Das Ende des Bergbaus, die Schließung von Prosper-Haniel in Bottrop, der letzten Steinkohlezeche, wird keine Auswirkungen auf die Ruhrgebietsidentität haben. Denn abseits von etwas Folklore gibt es schon lange keine Ruhrgebietsidentität mehr, die es zu erwähnen wert wäre.
Das Ruhrgebiet befindet sich seit über 50 Jahren in einem permanenten Abstieg. Identität hat auch immer etwas mit Stolz und Selbstbewusstsein zu tun. Und Gründe, auf das Ruhrgebiet stolz zu sein, gibt es, bei Lichte betrachtet, wenige: Die meisten Städte sind, vergleicht man sie mit Städten aus anderen Regionen, heruntergekommen. Wer aus Hamburg, Köln oder München nach Essen, Bochum oder Dortmund kommt, ist oft erschrocken über die Armut und den Verfall. Und der Ruhrgebietler? So er dieses Entsetzen, das sich regelmäßig auch in Artikeln oder auch Städterankings niederschlägt, die von der Politik brüsk zurückgewiesen werden, zur Kenntnis nimmt, zuckt er mit den Schultern und versteckt sich hinter dem ebenso hier populären wie dummen Satz des Schriftstellers Frank Goosen „Woanders is’ auch scheiße“, in dem sich das gesamte Phlegma des Reviers ausdrückt.
Für die meisten Ruhrgebietler sind Kohle und Stahl längst Vergangenheit, was Unsinn ist, weil hier, in Duisburg, noch immer die größten und modernsten Stahlwerke Europas stehen. Doch gemessen an den fünf Millionen Einwohnern und ihrer Zahl in früheren Zeiten, sind es wirklich nicht mehr viele, die im Stahl arbeiten. Der Bergbau ist seit Jahrzehnten eine Folkloreindustrie, in der die Väter oder, in den meisten Fällen, die Großväter tätig waren. Einen aktiven Bergmann hatten am Ende die wenigsten in ihrem Bekanntenkreis. Und die Prosper-Haniel lag, wie die anderen Zechen, die bis zuletzt förderten, am Rand des Reviers und damit außerhalb des öffentlichen Bewusstseins. In Essen schloss die letzte Zeche 1986, in Bochum 1973, in Dortmund 1987. Duisburg hinkt dieser Entwicklung deutlich hinterher: 2008 schloss die Zeche in Walsum, einem Vorort.
Industrie, in Süddeutschland noch immer als Grundlage des Wohlstands anerkannt, hat sich im Ruhrgebiet längst zur hochsubventionierten Industriekultur gewandelt, da auf die alten Industrien kaum neue folgten. Im Sauerland arbeitet heute jeder Dritte in der Industrie, in Bochum gerade noch einmal etwas mehr als jeder Zehnte.
Das Ruhrgebiet ist die Region mit den wenigsten Industriebeschäftigten in ganz Nordrhein-Westfalen. Bei den Arbeitslosenzahlen hingegen ist es führend.
Trotz aller Probleme gab es Ende der 1990er Jahre bei vielen Menschen den Wunsch nach einem starken Ruhrgebiet, danach, dass die Städte ihr berüchtigtes Kirchturmdenken aufgeben. In den Fußballstadien skandierten die Fans auf einmal nicht nur die Namen ihrer Mannschaften, sondern „Ruhrpott“, es gab Ruhrpott-T-Shirts und in vielen Büchern und noch mehr Artikeln wurde über das Für und Wider einer „Ruhrstadt“ diskutiert. 1920, als die preußische Landesversammlung das Groß-Berlin-Gesetz verabschiedete und aus vielen mehr oder weniger großen Städten das heutige Berlin schuf, war eine vergleichbare Regelung für das Ruhrgebiet schon im Keim von den Lokalpolitikern der Region verhindert worden.
So unrealistisch die Schaffung einer Ruhrstadt auch vor 20 Jahren war, die Stimmung hätte eine vorausschauende Politik aufnehmen können. Statt über einem Dutzend Nahverkehrsunternehmen hätte ein großes geschaffen werden können, vielleicht wäre die Zusammenlegung einiger Städte möglich gewesen, der Ausbau des damaligen Kommunalverbandes Ruhr (KVR) zu einer schlagfertigen Organisation mit einer Person an der Spitze, die bundesweit wahrnehmbar das Gesicht des Ruhrgebiets geworden wäre. Aber das alles geschah nicht.
Damals bestand die Chance einer neuen Ruhrgebietsidentität, einer jenseits von Kohle und Stahl, geschaffen von den Menschen, die hier leben. Denn Kohle und Stahl waren schon in den 1990er Jahren keine realen Identifikationsgrundlagen mehr. Wer auf sie verwies, romantisierte eine Vergangenheit, von deren Härte die seinerzeit noch lebenden Alten detailliert zu berichten wussten.
Doch das geschah nicht und so vergeht die Ruhrgebietsidentität. Das, was von ihr übrig geblieben ist, vergeht wie alles, was sich nur auf die Vergangenheit beruft. Und einen Sinn hätte diese Identität auch nur gehabt, wenn aus ihr die Kraft für Veränderungen hervorgegangen wäre.
Für das Ruhrgebiet mag sich heute kaum mehr jemand engagieren und man kann es denen, die nach Köln, München oder Berlin ziehen, wie es die meisten Hochschulabsolventen längst tun, nicht verübeln. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev beschreibt den Trend, dass Menschen sich überall auf der Welt nicht mehr in ihrer Heimat für bessere Verhältnisse engagieren, sondern dorthin ziehen, wo die Verhältnisse so sind, wie sie es sich wünschen. Krastevs These gilt nicht nur für die globalen Wanderungsbewegungen, sondern auch für die Binnenmigration.
Nicht fluide Identitäten sind am Ende des Tages entscheidend, sondern die realen Lebensverhältnisse, welche Chancen und Möglichkeiten es gibt. Wer weder Identität noch Chancen zu bieten hat, wie das Ruhrgebiet, hat im Wettbewerb der Regionen keine guten Chancen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.