Bil­der und Geschich­ten aus der Provinz

Der Hei­mat­film

Filme sind mas­sen­wirk­same kul­tu­relle Pro­dukte, die unsere Vor­stel­lun­gen von der Welt, von Gemein­schaft und Iden­ti­tät beein­flus­sen. Sie grei­fen Dis­kurse des poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Lebens auf und prä­gen diese zugleich. In die­sem Sinn haben Hei­mat­filme, neben ande­ren Medien, maß­geb­li­chen Anteil daran, mit wel­chen Bil­dern, Stim­mun­gen und Fan­ta­sien das so kom­plexe Wort Hei­mat ver­bun­den wird. Begreift man Film­gen­res als säku­lare Mythen, die Erklä­rungs­mus­ter für eine wider­sprüch­li­che Wirk­lich­keit bereit­hal­ten, kann man dem Hei­mat­film beschei­ni­gen, dass er Ein­blick in die See­len­lage einer Gemein­schaft gewährt und die­ser ein Nar­ra­tiv über ihr Woher und ihr Wohin, über ihre Anlie­gen, Ängste und Hoff­nun­gen bietet.

Schon in der Früh­zeit des Kinos gab es Hei­mat­filme. Sie gin­gen her­vor aus Volks­fil­men, Adap­tio­nen der Dorf­ge­schich­ten von Lud­wig Anzen­gru­ber und Lud­wig Gang­ho­fer, sowie aus Berg­fil­men, die durch spek­ta­ku­läre Natur­auf­nah­men des Regis­seurs Arnold Fanck und die bald legen­dä­ren Dar­stel­ler Leni Rie­fen­stahl und Luis Tren­ker zu beson­de­rer Popu­la­ri­tät gelang­ten. Die­ser Her­kunft ver­dankt sich der Umstand, dass der pro­to­ty­pi­sche Hei­mat­film im länd­li­chen Raum ange­sie­delt und der Kon­flikt zwi­schen Tra­di­tion und Moderne eines sei­ner grund­le­gen­den The­men ist. Denn die Indus­tria­li­sie­rung, die im 19. Jahr­hun­dert in Deutsch­land mit Ver­spä­tung, aber dann mit Rasanz ein­setzte, hatte enorme Umwäl­zun­gen zur Folge: Wach­sende Städte, Fabri­ken und Eisen­bahn­tras­sen ver­nich­te­ten länd­li­chen Raum. Hinzu kam eine neue gesell­schaft­li­che Mobi­li­tät: Auf der Suche nach Arbeit ver­lie­ßen mehr und mehr Men­schen den Ort, an dem sie bis­her gelebt hat­ten. Als Reak­tion auf diese Ver­än­de­run­gen ent­stand eine zum Teil durch die Roman­tik inspi­rierte Lite­ra­tur, die Hei­mat als Schutz­raum zele­brierte und sie gegen die Bedro­hun­gen durch Tech­nik und Indus­trie ver­tei­digte. Der Gegen­satz vom gesun­den, „ech­ten“, auf Tra­di­tio­nen fußen­den Leben auf dem Land und der krank­haf­ten, ver­derb­ten und wur­zel­lo­sen Exis­tenz in den Städ­ten wurde zu einer wich­ti­gen Kon­stel­la­tion in der deut­schen Kul­tur­ge­schichte, die auch den Hei­mat­film bestimmte. Des­sen Pro­gramm war, kurz gesagt, Eska­pis­mus vor der Moderne. Wenig ver­wun­der­lich, dass die Natio­nal­so­zia­lis­ten sich die­ses Film­genre für ihre Blut-und-Boden-Ideo­lo­gie zunutze machten.

