Der Aus­stieg aus der Heimat

Frei­heit als wie­der­keh­ren­des Motiv in der Bil­den­den Kunst

Als Cas­par David Fried­rich vor fast 200 Jah­ren eine men­schen­leere, unat­trak­tive, durch­wäs­serte Ebene nahe der Elbe malte, wid­mete er sich einem Motiv aus dem hei­mat­li­chen Dres­den. Eine gute halbe Stunde war es von sei­nem Ate­lier – am heu­ti­gen Ter­ras­sen­ufer – zu die­sem soge­nann­ten Gro­ßen Ost­ra­ge­hege. Selt­sam optisch ver­zerrt gab er die per­ma­nente Über­schwem­mungs­zone wie­der, unheim­lich in ihrem unwi­der­steh­li­chen Sog. Die ver­traute Gegend prä­sen­tiert sich nicht im land­läu­fi­gen Sinne als behag­li­che Hei­mat, sie erscheint als etwas Ent­fern­tes, Befremd­li­ches. Aus dem aber die Kunst durch Per­spek­tive und ein­zig­ar­tige Farb­stim­mungs­ma­le­rei das Beson­dere, näm­lich eines der schöns­ten und auf­re­gends­ten Bil­der Fried­richs machte. Der Roman­ti­ker ver­stand sich auf den ästhe­ti­schen Reiz des distan­ziert betrach­te­ten Gewöhn­li­chen, er ver­stand sich nicht auf das Anhei­melnde der hei­mat­li­chen Gefilde. Und die nach­fol­gen­den Kollegen?

Im süd­fran­zö­si­schen Arles suchte Vin­cent van Gogh, der hol­län­di­schen Hei­mat ent­flie­hend, eine Zuflucht, fand sich aber bald der gna­den­lo­sen süd­li­chen Hitze aus­ge­lie­fert. Sie setzte den Ner­ven zu, mobi­li­sierte jedoch auch seine letz­ten schöp­fe­ri­schen Kräfte. Nur wenn der Künst­ler, meinte er nun, sich ins Innere der Natur ein­fühle und zugleich als Frem­der unter ihr leide, sei er imstande, an ihr, der Natur, ein Bild vom Men­schen zu for­mu­lie­ren. Aus der Nähe wurde für ihn die Ein­füh­lung nur im Lei­den wirksam.

Oder Emil Nolde. Ende der 1920er Jahre zog er mit sei­ner Frau Ada auf die deut­sche Seite der Grenze nach Däne­mark, weil ihn die Land­schaft an seine däni­sche Hei­mat erin­nerte. Mit einem eigens ent­wor­fe­nen Wohn- und Ate­lier­haus, das sie See­büll nann­ten, schu­fen sich die Nol­des ihr eige­nes Reich. Aber als er bald dar­auf von sei­nem Anwe­sen aus einen benach­bar­ten Hof, den „Hüllt­oft Hof“, malte, war nichts hei­misch oder gar hei­me­lig. Das Bild wird bestimmt von einem gewal­ti­gen, düs­te­ren, Unwet­ter ankün­di­gen­den Him­mel, dem der nun win­zig wir­kende Hof mit sei­nen wei­ßen Scheu­nen­to­ren völ­lig aus­ge­setzt scheint. Das Unheim­li­che stülpt sich über die Nach­bar­schaft. Nichts, aber auch gar nichts erin­nert an das Wohl­ge­fühl, das man mit der Vor­stel­lung von Hei­mat ver­bin­det. Bei Nolde nicht, nicht bei van Gogh und auch nicht bei Friedrich.

Im 19. Jahr­hun­dert hatte man in der Male­rei eine eigene Gat­tung ent­wi­ckelt, die dem gän­gi­gen Hei­mat­be­griff unmit­tel­bar zu ent­spre­chen schien: die Idylle. Die Idylle zeigte bei Lud­wig Rich­ter oder Moritz von Schwind das Glück in der Beschrän­kung auf Fami­lie, das eigene Heim und die Tra­di­tion. Ein begrenz­ter Aus­schnitt aus der Wirk­lich­keit wurde verklärt.

