Der Ruf nach einer Neuentdeckung und Neubewertung von Heimat ist unüberhörbar. In Zeiten eines als immer schneller wahrgenommenen Wandels und einer immer stärker vernetzten Welt, deren globale Probleme immer näher zu kommen scheinen, wird Heimat als eine Bezugsgröße gesehen und ersehnt, die Sicherheit und Verlässlichkeit verheißt und damit Orientierung geben soll.
Ein wichtiger Aspekt, um Heimat zu definieren, ist die Kulturlandschaft in ihrer Gesamtheit aus gestalteter Umgebung und Naturräumen. Doch mehr und mehr Menschen scheinen ohne diese klassischen Elemente ihrer Umgebung auszukommen. Zunehmend bewegen sie sich in künstlichen Welten wie Shoppingmalls, die an jedem beliebigen Ort stehen können – oder gleich in digitalen Welten. Der Vergleich mit den boomenden Kreuzfahrten liegt auf der Hand. Die künstliche Welt wird höchstens für einen kurzen, risikolosen Landgang unterbrochen und die natur- und kulturräumliche Wirklichkeit dabei oft nur als Kulisse wahrgenommen.
Wie ist eine solche Entwicklung zu stoppen und wie kann heute die Aneignung von umgebender Kultur gelingen? Viele der herkömmlichen Wege reichen nicht mehr aus und haben an Wirkmächtigkeit verloren. Die Weitergabe einer „Mastererzählung“ zwischen den Generationen, die lange die Deutung und die Wahrnehmung von zentralen Bau- und Bodendenkmälern prägte und eine allgemein akzeptierte Wertschätzung erzeugte, verliert zunehmend an Bindungskraft. Es ist in vielen Städten und den umgebenden ländlicheren Großräumen schon lange so, dass viele Zugezogene kaum Wege finden, um sich das kulturelle Erbe ihres neuen Lebensmittelpunktes anzueignen.
Im soeben vergangenen Europäischen Kulturerbejahr 2018 setzten sich viele Akteure wie Bund, Länder, Kommunen, Kirchen und Verbände gemeinsam für die Bau- und Bodendenkmalpflege ein. Die Initiative beruhte auf der Erkenntnis, dass das bauliche und kulturelle Erbe ein identitätsstiftender Faktor über Ländergrenzen hinweg sein kann, der gerade heute wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein gehoben werden muss. Der Begriff „bauliches und kulturelles Erbe“ zeigt dabei klar, dass der Blick weit über die unter Denkmalschutz gestellten Gebäude und Bodendenkmäler hinausgeht. Eine Vernetzung in viele kulturelle Bereiche hinein wurde angestrebt.
Andersherum wurde deutlich, dass die Kulturzeugnisse selbst nicht aus sich heraus entstanden sind, sondern dass sich in ihnen geradezu immer ein starker kultureller Austausch, ja eine intensive Vernetzung widerspiegelt. Letzteres scheint auf den ersten Blick selbstverständlich zu sein. Wenn man sich jedoch einmal mit weit verbreiteten Geschichtsbildern auseinandersetzt, die häufig auch in Museen durch Besucherreaktionen gefasst werden können, dann zeigt sich, dass ein statisches Bild vorherrscht, das die baulichen Zeugnisse zuallererst als Bild einer langen lokalen Tradition versteht. Nur selten werden die Beziehungen, die von ihnen ausgehen, in den Vordergrund gestellt. Diese Umkehr der „Mastererzählung“ hat weitreichende Folgen, die neue Chancen zur Einbindung von Menschen und zu deren „Verheimatung“ bieten. Die Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“, die vom 21. September 2018 bis zum 6. Januar 2019 im Martin-Gropius-Bau in Berlin die archäologischen Neufunde aus allen Bundesländern präsentierte, hat dafür beispielhaft Möglichkeiten aufgezeigt.
Die Ausstellungskonzeption bricht mit einer linearen Erzählung von Geschichte, die Objekte chronologisch im Zusammenhang mit gleich alten Funden zeigt. In die Ausstellung „Bewegte Zeiten“ führt ein anderer Zugang. Die Funde werden in vier großen thematischen Einheiten – Mobilität, Konflikt, Austausch und Innovation – als Zeugnisse von dynamischen Interaktions- und Austauschprozessen erschlossen. Bewegung wird als die Bewegung von Menschen, der Weitergabe von Dingen und der Aufnahme von Ideen begriffen. Dazu wird das Thema der Konflikte herausgearbeitet, denn diese gehören zur menschlichen Geschichte unabweisbar dazu.
