Jewish Places

Jüdi­sches Leben in Deutschland

Im Sep­tem­ber ist die neue Online-Platt­form Jewish Places des Jüdi­schen Muse­ums Ber­lin (JMB) gestar­tet. Die erste inter­ak­tive Karte zu jüdi­schem Leben in Deutsch­land rich­tet den Blick auf Mikro­ge­schichte. So erfah­ren Nut­ze­rin­nen und Nut­zer, dass jüdi­sches Leben ein inte­gra­ler Bestand­teil der Umge­bung und somit der eige­nen Geschichte ist. Damit soll die Wert­schät­zung und das Ver­ständ­nis gegen­über der Viel­fäl­tig­keit in der deut­schen Gesell­schaft erhöht werden.

The­resa Brüh­eim: Frau Thiele, Sie sind zustän­dig für Jewish Places. Was ver­birgt sich dahinter?
Bar­bara Thiele: Heute sind Orte, an denen jüdi­sches Leben statt­fand, oft nicht mehr als sol­che zu erken­nen. Damit gerät das Wis­sen über jüdi­sches Leben in Deutsch­land zuneh­mend in Ver­ges­sen­heit. Unsere Idee und unser Ziel sind es, das Mate­rial über jüdi­sches Leben aus ganz Deutsch­land zusam­men­zu­tra­gen, zu visua­li­sie­ren und allen Men­schen frei ver­füg­bar zu machen. Für alle Men­schen bedeu­tet auch, dass wir ein gro­ßes Augen­merk auf den bar­rie­re­freien Zugang richten.

Wie kamen Sie auf die Idee?
Im Netz gibt es schon viele Web­sei­ten von unter­schied­li­chen Insti­tu­tio­nen, die ein enorm gro­ßes Wis­sen zu jüdi­schem Leben in Deutsch­land ver­sam­meln. Wir woll­ten diese Infor­ma­tio­nen auf einer Platt­form bün­deln und Jewish Places als visu­ell attrak­ti­ves und leicht zugäng­li­ches zen­tra­les Ein­gangs­por­tal eta­blie­ren, das mit­hilfe eines topo­gra­fi­schen Ansat­zes einer brei­ten Öffent­lich­keit umfang­rei­che Infor­ma­tio­nen zu jüdi­schem Leben in Deutsch­land bie­tet. Zugleich för­dern wir damit die Sicht­bar­keit der vor­han­de­nen Sei­ten, da wir auf sie ver­wei­sen und ver­lin­ken. So ist ein bun­des­wei­tes Koope­ra­ti­ons­pro­jekt entstanden.
Dabei haben wir uns an vier Kate­go­rien ori­en­tiert, anhand derer die Nut­ze­rin­nen und Nut­zer sich auf der Web­seite bewe­gen kön­nen. Unter der Rubrik Orte zei­gen wir alle grö­ße­ren und klei­ne­ren Städte, Dör­fer, Gemein­den etc., wo jüdi­sches Leben statt­fand und immer noch bzw. wie­der statt­fin­det. Zudem haben wir säku­lare und reli­giöse Ein­rich­tun­gen gelis­tet, wie z. B. jüdi­sche Ver­eine, soziale Ein­rich­tun­gen oder Syn­ago­gen. Von Exper­ten erar­bei­tete Bio­gra­fien von jüdi­schen Per­sön­lich­kei­ten und Spa­zier­gänge, die an jüdi­sche Orte in der eige­nen Stadt füh­ren, hel­fen Ein­stei­gern, Bezüge zur jüdi­schen Lokal­ge­schichte zu fin­den. Aktu­ell haben wir 17 Bio­gra­fien und acht Spa­zier­gänge auf der Web­seite. Unser Ziel ist es, in bei­den Kate­go­rien ca. 100 auf Jewish Places zu zeigen.

