­schaft­li­cher Auf­bruch. Bis dahin herrschte ein zum Teil revan­chis­ti­scher, reak­tio­nä­rer, ver­lust­be­setz­ter Hei­mat­be­griff vor. Wie neh­men Sie es wahr, dass in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit im Zusam­men­hang mit Glo­ba­li­sie­rung und Migra­tion wie­der eine Hei­mat­de­batte ein­setzt, die zum Teil sehr aggres­siv und angst­be­setzt geführt wird?
Das ist ein Abgren­zungs­be­dürf­nis. Die­ses Abschot­tungs­be­dürf­nis ist eine Mischung aus Angst und Unwis­sen­heit. Aber wer sich mit Hei­mat beschäf­tigt, darf keine Angst haben. Hei­mat ist kein Ort des Besit­zes und der Zuflucht. Hei­mat ist immer etwas, was wir ver­lie­ren. Als Kind­heits­er­fah­rung ver­lie­ren wir es dadurch, dass wir erwach­sen wer­den, dass wir den Hori­zont aus­wei­ten und mit jedem Hin­zu­ge­winn an Wis­sen und Han­deln über den Rah­men, den wir schon ken­nen, hin­aus­ge­hen. Irgend­wann sind wir nicht mehr die Bewoh­ner unse­rer ursprüng­li­chen Hei­mat, son­dern wir sind hin­aus­ge­wach­sen oder hin­aus­ge­gan­gen. Was da bleibt, ist Erin­ne­rung. Und was in der Erin­ne­rung bleibt, sind diese sehr schwer benenn­ba­ren Emp­fin­dun­gen, die ich ver­sucht habe als eine emo­tio­nale Hin­ter­grund­flä­che zu beschrei­ben. Wenn wir uns die­sem Sehn­suchts­ge­bilde „Hei­mat“ wie­der nähern wol­len, machen wir die Erfah­rung, dass es diese Hei­mat kon­kret und real nicht mehr gibt. Sie ist immer ein Teil der Erin­ne­rung, aber nie­mals so, wie wir sie suchen, kon­kret vor­han­den. Was in vie­ler Hin­sicht Gründe hat. Es muss auch so sein. Wir wür­den ja allen, die uns nicht auf dem Lebens­weg beglei­ten, jeg­li­che Ent­wick­lung ver­bie­ten, wenn wir von ihnen ver­lan­gen, dass ich mich ändere, die aber nicht. Selbst die Mut­ter, selbst die nächs­ten Ange­hö­ri­gen haben eine eigene Lebens­ge­schichte und sind nicht mehr genau gleich. Die Emo­tio­nen kön­nen das sehr fein unter­schei­den, was sich ver­än­dert, und bekom­men ein Gefühl der Fremd­heit. Bei jedem Ver­such der Heim­kehr wird Fremd­heit erfah­ren. Des­we­gen sage ich, es gehört Mut dazu, denn das tut weh.

Ist unter den Bedin­gun­gen einer fort­schrei­ten­den Glo­ba­li­sie­rung und All­ge­gen­wär­tig­keit von Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten, Hei­mat in dem Sinn, wie wir sie noch ken­nen­ge­lernt haben, zukünf­tig mög­lich? Oder ist ein ganz ande­rer Hei­mat­be­griff mög­lich? Hei­mat als Ort im Inter­net, in Social Media?
Das bezweifle ich. Ziem­lich vage kann ich mir vor­stel­len, dass die Mensch­heit ein Hei­mat­ge­fühl zu ihrem Pla­ne­ten ent­wi­ckelt. Wenn man von der Raum­sta­tion ISS aus dem Orbit her­aus Bil­der und Nach­rich­ten bekommt oder unser deut­sche Astro­naut Alex­an­der Gerst mit­teilt: „Die Dürre über Nord­deutsch­land ist erschre­ckend, von hier oben aus gese­hen“, bekomme ich ein pla­ne­ta­ri­sches Gefühl. Die Ent­fer­nun­gen schrump­fen zusam­men. Das Ding rast in andert­halb Stun­den ein­mal rundum. Da ist es so weit wie von Schab­bach nach Sim­mern, ein­mal um die Welt. Es wäre ein Traum, dass die Mensch­heit sich als Bewoh­ner des Pla­ne­ten fühlt und eine Hei­mat­liebe zu die­sem blauen schö­nen Pla­ne­ten entwickelt.

Vie­len Dank.

Die­ses Inter­view ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 03/2019.

Von |2019-06-18T11:09:20+02:00Februar 27th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

Es sind immer Raum und Zeit

Edgar Reitz über seine Tri­lo­gie "Hei­mat"

Edgar Reitz ist Autor und Filmregisseur. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.