Die Migration von Menschen und deren individuelle Mobilität durch alle Zeiten ist nur insofern der Anfang aller Probleme, als dass die Migration von Menschen den Beginn jeder Entwicklung darstellt. Am Anfang der Ausstellung steht der Besucher einer großen, raumgreifenden Medieninstallation von Andreas Sawall gegenüber. Ein schier endloser Zug von Menschen aus allen Epochen ist kontinuierlich unterwegs. Viele Betrachter hat dieses Bild nicht mehr losgelassen. Sie fühlen sich eingereiht in eine große Gemeinschaft von Wanderern durch die Zeit. Die archäologischen Funde – der Weg selbst ‒ unterstützen diese Wahrnehmung. Die ältesten Holzstämme, die den Anfang des Weges bilden, sind bereits vor über 6.000 Jahren verbaut worden. Die Wegspuren durch die Jahrtausende enden mit einer Betonplatte und einem Stück Stalinrasen von den Sperranlagen der Berliner Mauer. Viele Wege werden in ihrem Verlauf kaum geändert. Sie sind die Lebensadern einer Region. Wie stark frühe Migrationsereignisse uns heute noch prägen, wird beim Blick in eine Spiegelinstallation deutlich, die unser Spiegelbild mit den Reflexionen archäologischer Überreste neolithischer Wanderungsbewegungen vermischt: Unser heutiges Genom geht auf vier große Migrationsereignisse in der Jungsteinzeit zurück. Es beginnt mit den Menschen, die ursprünglich aus dem Gebiet Anatoliens gekommen sind. Sie brachten vor etwa 8.000 Jahren Ackerbau und Viehzucht mit in unsere Region. Mehr als 1.000 Jahre lang sind Menschen, die noch als Jäger und Sammler in Skandinavien gelebt hatten, eingewandert und haben sich mit den hier lebenden Menschen verbunden. Vor etwa 4.000 bis 5.000 Jahren folgte dann eine Gruppe aus den eurasischen Steppen, die starke Spuren in unserem Genom hinterlassen hat. Eine weitere Zuwanderung erfolgte aus dem Bereich der iberischen Halbinsel. Vor etwa 4.000 Jahren ist so das in der Folge ganz Europa prägende Genom geformt worden. Die späteren Wanderungsbewegungen lassen sich daher auf diesem Weg nicht mehr nachweisen.
Neben der Migration größerer Gruppen hat die archäologische Forschung in den letzten Jahren den Fokus verstärkt auf den Nachweis individueller Mobilität gerichtet. Im Zusammenspiel mit archäologischen Funden haben dabei neue naturwissenschaftliche Verfahren wie die Untersuchung von Isotopen in Knochen und Zähnen neue Erkenntnismöglichkeiten eröffnet. Immer deutlicher tritt uns vor Augen, dass zu allen Zeiten eine relevante Gruppe von Menschen auch über weite Strecken hinweg unterwegs gewesen ist. Die Gründe dafür sind zu allen Zeiten so vielfältig wie heute und oft dieselben. Menschen haben sich dauerhaft oder auf Zeit von ihrem Geburtsort entfernt, um Arbeit nachzugehen, z. B. in mittelalterlichen Bauhütten, um Militärdienst zu leisten wie im römischen Militär oder um eine Ehe einzugehen. Menschen sind aber auch unfreiwillig unterwegs gewesen: Sie wurden z. B. in der Römer- und Wikingerzeit versklavt, wichen vor Klimaveränderungen wie der steinzeitlichen Kälteperiode zurück oder wurden religiös verfolgt, wie das Beispiel eines geflüchteten armenischen Bischofs in Passau zeigt. Der Blick auf diese Einzelschicksale macht deutlich, dass das Bild einer kontinuierlichen und konstanten Bevölkerung, die über lange Zeiträume immer am gleichen Ort wohnt, ziemliche Risse zeigt.
