Die deutschen Sinti und Roma sind neben den Dänen, den Friesen und den Sorben eine der vier in Deutschland anerkannten und alteingesessenen nationalen Minderheiten. Die deutschen Sinti sind seit über 600 Jahren im deutschen Sprachraum beheimatet und seit jeher Bürger dieses Staates. Deutsche Roma sind seit über 100 Jahren hier ansässig. In den Familien wird neben Deutsch als zweite Muttersprache unsere eigene Sprache Romanes gesprochen.
Sinti und Roma haben in der deutschen und europäischen Geschichte in vielen Bereichen ihre Spuren hinterlassen. Kaum jemand weiß, dass Vertreter der europäischen Klassik wie Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven von der Musik der ungarischen Roma beeinflusst waren. Bihari János, der vom Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts mit über 80 Kompositionen als der hervorragendste Komponist und Interpret der ungarischen Musikform des „Verbunkos“ galt und 1815 vor den Teilnehmern des Wiener Kongresses auftrat, war befreundet mit Beethoven, der Elemente aus dessen Kompositionen für eigene Werke aufgriff. Auch Béla Bartóks Violinkonzert Nr. 2 ist ein hervorragendes Beispiel für den Verbunkos-Stil der ungarischen Roma.
In unserer Heidelberger Ausstellung über die Geschichte der NS-Verfolgung gibt es eine Vielzahl von Familienfotos, die Angehörige unserer Minderheit in den Uniformen der kaiserlichen Armee zeigen, die im Ersten Weltkrieg an der Front kämpften, oftmals mit hohen Auszeichnungen versehen. Der Münchner Sinti Eduard Höllenreiner beispielsweise war Soldat im Ersten Weltkrieg und wurde mit hohen Auszeichnungen versehen, unter anderem dem Eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse. Gleiches gilt selbst noch für den Zweiten Weltkrieg, denn solange Sinti und Roma nicht von den Nazis erkannt wurden, waren viele in der Wehrmacht. Der Publizist Hermann Langbein, der als politischer Häftling in Dachau, Neuengamme und Auschwitz inhaftiert und als Zeuge der Situation im Vernichtungslager Auschwitz maßgeblich an den Frankfurter Auschwitz-Prozessen beteiligt war, berichtete in einem Interview aus dem Jahr 1992, dass viele Sinti bei ihrer Ankunft in Auschwitz noch ihre Wehrmachtsuniform mit zum Teil hohen Auszeichnungen trugen.
Die deutschen Sinti und Roma waren bereits lange vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten als Nachbarn und Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben und in die lokalen Zusammenhänge integriert. Mein Vater und mein Onkel hatten in Darmstadt, wo sie eines der ersten Kinos gründeten, noch zu Beginn der 1930er Jahre viele Freunde, mit denen zusammen im Haus meiner Großeltern regelmäßig Hauskonzerte veranstaltet wurden. Für meine Großeltern war es gar keine Frage, dass sie beides waren: Sinti und Deutsche, deutsche Sinti. Patriotismus und kulturelle Identität als Minderheit waren für sie kein Widerspruch. Deutschland, oder besser: deutsche Länder, wie z. B. Schlesien oder Bayern, waren für unsere Familien Heimat.
Mit dem Machtantritt Hitlers wurde dieses bis dahin selbstverständliche Leben als deutsche Bürger radikal zerstört. Der nationalsozialistische Staat sprach den Angehörigen unserer Minderheit auf der Grundlage einer menschenverachtenden Rassenideologie kollektiv und endgültig das Existenzrecht ab, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren waren. Schon die berüchtigten „Nürnberger Rassengesetze“ von 1935 fanden auf Sinti und Roma ebenso Anwendung wie auf jüdische Menschen. In einer Anweisung von Reichsinnenminister Frick hieß es dazu: „Zu den artfremden Rassen gehören … in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner“. Am 8. Dezember 1938 verfügte Heinrich Himmler in einem Runderlass „die Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“. Damit ging es für Sinti und Roma nicht mehr nur um Heimat, sondern um das bloße Überleben. Die systematische Entrechtung und Vernichtung im NS-Staat stellte einen tiefen Bruch in unserer gemeinsamen deutschen Geschichte dar. Die Normalität des Zusammenlebens wurde auf brutale Weise zerstört, ganze Familien wurden ausgelöscht: Über 500.000 Sinti und Roma in Europa wurden in den Vernichtungslagern oder von den Einsatztruppen der Polizei und der SS wie der Wehrmacht hinter der Ostfront ermordet.
