Eine Zu- oder Absage an die Kul­tur der Moderne?

Hei­mat­po­li­tik heute

Auf den ers­ten Blick erscheint unsere Welt immer wider­sprüch­li­cher: Wäh­rend wir auf der einen Seite swi­pen und twit­tern wie die Welt­meis­ter, backen wir auf der ande­ren Seite Plätz­chen nach Groß­mutters Rezep­ten und stö­bern auf Floh­märk­ten nach alten Schall­plat­ten. Was hat es mit die­ser Wie­der­be­le­bung der Tra­di­tion und die­sem „Retro-Chic“ auf sich, die wir seit eini­gen Jahr­zehn­ten in ganz Europa beob­ach­ten können?

Ganz offen­sicht­lich waren die kon­kre­ten Lebens­wel­ten sowohl in der stän­disch-zünf­ti­schen als auch in der indus­tri­el­len Gesell­schaft wesent­lich viel­ge­stal­ti­ger: Städte und Dör­fer unter­schie­den sich auf­grund ihrer kul­tu­rel­len, reli­giö­sen und beruf­li­chen Milieus viel deut­li­cher als heute. Die All­tags­welt ist im post­in­dus­tri­el­len Zeit­al­ter gleich­för­mi­ger, ja, ihr Ant­litz gesichts­lo­ser gewor­den. Wenn bei­spiels­weise die Fuß­gän­ger­zo­nen in den Innen­städ­ten wie geklont aus­se­hen, weil die Geschäfte stets die glei­chen Filia­len der­sel­ben Glo­bal-Player-Ket­ten sind, die fami­li­en­ge­führte Vor­gän­ger­läd­chen ver­drängt haben, wird Ent­frem­dung kon­kret vor Ort erfah­ren. Dann erstaunt es nicht, dass sich die Sehn­sucht auf die eigene Region, die eigene Stadt, den eige­nen Kiez trans­fe­riert: Diese sol­len Indi­vi­dua­li­tät besit­zen und Gebor­gen­heit ausstrahlen.

Es deu­tet also vie­les dar­auf hin, dass die neue Wert­schät­zung des Alt­her­ge­brach­ten eine Reak­tion auf Ver­än­de­run­gen sind, die das Indi­vi­du­elle des Lebens­um­fel­des auf­ge­löst und Län­der und Kul­tu­ren zuneh­mend homo­ge­ni­siert haben.

Wie stark die indi­vi­du­elle Suche nach „Behei­ma­tung“ heute aus­ge­prägt ist und wel­che For­men sie anneh­men kann, zeigt der 2016 erschie­nene Roman „Unter­leu­ten“ von Juli Zeh auf tra­gisch-komi­sche Weise. Zeh prä­sen­tiert die Ver­zweif­lung ihrer Prot­ago­nis­ten, die alles dar­an­set­zen, ihre Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit zu über­win­den und Boden­haf­tung durch „Rück­be­sin­nung“ auf das ein­fa­che Leben im Bran­den­bur­gi­schen zu gewin­nen. Dass auch die Land­idylle als Sehn­suchts- und Zufluchts­ort ihre Tücken auf­wei­sen kann, erfährt der Leser dann nach und nach.

Diese tiefe Bedeu­tung von Hei­mat­ver­bun­den­heit bestä­tigt sich nicht nur in der Roman­welt: Eine reprä­sen­ta­tive Erhe­bung, die Mitte 2018 im Auf­trag des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums des Innern, für Bau und Hei­mat durch­ge­führt wurde, belegt, dass acht von zehn Befrag­ten den Begriff Hei­mat für wich­tig oder sehr wich­tig hal­ten. Nahezu alle gesell­schaft­li­chen Grup­pen emp­fin­den Hei­mat­ge­fühle, ob jung oder alt, ob aus Stadt oder Land, aus Ost oder West.

Wie aber ent­ste­hen diese Hei­mat­ge­fühle und wo fin­det nun der Mensch die Ori­en­tie­rung, die er sucht? Der Ein­zelne fin­det Halt im Zusam­men­sein mit ande­ren, in einer Grup­pen­iden­ti­tät, die auf gemein­sa­mer Ver­gan­gen­heit und sozia­ler Zuge­hö­rig­keit beruht. Tief ver­wur­zelt füh­len sich die Men­schen, die Tra­di­tion und Hei­mat teilen.

