Dies- und jen­seits der Neiße

"Schle­si­sche Hei­mat" im Museum

Der 11. Februar 1945 blieb Elvira Schnei­der aus dem schle­si­schen Sagan ihr gan­zes Leben in allen Ein­zel­hei­ten im Gedächt­nis: Am Mor­gen gab die SS den Befehl, die Stadt inner­halb von zwei Stun­den zu räu­men – die Rote Armee war im Anmarsch. Has­tig raff­ten das Mäd­chen und seine Mut­ter einige Hab­se­lig­kei­ten zusam­men. Nur ein ein­zi­ges Spiel­zeug durfte Elvira mit­neh­men: Sie ent­schied sich für eine Rübe­zahl­fi­gur, Sou­ve­nir von einem Fami­li­en­aus­flug ins Rie­sen­ge­birge in glück­li­chen Kind­heits­ta­gen. Der kleine Rübe­zahl steht jetzt in einer Vitrine im Schle­si­schen Museum zu Gör­litz und trägt schwer an den Erin­ne­run­gen und Gefüh­len, die mit ihm ver­bun­den sind. Rie­sen­ge­birge, schle­si­sche Hei­mat, ver­lo­rene Hei­mat, Flucht, Ver­trei­bung, Ende der Kind­heit. Das Schle­si­sche Museum ist keine Hei­mat­stube. Es infor­miert sach­lich über Geschichte und Kul­tur Schle­si­ens, zeigt Gemälde, kunst­hand­werk­li­che Objekte und Gegen­stände, die die Geschichte der Region anschau­lich machen. Aber von dem Begriff und dem Gefühl „Hei­mat“ kommt es nicht los.

Im Museum haben wir den Ein­druck: Alle alten Schle­sier sind Samm­ler. Wer in jun­gen Jah­ren alles ver­lo­ren hat, tut sich wohl schwer, etwas weg­zu­wer­fen. Viel­leicht ist die Samm­lung ein Ersatz für ver­lo­rene Hei­mat. Da gibt es den Münz­händ­ler, der alle ihm ange­bo­te­nen Mün­zen und Medail­len aus Schle­sien für sich selbst behält, den Leh­rer, der ein Leben lang schle­si­sches Por­zel­lan sam­melt und das Stan­dard­werk zum Thema ver­fasst, den Medi­zin-Pro­fes­sor und Kli­nik­lei­ter, der den größ­ten Teil sei­nes Ver­mö­gens in baro­ckes Glas aus dem Rie­sen­ge­birge inves­tiert. Die­sen Men­schen – alle­samt gebo­rene Schle­sier und her­vor­ra­gende Ken­ner auf ihrem Gebiet – ver­dankt das Museum im Wesent­li­chen seine Existenz.

Gör­litz ist der rich­tige Stand­ort für ein schle­si­sches Museum in Deutsch­land. Bis 1945 gehör­ten die Stadt und die nord­öst­li­che Ober­lau­sitz zur Pro­vinz Schle­sien. Rund 40 Pro­zent der Bewoh­ner von Gör­litz in den spä­ten 1940er Jah­ren hat­ten das Schick­sal der Ver­trei­bung erlebt. In der DDR waren die schle­si­schen Tra­di­tio­nen unter­drückt und tabui­siert. 1989 stand Schle­sien sofort wie­der auf der Tages­ord­nung. Eine Welle von Vor­trä­gen, Tagun­gen, Aus­stel­lun­gen und Dis­kus­sio­nen zum Thema Schle­sien ging über Gör­litz hin­weg. Über­all waren die gelb-wei­ßen Far­ben Schle­si­ens zu sehen. Inzwi­schen hat sich die Auf­re­gung gelegt. Die Grenze ist offen, All­tags­kon­takte nach Polen wer­den immer dich­ter. Das Ver­ständ­nis brei­tet sich aus, dass „Schle­sien“ etwas ist, das die Gebiete dies­seits und jen­seits der Neiße ver­bin­det, ein Stück deutsch-pol­ni­scher Gegen­wart, viel­leicht eine Vor­ah­nung euro­päi­scher Heimat.

