Hei­mat ist mehr als ein geo­gra­fi­scher Ort

Die Rolle der Ver­trie­be­nen bei der Integration

Tei­len Ver­trie­bene Erfah­run­gen mit den heute zu uns kom­men­den Geflüch­te­ten? Der Prä­si­dent des Bun­des der Ver­trie­be­nen, Bernd Fabri­tius, im Gespräch mit The­resa Brüheim.

The­resa Brüh­eim: Herr Fabri­tius, Sie sind ursprüng­lich Sie­ben­bür­ger Sachse und nach Schul­ab­schluss gemein­sam mit den Eltern nach Deutsch­land aus­ge­wan­dert. Was bedeu­tet Hei­mat für Sie?
Bernd Fabri­tius: Eine Hei­mat bedeu­tet für mich der Ort, in dem ich selbst­ver­ständ­lich bin, in dem ich zu Hause bin, in dem ich mich nicht erklä­ren muss. Hei­mat ist der Ort der bekann­ten Gerü­che, der Töne, der Ver­ste­cke, es ist ein Ort von Emo­tio­nen – und für mich ganz, ganz wichtig.

Das heißt, Hei­mat ist für Sie ein geo­gra­fi­scher Ort?
Hei­mat ist mehr als ein geo­gra­fi­scher Ort. Ich habe eine Hei­mat, das ist Sie­ben­bür­gen, ein geo­gra­fi­scher Ort. Dort bin ich auf­ge­wach­sen. In der Stadt, in der ich auf­ge­wach­sen bin, kenne ich jeden Strauch, jede Pfütze, wenn Sie so wol­len. Ich weiß, wie die Stadt heute riecht, auch wenn ich nicht dort bin. Auch Mün­chen ist meine Hei­mat. Das ist auch ein geo­gra­fi­scher Ort. Ich könnte auch zu Mün­chen das sagen, was ich zu Sie­ben­bür­gen geschil­dert habe. Hei­mat ist aber auch die Gemein­schaft, in der ich bin. Z. B. wenn ich die Sie­ben­bür­ger Sach­sen in Kanada besu­che und dort eine Küche erlebe, die auch meine Küche ist, wenn ich einen Dia­lekt höre, der auch mein Dia­lekt ist, wenn ich Witze höre, die erzählt wer­den und Sach­ver­halte betref­fen, die ich selbst kenne, wenn wir Geschich­ten erzäh­len, unsere Ver­gan­gen­heit, und das ist auch meine Geschichte, dann ist das für mich auch Hei­mat. Also Hei­mat kann auch eine Gemein­schaft sein.

Was bedeu­tet es, von die­ser Hei­mat getrennt zu sein?
Das ist wie, wenn Sie einen Baum neh­men und ihn ent­wur­zeln und dann hof­fen, dass Sie ihn anderswo wie­der ein­pflan­zen kön­nen. Die Meta­pher funk­tio­niert eigent­lich sehr, sehr gut, auch für die fol­gende Inte­gra­tion. Wenn der Baum noch nicht zu groß ist, wenn der noch nicht voll­stän­dig ent­wi­ckelt ist und wenn Sie mög­lichst viel von den Wur­zeln mit­neh­men, dann wächst er ver­mut­lich auch in einer neuen Umge­bung an. Wenn das nicht so ist, dann ist das schwie­rig. Wenn Sie jeman­den von der Hei­mat tren­nen, dann tren­nen Sie ihn eigent­lich von einem ganz wesent­li­chen Stück der eige­nen Iden­ti­tät. Von ihr getrennt zu sein, heißt eine Gefähr­dung der Identität.