Aus mei­ner Sicht ver­eint der Hei­mat­be­griff im 21. Jahr­hun­dert vor allem drei Dimensionen:

Die erste Dimen­sion beschreibt starke emo­tio­nale Anklänge: Hei­mat ist dort, wo sich Men­schen wohl, akzep­tiert und gebor­gen füh­len. Jeder kennt die­ses Gefühl, dazu­zu­ge­hö­ren und Bestand­teil einer Gemein­schaft zu sein. Kin­der fin­den ihren ers­ten Halt im Zusam­men­sein mit Eltern, Geschwis­tern und Freun­den. Meist beglei­ten uns diese frü­hen Prä­gun­gen ein Leben lang. Eine Musik, ein Geruch, Bil­der, ein Land­strich – und wir sind von einem Moment auf den ande­ren tief berührt und füh­len uns zu Hause. Dass wir Deut­sche – wie viele andere Natio­nen – durch eine enge emo­tio­nale Bin­dung an unsere Her­kunft, unsere regio­na­len Wur­zeln, kurz unsere Hei­mat­liebe geprägt sind, ist dabei eine unbe­strit­tene Tat­sa­che, die sich in unse­rer Umfrage wider­ge­spie­gelt hat.

Häu­fig sind es die Erfah­run­gen mit der Fami­lie oder dem engs­ten Umkreis, die Iden­ti­tät stif­ten und Halt bie­ten. Vie­len geht es dabei auch um die eigene Wohn­ge­gend und die Nach­bar­schaft, mit der man ver­traut ist. Geteilte Werte, eine gemein­same Spra­che und Sicher­heit sind die Eck­pfei­ler des Heimatempfindens.

Die zweite Dimen­sion des Hei­mat­be­griffs ist eine indi­vi­du­ell-plu­rale: Jeder Ein­zelne ver­steht Hei­mat unter­schied­lich und es gibt folg­lich so viele Hei­ma­ten wie Indi­vi­duen. In der offe­nen Gesell­schaft gibt es eine Viel­zahl von Nor­men, Tugen­den, Ver­hal­tens­re­geln und Gebräu­chen, Gewohn­hei­ten, kul­tu­rel­len Gepflo­gen­hei­ten und reli­giö­sen Über­zeu­gun­gen. Sie beru­hen auf einer Viel­zahl von Wert­ent­schei­dun­gen. Die Plu­ra­li­tät sowohl in den Wert­über­zeu­gun­gen als auch in den gesell­schaft­li­chen Aus­drucks­for­men ist eine Berei­che­rung und eine Chance. Bei aller Unter­schied­lich­keit sind aber nicht ver­han­del­bar: die Men­schen­rechte als Grund­lage von Gemein­schaft, Frie­den und Gerech­tig­keit, die Demo­kra­tie, die Rechts­staat­lich­keit und die Gleich­heit vor dem Gesetz, die Frei­heit der Per­son und die Ach­tung der Rechte ande­rer und die übri­gen Grund­rechte sowie die tra­dier­ten Lebensverhältnisse.

Diese indi­vi­du­ell-plu­rale Dimen­sion bestä­tigt sich eben­falls in der Befra­gung zur Hei­mat­ver­bun­den­heit: Die Zei­ten, als Hei­mat­ge­fühle in Deutsch­land als blan­kes Syn­onym für Brauch­tum und Ver­gan­gen­heits­ri­tuale ver­stan­den – und zum Teil belä­chelt – wur­den, sind vor­bei. Hei­mat wird nicht als Kulisse, son­dern als Gestal­tungs­auf­gabe empfunden.

Hei­mat ist eben nicht nur der Ort, wo wir leben, es ist auch vor allem die Art, wie wir leben. Diese Art zu leben, unsere offene Gesell­schaft, ist Teil unse­rer kul­tu­rel­len Iden­ti­tät. Die große Mehr­heit der Deut­schen ist zu Recht der Mei­nung, dass es in unse­rem Land kul­tu­relle Gepflo­gen­hei­ten für ein gutes Mit­ein­an­der gibt.

In der drit­ten Dimen­sion des Hei­mat­be­griffs offen­bart sich seine aus­ge­prägte soziale Bedeu­tung: Hei­mat ver­bin­det die Men­schen und gibt ihnen Halt und Ori­en­tie­rung. Sie ist daher auch eine soziale Ein­heit, in der Men­schen Sicher­heit und Ver­läss­lich­keit erfahren.

Dies heißt an die Adresse der Poli­tik: Sie muss die Bedürf­nisse der Men­schen, die hin­ter die­sen Dimen­sio­nen lie­gen, (wie­der) ernst neh­men und auf sie ein­ge­hen. Und die meis­ten Men­schen beur­tei­len die Qua­li­tät ihres Lebens in ers­ter Linie nach dem, was sie in ihrer unmit­tel­ba­ren Umge­bung erle­ben – und damit: wel­che Per­spek­ti­ven und Sicher­hei­ten der Staat gewährt und bietet.

