Von „Heimat“ ist wieder vermehrt die Rede, auch in der Welt der Kultur. Bis vor Kurzem waren „Heimat-Dichter“ oder „Heimat-Filme“ etwas, das unbedingt zu verachten war, wenn man es überhaupt wahrnahm. Doch semantische Konjunkturen ändern sich. Jetzt sprechen nicht nur Kulturpolitiker, sondern auch Künstler unbefangen, ja engagiert von „Heimat“. Sie möchten dieses so besondere deutsche Wort nicht den Rechten überlassen. Das kann ich nachvollziehen.
Mir fällt aber bei der Wortkombination „Heimat – Kunst“ als Erstes eine ehemalige Nachbarin ein, der ich nie begegnet bin und die ich erst vor Kurzem in einem Nachbarland kennengelernt habe – was mir zeigt, wie intensiv mich meine eigene Kunst-Heimat angeht und zugleich, wie gebrochen mein Verhältnis zu ihr ist. Ich komme aus Hamburg, einer Kaufmannsstadt, die in überschaubarem Ausmaß bedeutende Künstler hervorgebracht hat. Der Kaffeehandel liegt den meisten Bürgern eben näher am Herzen. Aber genau in der Straße, in der ich bis vor Kurzem gelebt habe, ist eine bedeutende Künstlerin aufgewachsen. Doch wahrgenommen habe ich sie erst vor Kurzem, und zwar ausgerechnet in Paris. Dort habe ich in der „Fondation Cartier“ eine Ausstellung über Geometrie und lateinamerikanische Gegenwartskunst besucht. Das klingt abstrakt, war aber ein erheblicher Entdeckungsgenuss. Denn eine Fülle von Exponaten aus dem gesamten Kontinent zeigte, wie geometrische Muster der indigenen Kulturen – wie Körperbemalungen, Volkskunst, Kunsthandwerk, Architektur – Gegenwartskünstler zu neuen Schöpfungen zu inspirieren vermögen. Während ich von Bild zu Skulptur zu Vase zu Installation schlenderte, verloren Schritt für Schritt die hergebrachten Unterscheidungen zwischen Tradition und Moderne, indigen und westlich, Religion und Kunst an Bedeutung.
Dann stand ich vor den Werken von Gego: feinen Drahtgebilden, zauberhaften Strukturen aus dünnen Metallfäden. Und ich wurde daran erinnert, dass diese Künstlerin eigentlich meine Nachbarin war. Gego hieß mit bürgerlichem Namen Gertrud Louise Goldschmidt. Geboren wurde sie 1912 in Hamburg. Dort ist sie in der Heilwigstraße aufgewachsen. Als junge Frau floh sie 1939 nach Venezuela. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sie, auch angeregt von lateinamerikanischen Künstlern, eine eindrucksvolle Karriere als Künstlerin. Ihre Drahtskulpturen sind so etwas wie ungegenständliche, dreidimensionale Zeichnungen. Gego bog und verknüpfte Drähte so miteinander, dass aus dünnen Strichen Raumgebilde wurden. Ein kurzer Film zeigte, wie sie arbeitete – immer mit einer brennenden Zigarette in der Nähe – und über ihre Kunst mit einem sehr hörbaren deutschen Akzent sprach. So lernte ich endlich in der Fremde eine Künstlerin kennen, die fest zu meiner Heimat gehört.
Die heutige Bewohnerin des Hauses, in dem Gego aufgewachsen ist, hat übrigens vor wenigen Jahren eine sehr würdige Tafel anbringen lassen. Zu deren Einweihung kamen Angehörige aus Lateinamerika angereist. Die Brüche im Leben von Gego wurden nicht geheilt. Aber immerhin im Gedächtnis ist sie nach Hause gekommen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.