Dage­gen tra­ten die Neue­rer an. Sie ver­war­fen sol­che Denk­sche­mata, über­haupt alles Wohl­be­kannte – und zugleich auch noch die her­kömm­li­chen Bild­mit­tel. Alles wollte auf unter­schied­lichste Wei­sen neu erdacht und ermalt wer­den. Gemüt­lich­keit war ges­tern. Unge­müt­lich sollte die Kunst sein, bei den erreg­ba­ren Expres­sio­nis­ten, bei den tabu­bre­chen­den Dada­is­ten wie bei den zeit­kri­ti­schen Veristen.

So zog in die moderne deut­sche Male­rei mit Moti­ven aus hei­mi­scher Umge­bung das Bedroh­li­che ein. Man denke nur an die Welt­un­ter­gänge von Lud­wig Meid­ner oder die im eige­nen Ambi­ente ange­sie­del­ten, gefähr­lich anmu­ten­den sur­rea­len Sze­ne­rien von Franz Rad­zi­will. Als wir vor 20 Jah­ren in der Ham­bur­ger Kunst­halle eine Aus­stel­lung zu den Land­schaf­ten von Max Beck­mann mach­ten, gaben wir ihr den Titel „Land­schaft als Fremde“. Diese Werke, heißt es im Kata­log, zeug­ten sel­ten von Har­mo­nie und Glück. Mit Befrem­den habe Beck­mann die ver­traute Umge­bung gestal­tet – die Fremde habe seine Land­schafts­ma­le­rei über­haupt erst motiviert.

Tat­säch­lich stellt sich in die­ser Gene­ra­tion die grund­le­gende Frage, was ange­sichts der Zeit­läufe eigent­lich von der Hei­mat geblie­ben sei. Beck­mann war in Leip­zig gebo­ren, lebte aus prak­ti­schen Grün­den in Wei­mar und dann in Ber­lin, wurde durch den Ers­ten Welt­krieg nach Frank­furt am Main ver­schla­gen, zog sich ange­sichts des Natio­nal­so­zia­lis­mus in der Hoff­nung auf Anony­mi­tät nach Ber­lin zurück, emi­grierte nach Hol­land, wo die deut­sche Besat­zung die Zugänge zum gelieb­ten Meer unter­sagte, und ging schließ­lich wegen Lehr­auf­ga­ben in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, wo er starb, ohne je nach Deutsch­land – in die Hei­mat – zurück­ge­kehrt zu sein.

Beck­mann malte über­all, auch Land­schaf­ten, und zwar mit dem ihm stets eige­nen distan­zier­ten Blick, aber seit der Emi­gra­tion geschah es tat­säch­lich weit ent­fernt von dem, was man als Hei­mat bezeich­nen könnte, näm­lich in der Fremde: fran­zö­si­sche, hol­län­di­sche, spä­ter ame­ri­ka­ni­sche Motive. Als er nicht mehr von Hol­land ins Aus­land rei­sen durfte, malte er sich an Hand von Post­kar­ten und Fotos die frü­her gern besuch­ten Orte an der fran­zö­si­schen Côte d’Azur aus: Bil­der der Sehn­sucht, indes nicht nach Hei­mat, son­dern nach Zei­ten der Freiheit.

Die Vor­stel­lung von Hei­mat war für bil­dende Künst­ler immer wie­der mit dem Gefühl von bedrü­cken­der Enge ver­bun­den. Im spä­ten 18. und im frü­hen 19. Jahr­hun­dert hiel­ten sie sich des­halb gern anderswo auf, vor­zugs­weise in und um Rom. Statt der deut­schen Wäl­der, Seen und Berge zog sie der son­nige Süden an. Dort fan­den sich die soge­nann­ten Deutsch-Römer künst­le­risch hei­misch, dort ent­deck­ten sie eine ästhe­ti­sche Hei­mat. So lie­ßen sie sich zu leich­ten, durch­lich­te­ten Land­schaf­ten inspirieren.