Zu lange wurde im Bereich staat­li­chen Han­delns fast nur auf Effi­zi­enz und schmale Ver­wal­tun­gen geach­tet. Ein Staat jedoch, des­sen Ord­nungs­kräfte im Klein­wa­gen Kri­mi­nelle im Sport­wa­gen ver­fol­gen sol­len und des­sen Kom­mu­nen in Alt­schul­den ertrin­ken, hin­ter­lässt bei den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern nicht den Ein­druck, die Lage im Griff zu haben.

Diese ver­engte und ver­kürzte Sicht haben wir auf­ge­ge­ben. Unser Ansatz für eine erfolg­rei­che Hei­mat­po­li­tik ist wei­ter und grün­det nach mei­ner Über­zeu­gung auf drei Voraussetzungen:

Ers­tens: Hei­mat­po­li­tik muss gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen und Pro­bleme offen benen­nen und sich mit ihnen aus­ein­an­der­set­zen. Daher müs­sen wir eine Dis­kus­sion über die Rolle des Staa­tes und die Lebens­qua­li­tät in ganz Deutsch­land führen.

Zwei­tens: Hei­mat­po­li­tik braucht den Staat als Impuls­ge­ber. Daher hat diese Bun­des­re­gie­rung die Initia­tive ergrif­fen und die Kom­mis­sion „Gleich­wer­tige Lebens­ver­hält­nisse“ ein­be­ru­fen. Sie wird bis Som­mer 2019 kon­krete Emp­feh­lun­gen vor­le­gen zu Fra­gen nach per­sön­li­cher Lebens­qua­li­tät, nach indi­vi­du­el­len Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten in den Pro­blem­re­gio­nen und nach dem Zusam­men­le­ben vor Ort.

Drit­tens: Hei­mat­po­li­tik muss trag­fä­hige Ant­wor­ten auf die Suche nach Iden­ti­tät und Zuge­hö­rig­kei­ten geben und die Bür­ger auch emo­tio­nal mit­neh­men. Fra­gen der Iden­ti­tät und der Iden­ti­fi­ka­tion mit unse­rem Land sind heute wich­ti­ger denn je. Unsere Iden­ti­tät lei­tet sich aus Tra­di­tion und Geschichte her. Sie lässt sich häu­fig an mytho­lo­gi­sier­ten Orten fest­ma­chen, an Monu­men­ten des kul­tu­rel­len Gedächt­nis­ses, wie bei­spiels­weise dem Bran­den­bur­ger Tor in Ber­lin. Die Kon­tu­ren unse­rer kol­lek­ti­ven Iden­ti­tät sind jedoch nicht in Stein gemei­ßelt. Ein wesent­li­ches Cha­rak­te­ris­ti­kum von Kul­tur ist, sich zu ver­än­dern und zu wandeln.

Wenn die Poli­tik in Deutsch­land das Ver­trauen ihrer Bür­ger erhal­ten will, muss sie auf das gemein­same Hei­mat­emp­fin­den bauen und die Wur­zeln der Ver­gan­gen­heit mit dem Gestal­tungs­wil­len der Zukunft verbinden.

Die All­tags­pro­bleme der Men­schen anzu­pa­cken und für Zusam­men­halt und gute Lebens­ver­hält­nisse in einer immer unüber­sicht­li­che­ren Lebens­wirk­lich­keit zu sor­gen, das ist das Kern­an­lie­gen Hei­mat­po­li­tik des Bun­des­mi­nis­ters des Innern, für Bau und Hei­mat (BMI).

Zu die­sem Zweck war es für uns nur fol­ge­rich­tig, eine Hei­mat­ab­tei­lung im BMI ein­zu­rich­ten. Die neue Abtei­lung Hei­mat mit drei Unter­ab­tei­lun­gen ist inzwi­schen voll arbeits­fä­hig. Sie beschäf­tigt sich zum einen mit der Ver­bes­se­rung des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halts und der Iden­ti­fi­ka­tion mit unse­rem Land. Zum ande­ren wird sie dazu bei­tra­gen, den infra­struk­tu­rel­len Reform­stau zu lösen.

Hei­mat­po­li­tik ist nach unse­rem Ver­ständ­nis daher alles andere als eine Absage an die Kul­tur der Moderne, son­dern eine Zusage an die gestal­te­ri­sche Not­wen­dig­keit der­sel­ben. Ich bin zuver­sicht­lich, dass es uns mit die­sem Auf­bruch gelin­gen wird, das Ultra­mo­derne unse­rer Lebens­welt mit unse­ren Ursprün­gen zu ver­ei­nen und damit Sicher­heit und Ori­en­tie­rung in einer Welt des rasan­ten Wan­dels zu vermitteln.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 01-02/2019.

Von |2019-06-18T11:04:31+02:00Januar 27th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Hei­mat­po­li­tik heute

Markus Kerber ist Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.