Jewish Places gibt Ein­blick in jüdi­sche Geschichte, will aber auch Geschich­ten über jüdi­sches Leben erzäh­len. Wieso ist das wichtig?
Bei Jewish Places haben wir unser Augen­merk auf Mikro­ge­schichte gelegt, weil wir zei­gen wol­len, dass Orte und Per­so­nen jüdi­schen Lebens zur unmit­tel­ba­ren Umge­bung gehö­ren. User von Jewish Places sol­len erken­nen, dass jüdi­sches Leben immer Teil der eige­nen Geschichte ist: Das errei­chen wir z. B. dadurch, dass man sieht, im eige­nen Haus, in mei­ner Woh­nung hat frü­her eine jüdi­sche Fami­lie gelebt. Das Restau­rant hier unten ist jüdisch. Die Fabrik, in der mein Fahr­rad her­ge­stellt wurde, wurde vor lan­ger Zeit von einem jüdi­schen Geschäfts­mann gegrün­det … Wir wol­len ver­deut­li­chen, dass jüdi­sches und nicht-jüdi­sches Leben immer mit­ein­an­der ver­wo­ben war und ist. Wir hof­fen, mit die­sem Wis­sen zu einem Nor­ma­li­sie­rungs­pro­zess bei­zu­tra­gen und Tole­ranz zu för­dern. Jewish Places ist somit auch ein Tool gegen Anti­se­mi­tis­mus und Fremdenfeindlichkeit.

Haben Sie eine Lieblingsmikrogeschichte?
Eine Geschichte, die ich toll finde, ist die Bio­gra­fie des neo­or­tho­do­xen Rab­bi­ners Leo Trepp. Die Bio­gra­fie wurde von sei­ner Frau Gunda Trepp geschrie­ben. Auf der inter­ak­ti­ven Karte sieht man, dass Leo Trepp an unter­schied­li­chen Orten und Städ­ten gelebt hat. Er wurde 1913 in Mainz gebo­ren. Dort ver­brachte er seine Kind­heit. Wir sehen auf der Karte, dass Trepp spä­ter in Frank­furt lebte, wo er häu­fi­ger mit dem zutage tre­ten­den Anti­se­mi­tis­mus kon­fron­tiert wurde. 1930 ent­schied er sich an der Uni Frank­furt Fran­zö­sisch und Phi­lo­so­phie zu stu­die­ren und begann ein Stu­dium an der Höhe­ren Jüdi­schen Aka­de­mie. Dort kam er zum ers­ten Mal mit der Neo-Ortho­do­xie, die er spä­ter ver­trat, in Berüh­rung. Gleich­zei­tig merkt er: Es gibt immer mehr Anti­se­mi­tis­mus. Er ging dann nach Würz­burg, wo er pro­mo­vierte. In die­sem Fall ist bemer­kens­wert, dass sein Dok­tor­va­ter, Adal­bert Hämel, selbst Mit­glied der SA war. Aber er hat Trepp bis zuletzt durch die Pro­mo­tion gelei­tet. Danach nahm Trepp in Olden­burg die Stelle des Lan­des­rab­bi­ners an und ist damit der letzte Rab­bi­ner, der unter der Nazi­herr­schaft ordi­niert wurde. Beim Novem­ber­po­grom 1938 wurde er ins KZ Sach­sen­hau­sen ver­schleppt; wurde aber durch Kon­takte wie­der frei­ge­las­sen – unter der Auf­lage, Deutsch­land inner­halb von zwei Wochen zu ver­las­sen. Zurück in Olden­burg orga­ni­sierte er in sei­nen letz­ten Tagen Kin­der­trans­porte. Dann immi­grierte er in die USA. 1954 kehrte Trepp nach Ham­burg zurück und setzte sich für einen Dia­log zwi­schen den drei mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen ein. Er war über­zeugt, dass nur Auf­klä­rung über das Juden­tum gegen Anti­se­mi­tis­mus hilft. Bis zu sei­nem Tod 2010 hat er dafür gekämpft. Da über­schnei­det sich die Idee von Jewish Places schön mit den Idea­len von Leo Trepp, denn wir wol­len genau das Glei­che errei­chen. Gerade die Jugend­li­chen müs­sen wir bes­ser dar­über auf­klä­ren, was das Juden­tum ist, damit sie jüdi­sches Leben ken­nen­ler­nen und so erst gar kein Anti­se­mi­tis­mus ent­steht. Die junge Gene­ra­tion ist eine sehr wich­tige Ziel­gruppe von Jewish Places.
Kurz vor dem Launch von Jewish Places am 13. Sep­tem­ber 2018 haben wir ein Pilot­pro­jekt mit einer Schule in Olden­burg gestar­tet. In einem Drei-Tage-Work­shop wurde erar­bei­tet, was das Juden­tum ist. Dann sind die jun­gen Schü­le­rin­nen und Schü­ler an ver­schie­dene Orte in Olden­burg gegan­gen und haben zur jüdi­schen Geschichte ihrer Stadt recher­chiert. Das hatte eine große Wir­kung, viele Jugend­li­che sag­ten: »Mann, ich bin hier immer in die­sem Café. Ich wusste über­haupt nicht, dass es mal jüdisch war.« Mit die­sen Jugend­li­chen haben wir 15 neue Ein­träge pro­du­ziert. Sie lern­ten etwas über jüdi­sches Leben, die eigene Stadt­ge­schichte und prak­ti­zier­ten in der Schule den Umgang mit digi­ta­len Medien.