Der bür­ger­li­chen Enge – der Hei­mat – ent­zo­gen sich auch alle Künst­le­rin­nen und Künst­ler der Moderne, die auf bür­ger­li­chen Wider­stand stie­ßen, daher auf sich gestellt waren und sich des­halb gern unter Gleich­ge­sinnte misch­ten; Künst­ler­ko­lo­nien wur­den beliebt. Ein gutes Bei­spiel ist Paula Moder­sohn-Becker. Sie war nir­gendwo hei­misch, doch in Worps­wede konnte sie unter Gleich­ge­sinn­ten ihrer Kunst unge­stört nach­ge­hen: eine Art Künst­ler­hei­mat. Griff sie aber Motive aus der Gegend auf, waren es vor­zugs­weise von den Win­den gequälte, nackte Bir­ken­stämme und keine net­ten hei­mat­li­chen Bau­ern­häu­ser oder schüt­zende, stär­kende Bäume. „Geste­hen wir es nur“, schrieb Rai­ner Maria Rilke in sei­nem Buch über die Worps­we­der, „die Land­schaft ist ein Frem­des für uns und man ist furcht­bar allein unter Bäu­men, die blü­hen, und unter Bächen, die vor­über­ge­hen.“ Das war ein maß­geb­li­ches Zeitgefühl.

Als sich Heer­scha­ren von Künst­lern am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts für Monate oder Jahre nach Paris auf­mach­ten, erhoff­ten sie sich in der Welt­stadt der Kunst jene Frei­heit, die ihnen das abwei­sende Bür­ger­tum zu Haus ver­sagte. Gerade nicht die Hei­mat, das Ein­ge­wöhnte, son­dern das Gegen­teil, die fremde Welt der Neue­rer, ver­sprach frucht­bare schöp­fe­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Anre­gun­gen auf dem je indi­vi­du­el­len Weg in die Moderne.

Die Künst­ler der „Brü­cke“ und des „Blauen Rei­ter“ genos­sen unmit­tel­bar vor dem Ers­ten Welt­krieg das Land­le­ben und pfleg­ten gern ein zwang­lo­ses Dasein, jedoch bewusst in der Nähe der Städte, deren Vor­züge sie durch­aus zu nut­zen wuss­ten. Es ging ihnen um die eigene Frei­heit jen­seits aller gesell­schaft­li­chen Zwänge, auf dem Land wie in der Stadt. Gän­gige Hei­mat­vor­stel­lun­gen hat­ten darin kei­nen Platz.

So stellte sich der Hang zur Frei­heit als Gegen­pol zum Anschein des Ein­engen­den der Hei­mat her­aus. Edvard Munch sie­delte auf der Spur der Geis­tes­frei­heit vom Oslo­fjord nach Ber­lin in einen Kreis von Gleich­ge­sinn­ten über; Ernst Lud­wig Kirch­ner suchte auf Dauer Hei­lung an Leib und Seele in den Davo­ser Ber­gen; Paul Gau­guin floh in der Hoff­nung auf ein ande­res Leben nach Tahiti. Das Resul­tat all die­ser Revi­re­ments war die weit­ge­hende Ort­lo­sig­keit der Künst­ler in der Moderne.