Der Hei­mat­film der Ade­nau­er­zeit knüpfte naht­los an die Tra­di­tion der Vor­kriegs­zeit an, nur ging es jetzt um den rei­bungs­lo­sen Auf­bau der Bun­des­re­pu­blik. Das Genre erreichte in die­ser Zeit seine größte Popu­la­ri­tät, rund 300 Filme wur­den in den 1950er Jah­ren pro­du­ziert, und ein Mil­lio­nen­pu­bli­kum ließ sich von ihnen zu Trä­nen rüh­ren. Es gab in die­sen Fil­men keine zer­stör­ten Städte, keine Kriegs­schuld, kei­nen Zivi­li­sa­ti­ons­bruch, Hei­mat wurde als para­die­si­scher Ort prä­sen­tiert, wo Poli­tik und soziale Pro­bleme unbe­kannt waren und wo sich das Wirt­schafts­wun­der ganz ohne Fabrik­schlote voll­zog, da kam neben Pfer­de­drosch­ken, Kir­chen und Trach­ten­um­zü­gen allen­falls ein­mal eine Ben­zin­zapf­säule ins Bild, so sanft wurde den Zuschau­ern der Über­gang in die freie Markt­wirt­schaft prä­sen­tiert. Es wirft ein bedenk­li­ches Licht auf deut­sche Men­ta­li­tät, dass diese Filme noch heute von den Fern­seh­an­stal­ten aus­ge­strahlt wer­den und sich gro­ßer Beliebt­heit erfreuen, denn sie sind, wie jede Volks­mu­sik­sen­dung, nicht nur erz­re­ak­tio­när, son­dern täu­schen auch eine Wirk­lich­keit vor, die es so nie gege­ben hat. So ließ Hans Deppe, der Regis­seur von „Schwarz­wald­mä­del“, meh­rere Last­wa­gen­la­dun­gen mit geschnitz­ter und gemal­ter Volks­kunst in den Breis­gau kom­men, um den Schau­platz folk­lo­ris­tisch her­aus­zu­put­zen, die ewig blü­hen­den tou­ris­ten­freund­li­chen Berg- und Hei­de­land­schaf­ten ent­stan­den alle am Schnei­de­tisch und leuch­te­ten nur des­halb in so herr­li­chen Far­ben, weil sie mit der neu­es­ten Tech­nik von Agfa­co­lor gefilmt wur­den. Sicher: Wer nicht ent­wur­zelt wurde, ermisst nicht, was Hei­mat bedeu­tet. Die­ser Satz, aus­ge­spro­chen in „Grün ist die Heide“, fängt ein Stück Wirk­lich­keit ein, hatte doch jeder fünfte Deut­sche damals einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund und musste sei­nen Platz im geschrumpf­ten Vater­land fin­den. Doch kam Zeit­ge­schichte auf sol­che Weise moment­haft in den Blick, gab es immer nur Opfer, nie­mals Täter. Die tra­di­tio­nel­len Hei­mat­filme waren Flucht vor jeder Rea­li­tät und geschicht­li­chen Ver­ant­wor­tung, waren Regres­sion in eine kind­li­che Traum­welt und zugleich Ersatz für den schwer beschä­dig­ten Natio­nal­stolz, der durch das Unheil, das man selbst in die Welt gebracht hatte, oben­drein zum Tabu gewor­den war.

Erst der kri­ti­sche Hei­mat­film der spä­ten 1960er und 1970er Jahre, die sechs­tei­lige öster­rei­chi­sche Fern­seh­se­rie „Alpen­saga“ und schließ­lich die elf­tei­lige Chro­nik „Hei­mat“ des Regis­seurs Edgar Reitz fan­den den Weg zur sozia­len, poli­ti­schen und his­to­ri­schen Rea­li­tät, von denen die Vor­läu­fer nichts hat­ten wis­sen wol­len. Sie befrei­ten die Dar­stel­lung des Land­le­bens von den bis­her gel­ten­den Kli­schees und setz­ten den Topos der unschul­di­gen Natur nicht län­ger ein, um die darin leben­den Men­schen zu ent­las­ten. Reitz’ Epos ist Orts­ge­schichte im empha­ti­schen Sinn, im Mikro­kos­mos eines Dor­fes spie­gelt sich die Geschichte Deutsch­lands von 1919 bis 1982. Dabei zeigt sich eine der Mög­lich­kei­ten und Stär­ken des Hei­mat­films, die das Genre auch und gerade heute in Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung, der Diver­si­tät und zuneh­men­der Dyna­mik gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­run­gen aktu­ell erschei­nen las­sen: Ein Zugriff auf „das Ganze“ ist uns ver­wehrt, aber der Hei­mat­film kann Denk­wei­sen, sozia­len Wan­del und Aus­wir­kun­gen poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen in einem kon­kre­ten Erfah­rungs­raum prä­sen­tie­ren, kann zei­gen, wie Bewoh­ner eines Ortes Arbeits­lo­sig­keit, Flücht­lings­pro­ble­ma­tik, Diver­si­tät oder tech­ni­sche Ver­än­de­run­gen erle­ben und ver­ste­hen. Auf­grund sei­ner gerin­ge­ren Dichte seman­ti­scher Ele­mente ist das pro­vin­zi­elle Set­ting dafür bes­ser geeig­net als das urbane, die Grenz­li­nien zwi­schen Tra­dier­tem und Neuem, Eige­nem und Frem­dem, Inte­gra­tion und Aus­schluss kön­nen im länd­li­chen Kon­text viel deut­li­cher hervortreten.