Sie sind der Prä­si­dent des Bun­des der Ver­trie­be­nen (BdV). In der Charta der deut­schen Hei­mat­ver­trie­be­nen steht: „Den Men­schen mit Zwang von sei­ner Hei­mat tren­nen, bedeu­tet, ihn im Geiste töten. Wir haben die­ses Schick­sal erlit­ten und erlebt. Daher füh­len wir uns beru­fen zu ver­lan­gen, dass das Recht auf die Hei­mat als ein Grund­recht der Mensch­heit aner­kannt und ver­wirk­licht wird“. Hier wird das eben Geschil­derte deut­lich. Aber wie kann man die­ses Recht auf Hei­mat garantieren?
Das Recht auf Hei­mat ist nach mei­ner fes­ten Über­zeu­gung ein Men­schen­recht. Es ist damit geschützt von allen Ver­trä­gen – nur tau­gen Ver­träge als Schutz nur bedingt. Ich denke, wir bewah­ren das Recht auf Hei­mat am bes­ten dann, wenn wir uns ganz dezi­diert gegen Ver­trei­bung und gegen eth­ni­sche Säu­be­run­gen aus­spre­chen. Und wenn wir die Viel­fäl­tig­keit des Hei­mat­be­grif­fes rea­li­sie­ren und schüt­zen. Wir schüt­zen Hei­mat und Iden­ti­tät, wenn wir jedem Men­schen die selbst emp­fun­dene kul­tu­relle Iden­ti­tät belas­sen. Das ist ein Plä­doyer für Inte­gra­tion, gegen Assi­mi­lie­rung. Das ist beson­ders in die­sen jet­zi­gen Zei­ten wich­tig. Ich denke, es ist auch für heu­tige Opfer von Flucht und Ver­trei­bung ganz wich­tig, dass sie ihre eigene kul­tu­relle Iden­ti­tät als Hei­mat bewah­ren, oder um ein ganz pla­ka­ti­ves Bei­spiel zu nen­nen: Es wäre grund­falsch, wenn wir ver­su­chen wür­den, aus einem Syrer einen authen­ti­schen Bay­ern zu machen. Die Men­schen, die heute kom­men, sol­len inner­halb ihrer eige­nen Iden­ti­tät in unsere Gesell­schaft inte­griert wer­den. Das ist auch ein Stück­chen Heimatschutz.

Wel­che Par­al­le­len gibt es zwi­schen der Flucht­er­fah­rung deut­scher Hei­mat­ver­trie­be­ner und heu­ti­ger Geflüch­te­ter aus Syrien etc.?
Die Frage ist ganz wich­tig. Denn die bei­den Sach­ver­halte, also die Ver­trei­bung nach dem 2. Welt­krieg, die eth­ni­schen Säu­be­run­gen nach dem 2. Welt­krieg und die heu­ti­gen Ver­trei­bungs­ge­sche­hen sind in dem per­sön­li­chen Trauma-Emp­fin­den der Betrof­fe­nen ver­gleich­bar. Sie sind in dem Bruch der indi­vi­du­el­len Bio­gra­fien abso­lut ver­gleich­bar. Aber damit endet es. Ver­gleich­bar sind sie eben genau in dem Punkt, dass Men­schen auf­grund eth­ni­scher Säu­be­run­gen von jetzt auf gleich all das, was Hei­mat aus­macht, unter Zwang ver­lie­ren. Das ist eine unglaub­li­che Ver­let­zung der eige­nen Iden­ti­tät und der Lebens­bio­gra­fie. Es besteht aller­dings über­haupt keine Ver­gleich­bar­keit, wenn ich an not­wen­dige Inte­gra­ti­ons­er­for­der­nisse oder auch nur Auf­nah­me­be­din­gun­gen denke. Man muss sich klar­ma­chen, dass die Hei­mat­ver­trie­be­nen nach dem 2. Welt­krieg nach heu­ti­gen Maß­stä­ben Bin­nen­flücht­linge gewe­sen sind. Sie sind aus einem Teil des dama­li­gen Deutsch­lands in einen ande­ren Teil Deutsch­lands ver­trie­ben wor­den. Sie kamen zu Brü­dern und Schwes­tern. Sie haben die glei­che Spra­che gespro­chen. Sie hat­ten viel­fach die glei­che Kon­fes­sion. Sie hat­ten die glei­che Reli­gio­si­tät. Sie hat­ten über­haupt kein Sprach­pro­blem. Es gab keine Pro­ble­ma­tik der beruf­li­chen Aner­ken­nung. Ein pla­ka­ti­ves Bei­spiel: Wer nach dem 2. Welt­krieg als gelern­ter Schlos­ser­meis­ter mit einem Prü­fungs­zeug­nis der IHK Bres­lau nach Frank­furt kam, der hatte kei­ner­lei Inte­gra­ti­ons­pro­bleme. Man hat gewusst, was er kann. Es war, wie wenn heute jemand aus Mün­chen nach Frank­furt geht. Wenn Sie aller­dings die heu­ti­gen Opfer von Flucht und Ver­trei­bung sehen, dann stimmt das alles nicht. Die Men­schen kom­men aus der völ­li­gen Fremde. Und sie kom­men in eine für sie völ­lige Fremde, in der sie sich nicht so leicht zurecht­fin­den. Sie ver­ste­hen unsere Spra­che nicht. Sie kön­nen noch nicht ein­mal die Lebens­mit­tel­schil­der im Super­markt lesen. Wenn sie ein Zeug­nis über eine abge­schlos­sene Schlos­ser­aus­bil­dung vor­zei­gen, um bei dem Bei­spiel zu blei­ben, dann kön­nen wir das gar nicht lesen, weil es noch gar nicht in unse­ren Schrift­zei­chen aus­ge­fer­tigt ist. Und wir wis­sen, auch wenn wir es über­set­zen, nicht, was wirk­lich dahin­ter­steckt. Wer diese gra­vie­ren­den Unter­schiede in den Inte­gra­ti­ons­rah­men­be­din­gun­gen aus­blen­det und von einer Gleich­ma­che­rei spricht, der kann nur auf dem Holz­weg landen.