Sie spre­chen das Kern­ele­ment von Jewish Places an: die Inter­ak­ti­vi­tät. Wieso braucht es diese?
Wie erwähnt, ist Jewish Places ein Koope­ra­ti­ons­pro­jekt aus ver­schie­dens­ten wis­sen­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Bil­dungs­ein­rich­tun­gen sowie Gedächt­nis­or­ga­ni­sa­tio­nen. Das Inno­va­tive von Jewish Places ist die Öff­nung nach Außen. User kön­nen selbst Ein­träge ver­voll­stän­di­gen, eigene Inhalte hin­zu­fü­gen sowie Fotos und Filme hoch­la­den. Diese wer­den sofort als User-gene­ra­ted con­tent auf der Web­seite ver­öf­fent­licht – ähn­lich wie bei Wiki­pe­dia. Jewish Places beruht auf der Idee von „Citi­zen Sci­ence“: Exper­ten­wis­sen außer­halb von Museen und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen ergänzt die klas­si­sche Muse­ums­ar­beit. Wir als bun­des­un­mit­tel­bare Stif­tung sehen es als unse­ren Auf­trag, die Infra­struk­tur zur Wis­sens­ver­mitt­lung zu stel­len. Jetzt aber benö­ti­gen wir die Mit­hilfe Vie­ler, die wir mit­ein­an­der ver­net­zen wol­len, um die Platt­form zu fül­len. Beim Launch hat­ten wir 8.500 Daten. Seit­dem konn­ten wir schon 5.000 Besu­cher auf der Web­seite begrü­ßen. Rund 200 aktive ange­mel­dete User sind bereits Teil der Jewish Places-Com­mu­nity. Von ihnen wur­den bereits 300 Bei­träge bear­bei­tet oder neu hin­zu­ge­fügt. Wir bekom­men viele E-Mails, in denen uns Leute neue Bio­gra­fien vor­schla­gen oder andere wert­volle Hin­weise zur Koope­ra­tion geben. Inso­fern sind unsere Erwar­tun­gen aktu­ell über­trof­fen worden.

Wurde diese Inter­ak­ti­vi­tät schon mal missbraucht?
Nein, bis­her nicht. Wir haben zwei Kol­le­gen, die für Jewish Places zustän­dig sind. Unter ande­rem prü­fen sie, ob dis­kri­mi­nie­rende Inhalte ver­öf­fent­licht wur­den, und kön­nen sol­che sofort von der Seite neh­men. Aber wir set­zen vor­nehm­lich auf die Kon­trolle aus der Com­mu­nity. Nut­zer kön­nen ein Pro­blem mel­den oder die Löschung bean­tra­gen. Das kennt man ja z.B. auch von YouTube.

Vie­len Dank.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 6/2018.

Von |2019-06-17T10:55:46+02:00November 5th, 2018|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Jewish Places

Jüdi­sches Leben in Deutschland

Barbara Thiele ist Head of Digital & Publishing im Jüdischen Museum Berlin und Projektleiterin von Jewish Places. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.