Der Aus­stieg aus der Hei­mat bedeu­tete also für die Künst­ler mög­li­cher­weise den Gewinn an Frei­heit, auf jeden Fall aber war damit die Ort­lo­sig­keit ver­bun­den. Frei­wil­lig wurde sie über­all dort ein­ge­gan­gen, wo Künst­le­rin­nen und Künst­ler sich für wech­selnde Orte ent­schie­den, die ihnen für ihr Wei­ter­kom­men viel wich­ti­ger erschie­nen als die ange­stammte, ver­traute Gegend. Wech­selnde Orte, weil sie dort die jeweils attrak­tive Aka­de­mie, die wir­kungs­volls­ten Gale­rien und enga­gier­tes­ten Samm­ler ver­mu­te­ten, sich in einem Kreis von Kol­le­gen auf­ge­ho­ben wähn­ten oder sich als Hei­mat­lose auf dem Land Ruhe vor den städ­ti­schen Umtrie­ben und Machen­schaf­ten erhoff­ten. Kon­tro­verse Ent­schei­dun­gen: Max Ernst ging aus künst­le­ri­schen Grün­den von Köln nach Paris, Hein­rich Voge­ler aus poli­ti­schen Grün­den von Worps­wede in die UdSSR.

Schwer­wie­gen­der waren die poli­tisch erzwun­ge­nen Orts­wech­sel, Exil und Emi­gra­tion wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus, wie sie etwa Josef Albers und George Grosz in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten, Max Beck­mann und Hein­rich Cam­pen­donk in den Nie­der­lan­den, Lea Grun­dig in Paläs­tina, Lud­wig Meid­ner in Eng­land, Rudolf Bel­ling in der Tür­kei, Felix Nuss­baum in Bel­gien, Kurt Schwit­ters in Nor­we­gen oder Anton Räder­scheidt in Frank­reich schmerz­lich erfah­ren mussten.

Und wer noch nicht zwangs­weise ent­wur­zelt war, ging in die innere Emi­gra­tion, wich in ver­meint­lich siche­rere Gegen­den aus. Um nur an vier Lebens­wege von vie­len zu erin­nern: Die Stutt­gar­ter Oskar Schlem­mer und Willi Bau­meis­ter such­ten Unter­schlupf in einer Wup­per­ta­ler Lack­fa­brik; Otto Dix zog sich in die lieb­li­che, aber unge­liebte Boden­see­land­schaft zurück; Otto Pan­kok ver­steckte sich in der Eifel.

Anders erging es Künst­lern, über die man poli­tisch ver­fügte. Otto Freund­lich wurde in Frank­reich inter­niert und von Lager zu Lager geschleppt, neun waren es allein 1939/1940, nach einer Ver­haf­tung kam er in wei­tere Lager, bevor er ins Ver­nich­tungs­la­ger Sobi­bor ver­bracht wurde. Was blieb da noch von der Heimat?

Längst war sie in den Kitsch abge­rutscht. Aus der noch soli­den Form der Idylle des 19. Jahr­hun­derts wurde die völ­ki­sche „Hei­mat­kunst“. Hei­mat wurde poli­tisch funk­tio­na­li­siert, voll­stän­dig zu Zei­ten des Natio­nal­so­zia­lis­mus, also in jenen Zei­ten, in denen die Kunst der Moderne ver­femt war, ihre Schöp­fer ver­jagt und ihre Samm­ler ver­folgt wurden.

Den Moder­nen aber gal­ten das Haf­ten am Ver­trau­ten, Hei­mi­schen als klein­lich und hin­dernd. Die Distanz und das Fremd­ma­chen des Ver­trau­ten sowie die Ein­las­sung auf das Fremde, Ent­fernte öff­ne­ten ihnen den Blick auf das Eigent­li­che, das Unheim­li­che der Natur sowie die Zer­ris­sen­heit der Welt und gab ihnen die Frei­heit, die dazu nöti­gen Bild­mit­tel immer wie­der neu zu erfin­den. Ein viel­sin­ni­ges Welt­ge­fühl lei­tete sie.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 03/2019.

Von |2019-06-18T11:08:51+02:00Februar 27th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Frei­heit als wie­der­keh­ren­des Motiv in der Bil­den­den Kunst

Uwe M. Schneede leitete 1991 bis 2006 die Hamburger Kunsthalle.