Das zweite Thema der Ausstellung, Handel und Austausch, ist auf das Engste mit der Mobilität der Menschen verknüpft. Die Wege zu Wasser und zu Land sind auch Wege des Handels gewesen. Zweifelsohne hat sich Warenhandel weltweit heute potenziert. Die Schlussfolgerung, dass Fernhandel in früheren Zeiten nur eine sehr geringe Rolle gespielt hat, ist dennoch nicht zutreffend. Deutlicher treten uns die seit der Jungsteinzeit stark ausgeprägten Austauschbeziehungen vor Augen, die mit dem Beginn der Bronzezeit neue Dimensionen erreichten. Kupfer und Zinn wurden nun in großen Mengen benötigt und mussten weit gehandelt werden. Wie ausgereift diese Grundlagen für Fernhandel bereits vor 3.600 Jahren gewesen sind, zeigt uns der Neufund eines großen Kupferbarrenhortes im bayerischen Oberding. Der Fund von fast 800 (!) genormten Barren ist an sich bemerkenswert. Jeder dieser Barren wiegt um die 100 Gramm, die in Zehnerbündeln zu je einem Kilo aufbewahrt worden sind – ein spektakulärer früher Nachweis der Anwendung des Dezimalsystems, das damals somit schon als Grundlage für Handel und Austausch gedient hat. Mit der genormten Metallmenge wurde eine verlässliche Wertbasis für den Handel geschaffen. Der Bergbau, die Weiterverarbeitung des Metalls und der Handel verlangten bereits ein hohes Maß an arbeitsteiliger Gesellschaft und Mobilität.
In kaum einer anderen Zeit ist die Dynamik, die ein weitgespannter Handel auslöst, so deutlich zu fassen wie in Europa in der Zeit zwischen 1150 und 1250. In der Ausstellung wird dies an der Entstehung der Stadt Lübeck deutlich. Die große Ausgrabung im dortigen Gründungsviertel belegt ein sehr erfolgreiches Investitionsprojekt. Der Stadtherr lockte die Neubürger aus Westfalen, dem Rheinland, Flandern und vielen weiteren Gegenden mit günstigen Konditionen an. Nahezu alle Bewohner der neu gegründeten Stadt waren Zugereiste.
Im Themenbereich der Innovation und des Ideentransfers wird fassbar, dass unsere technische Entwicklung – ebenso wie die kulturelle – ohne die intensiven Austauschprozesse in Europa nicht vorstellbar ist. Dabei ist der Begriff Europa niemals als statischer geographischer Begriff zu betrachten. In der Bronzezeit sind die Austauschprozesse mit den Hochkulturen im Zweistromland und am Nil von großer Wichtigkeit. Die Himmelsscheibe von Nebra zeugt davon. Ihre Konzeption kann ohne den Bezug zu den astronomischen und kalendarischen Kenntnissen dort nicht verstanden werden. Für die Römerzeit wird deutlich, wie wichtig der gesamte Raum um das Mittelmeer nicht nur für den Handel, sondern besonders für die kulturellen und religiösen Innovationen ist. Das Christentum, aber auch die orientalischen Kulte des Mithras oder des Jupiter Dolchineus, die mit den Angehörigen des römischen Militärs im ganzen Reich verbreitet wurden, sind bedeutende Zeugnisse dieses Prozesses.
„Bewegte Zeiten“ – der Titel entspricht dem Bild der Geschichte, das sich in dieser Ausstellung auch im Bewusstsein der Besucher neu zu formen beginnt. Unsere Geschichte ist ohne Migration und Mobilität, ohne Austausch und Ideentransfer, aber auch ohne Konflikte so nicht möglich. Für eine Positionsbestimmung in der Gegenwart ist es hilfreich, sich in diesem Sinne den Erfahrungen der Menschen in unterschiedlichsten historischen Situationen neu zu stellen. Wenn wir die Vielfalt der Geschichten unserer Heimat erkennen und anhand der baulichen und archäologischen Zeugnisse unserer nächsten Umgebung erzählen, dann schaffen wir Anknüpfungsmöglichkeiten für die Vielfalt der Menschen mit ihren Lebensgeschichten, die heute an ihrem Wohnort Heimat verspüren oder noch suchen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.