Dieses Menschheitsverbrechen wurde erst 1982 durch die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell und in völkerrechtlich bedeutsamer Weise als Völkermord anerkannt. „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet“, sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997 bei der Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.
Für uns deutsche Sinti und Roma stellte sich die Frage nach Identität und Heimat nach den unfassbaren Gräueln der Nationalsozialisten an unserer Minderheit auf eine ganz neue Weise. Wie konnten wir uns noch als Deutsche, als deutsche Sinti begreifen? Die Erfahrung der totalen Entrechtung und Vernichtung hatte zu einem tiefen Bruch in unserer Identität geführt. Das Ende des Krieges bedeutete für die deutschen Sinti und Roma nämlich nicht das Ende ihrer Ausgrenzung. Unsere Menschen erwartete fortgesetzte Diskriminierung und die Leugnung der an ihnen begangenen Verbrechen. Die Beamten aus dem SS- und Polizeiapparat, die den Völkermord organisiert hatten, blieben weiterhin in Amt und Würden. Auch die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland war über Jahrzehnte hinweg von den Denkstrukturen aus der Zeit des Nationalsozialismus geprägt. So lehnte der Bundesgerichtshof am 7. Januar 1956 Entschädigung für überlebende Sinti und Roma ab, die im Mai 1940 in das besetzte Polen deportiert worden waren. Diese Maßnahmen seien laut Bundesgerichtshofes (BGH) aus „militärischen und sicherheitspolitischen Beweggründen“ erfolgt. Weiter heißt es: „Die Zigeuner neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung von fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“ Versuchen Sie sich vorzustellen, was es für einen traumatisierten Angehörigen unserer Minderheit, der der Hölle der KZs entronnen war, bedeuten musste, einer solchen infamen Diffamierung von höchstrichterlicher Stelle ausgesetzt zu sein. Es war ein wichtiges politisches Signal, dass sich die heutige BGH-Präsidentin Bettina Limperg 2015 in aller Klarheit von diesem Schandurteil distanziert hat.
Ein wirklicher gesellschaftlicher Wandel setzte erst mit den politisch-kulturellen Veränderungen der 1960er und 1970er Jahre ein. Ein von vielen Sinti und Roma in Deutschland aufmerksam wahrgenommener Moment war dann die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges im Januar 1985. Erstmals sagte hier ein Bundespräsident deutlich, was der 8. Mai für uns alle bedeutet: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Heute gibt es das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, das in Berlin direkt neben dem Deutschen Bundestag steht, und wo wir der ermordeten Sinti und Roma gedenken. Heute steht dieser Ort als ein Teil unserer Identität, als Ort der Erinnerung und als Ort, der zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland diese Geschichte als gemeinsame Geschichte begreift.
Auf der politischen Ebene gibt es generell eine positive Entwicklung. Aktuell beruft die Bundesregierung einen Unabhängigen Expertenausschuss Antiziganismus, der gleichermaßen Analysen wie Handlungsempfehlungen erstellen soll. Die Kulturstiftung des Bundes hat mit dem Projekt RomArchive ermöglicht, die vielfältigen Beiträge von Sinti und Roma zur deutschen und zur europäischen Kultur zu dokumentieren und im Internet zu präsentieren; am 24. Januar 2019 wurde die Webseite des RomArchive freigeschaltet.
Sinti und Roma sind nationale Minderheiten in ihren jeweiligen Heimatländern, und zwischen kultureller und nationaler Identität darf kein Gegensatz gemacht werden. Europa muss mehr sein als jene „substanzielle Leere“, wie der Soziologe Ulrich Beck es charakterisiert hat. Europa braucht wieder eine Vision, die nicht auf der Technokratie einer ökonomischen Globalisierung aufbaut, sondern die uns eint auf der Basis unserer vielfältigen Identitäten. Wir sind gemeinsam gefordert, „Europa“ und „Heimat“ in unsere Identität aufzunehmen und neu zu denken. Gerade als Minderheit müssen wir aber über den Status als Minderheit immer auch hinausgehen. Wir wollen und müssen an unserer Gesellschaft aktiv teilnehmen. Diese gleichberechtigte Teilhabe muss immer wieder eingefordert werden, aber sie ist Voraussetzung für unseren Zusammenhalt in einer offenen Gesellschaft.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.