Reitz’ Chro­nik hatte inter­na­tio­nale Wir­kung, so wurde die 2013 ange­lau­fene Serie „The Vil­lage“ von der BBC als Groß­bri­tan­ni­ens Ant­wort auf „Hei­mat“ ange­kün­digt. Auch außer­halb des deutsch­spra­chi­gen Kul­tur­raums gab und gibt es Filme, die – mal im Gewand der Komö­die oder der Coming-of-Age-Story, mal in jenem des Sozi­al­dra­mas oder der Satire – The­men und Anlie­gen des Hei­mat­films auf­grei­fen. Das ame­ri­ka­ni­sche „small town cinema“, das „prai­rie cinema“ und schon der Wes­tern; der schwe­di­sche „Lands­bygd­sfilm“; das fran­zö­si­sche „cinéma rurale“, das „cinéma pay­san“ und, modernste Vari­ante, das „cinéma du métis­sage“: Sie alle sind mit dem Hei­mat­film ver­gleich­bar, die­nen wie die­ser der Mythen­bil­dung und der Kon­struk­tion von Gemein­schaf­ten. So stellt der Gegen­satz von Natur und Zivi­li­sa­tion eine Kon­stante im ame­ri­ka­ni­schen Selbst­ver­ständ­nis dar. Hol­ly­wood fei­erte in vie­len Fil­men die Tugen­den des ein­fa­chen Lebens in der Pro­vinz und zeich­nete die Stadt als Sün­den­ba­bel. Wäh­rend der Agrar­krise in den 1980er Jah­ren, als im Mitt­le­ren Wes­ten jede zehnte Farm Bank­rott ging, ergrif­fen meh­rere Filme Par­tei für die Far­mer und prä­sen­tier­ten die Arbeit auf dem Land als den wah­ren „Ame­ri­can way of life“, gleich­be­deu­tend mit Frei­heit und Unab­hän­gig­keit. Die­ser ame­ri­ka­ni­sche Traum wird nun nicht mehr von den Gefah­ren der Wild­nis bedroht, son­dern von Ban­ken und Staats­be­am­ten. Die Farm als Herz der Demo­kra­tie: Mit der Rea­li­tät hatte das kaum noch etwas zu tun, der immense Reich­tum der USA kam aus den Städ­ten, die Filme reprä­sen­tier­ten nur den Traum einer längst ver­lo­re­nen Unschuld. Auch das fran­zö­si­sche Kino kennt Sub­li­ma­tion die­ser Form. Der Erfolg von Dany Boons „Bien­ve­nue chez les Ch’tis“ hat auch damit zu tun, dass hier eine von der Glo­ba­li­sie­rung unbe­rührte, simple, aber sym­pa­thi­sche Region mit kau­zi­gem Dia­lekt und merk­wür­di­gen loka­len Bräu­chen prä­sen­tiert wurde, in der es weder Wirt­schafts­kri­sen noch Inte­gra­ti­ons­pro­bleme gibt.

In einer Zeit, in der sich alle Orte immer mehr glei­chen und sich die Kul­tur zuse­hends ent­ma­te­ria­li­siert, scheint die Sehn­sucht nach Dia­lekt, regio­na­lem Eigen­sinn und Über­schau­bar­keit zu wach­sen. Der heu­tige Hei­mat­film ist, wie der Engel Ben­ja­mins, oft einer Ver­gan­gen­heit zuge­wandt, die längst in Trüm­mer zer­fal­len ist. Doch ver­mag er manch­mal, aktu­elle Lebens­wirk­lich­keit auf die Lein­wand zu brin­gen wie „Nor­man­die nue“, der die Nöte von Bau­ern ange­sichts der EU-Agrar­po­li­tik und der Dum­ping­preise deut­scher und rumä­ni­scher Fleisch­groß­händ­ler zum Aus­gangs­punkt nimmt. Oder der in einem schwä­bi­schen Dorf ange­sie­delte Film „Land­rau­schen“, der zeigt: Die eigene Kul­tur ist selbst hete­ro­gen, die Jugend­li­chen spre­chen zwar Dia­lekt und enga­gie­ren sich in Ver­ei­nen, doch sie suchen andere Lebens­for­men als die Eltern. Wenn von den soma­li­schen Flücht­lin­gen am Ort gefor­dert wird, sich anzu­pas­sen, fragt sich, an wen? An wel­che Werte? Dies könnte Thema zukünf­ti­ger Hei­mat­filme sein.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 03/2019.

Von |2019-06-14T16:23:17+02:00Februar 26th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Der Hei­mat­film

Jürgen Heizmann ist Professor für Literatur- und Filmwissenschaft an der Université de Montréal und war 2016 Jurymitglied in der Kategorie Spielfilm beim internationalen Filmfest "Der neue Heimatfilm" in Freistadt in Österreich.