Die Ver­trie­be­nen trifft zuwei­len der Ver­dacht, einer Aus­söh­nung zwi­schen Deutsch­land und sei­nen öst­li­chen Nach­barn im Wege zu ste­hen. Der Vor­wurf ist unge­recht. Die meis­ten haben sich schon lange mit den seit 1945 exis­tie­ren­den Gren­zen aus­ge­söhnt. Was bleibt: Inter­esse für die frü­here Hei­mat, weh­mü­tige Erin­ne­rung, aber auch Ver­ständ­nis für die jetzt dort leben­den Men­schen, deren Fami­lien selbst in vie­len Fäl­len Ver­trei­bung erlebt haben. Seit­dem die Gren­zen offen sind, haben wohl die meis­ten Ver­trie­be­nen die ver­trau­ten Orte besucht und ihren Kin­dern und Enkeln gezeigt. Sie haben Kon­takt mit den Bewoh­nern ihrer frü­he­ren Häu­ser auf­ge­nom­men – manch­mal sind Freund­schaf­ten dar­aus erwach­sen. Sie orga­ni­sie­ren Tref­fen in der alten Hei­mat, spen­den rege für die Restau­rie­rung von Kir­chen und Fried­hö­fen und ver­han­deln mit den ört­li­chen Behör­den über die Errich­tung von zwei­spra­chi­gen Gedenktafeln.

Den­noch ver­blasst hier­zu­lande lang­sam die Erin­ne­rung an das „deut­sche Schle­sien“, in Polen dage­gen macht sich das deut­sche Erbe immer stär­ker bemerk­bar. Die neuen Bewoh­ner Schle­si­ens trau­ten lange der Dau­er­haf­tig­keit der Gren­zen an Oder und Neiße nicht und saßen auf gepack­ten Kof­fern. Inzwi­schen sind drei Gene­ra­tio­nen pol­ni­scher Schle­sier her­an­ge­wach­sen. Wo Hei­mat­ge­fühl ent­steht, wächst Inter­esse an Geschichte. Allent­hal­ben befas­sen sich Geschichts- und Hei­mat­ver­eine mit der „klei­nen Geschichte“, wie man das in Polen nennt, die lokale, hei­mat­li­che Geschichte jen­seits der gro­ßen natio­na­len Nar­ra­tive. Unver­meid­lich stößt man dabei auf deut­sche Spu­ren. Unter jun­gen Leu­ten beson­ders popu­lär ist der Ver­ein „Wra­tis­la­viae Amici“, der auf sei­nem Inter­net­por­tal einige hun­dert­tau­send Filme, Bil­der und Texte zur schle­si­schen Hei­mat­kunde ein­stellt, zuord­net und dis­ku­tiert. Über 30.000 Nut­zer haben sich hier registriert.

Von Anfang an hatte das Museum in Gör­litz auch ein pol­ni­sches Publi­kum im Blick. Alle Aus­stel­lungs­texte und Publi­ka­tio­nen sind zwei­spra­chig. Pol­ni­sche Wis­sen­schaft­ler und Per­sön­lich­kei­ten des öffent­li­chen Lebens arbei­ten in den Gre­mien der Muse­ums­stif­tung mit. Immer häu­fi­ger ent­ste­hen Aus­stel­lun­gen in Zusam­men­ar­beit mit pol­ni­schen Museen. Eine Aus­stel­lung zur 500-Jahr-Feier der Refor­ma­tion in Schle­sien war 2017 in zwölf Orten im pol­ni­schen Schle­sien und in War­schau zu sehen und erreichte über 100.000 Besucher.

In der letz­ten Vitrine des Aus­stel­lungs­rund­gangs sind Schlüs­sel von Deut­schen aus Schle­sien zu sehen. Es sind zumeist Haus­tür­schlüs­sel, aber auch Kir­chen­schlüs­sel sind dar­un­ter, Schlüs­sel zu Schrän­ken und Gar­ten­tü­ren, zum Kof­fer eines Dom­props­tes und ein Vor­hän­ge­schloss der Uni­ver­si­tät Bres­lau. Viele Schle­sier haben ihre Schlüs­sel mit­ge­nom­men: anfangs in der Erwar­tung, sie bald wie­der zu brau­chen, spä­ter, als die Hoff­nung auf Rück­kehr schwand, als Erin­ne­rungs­stü­cke, viel­leicht auch als Sym­bol für den fort­dau­ern­den Anspruch auf frü­he­res Eigen­tum. Aber die Zeit schrei­tet voran. Die Abgabe an das Museum bedeu­tet auch die Musea­li­sie­rung von fami­liä­rer Erfah­rung. Der Schmerz lässt nach, die per­sön­li­che Erin­ne­rung ver­blasst und wird Teil des kol­lek­ti­ven Gedächtnisses.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 01-02/2019.

Von |2019-06-13T17:23:42+02:00Januar 25th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

Dies- und jen­seits der Neiße

"Schle­si­sche Hei­mat" im Museum

Markus Bauer ist Direktor des Schlesischen Museums zu Görlitz.