Heißt das für Sie, dass es in unse­rer Gesell­schaft stär­kere Inte­gra­ti­ons- und Auf­nah­me­be­mü­hun­gen geben muss?
Ich stimme zu. Aber das bedeu­tet nicht, dass wir unsere Hei­mat ver­än­dern müs­sen, um sie dem anzu­pas­sen, was die Opfer von Flucht und Ver­trei­bung ver­las­sen haben. Bei­spiels­weise bin ich nicht bereit, auch nur eine Hand­breit an der Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter preis­zu­ge­ben, weil Men­schen, die heute kom­men, der Mei­nung sind, man müsse einer Frau die Hand nicht geben, man müsse sich von einer Ärz­tin nicht behan­deln las­sen oder man könne als Eltern in der Schule den Auf­stand pfle­gen, wenn die Leh­re­rin eine Frau ist oder wenn ange­ord­net wird, dass Buben und Mädel gemein­sam Sport­un­ter­richt machen. Wir müs­sen dort auf kei­nen Fall unsere Hei­mat ver­än­dern und anpas­sen. Das wäre falsch ver­stan­dene Inte­gra­tion. Son­dern wir müs­sen Ver­ständ­nis dafür wecken, dass Men­schen, die sich zu uns ret­ten, das gerne tun sol­len, aber sie müs­sen auch unser Umfeld als ihres akzep­tie­ren wol­len. Das ist für mich eine Grund­vor­aus­set­zung gelin­gen­der Integration.

Wie kön­nen denn deut­sche Hei­mat­ver­trie­bene bei die­ser Inte­gra­tion helfen?
Wir kön­nen das selbst­ver­ständ­lich und tun es auch schon ganz aktiv. So betrei­ben wir als BdV 16 Migra­ti­ons­be­ra­tungs­stel­len für Erwach­sene in zehn Bun­des­län­dern. Und diese haben wir aus­drück­lich auch für die heu­ti­gen Opfer von Flucht und Ver­trei­bung zur Ver­fü­gung gestellt. Es kom­men zwar noch die meis­ten Spät­aus­sied­ler als Rat­su­chende, aber etwa 45 Pro­zent der Men­schen, die unsere Bera­tungs­stel­len auf­su­chen, kom­men aus Syrien oder ande­ren Ver­fol­gungs­ge­bie­ten. Sie kom­men, weil sie wis­sen, dass sie bei uns offene Ohren und Her­zen fin­den, eben weil wir zu die­ser Empa­thie auf­ge­ru­fen haben und selbst wis­sen, wie es sich anfühlt, Hei­mat zu ver­lie­ren. Wir kön­nen natür­lich bei allen Fra­gen des All­tags hel­fen. Ich denke, das sind die wich­tigs­ten Punkte, wenn Men­schen zu uns kom­men. Sie wol­len wis­sen, wo man sich anmel­det, was man macht, wenn die Toch­ter krank ist, wie man in Deutsch­land einen Tele­fon­an­schluss bekommt, ob und wo man arbei­ten kann … Also ganz prak­ti­sche Fra­gen des All­tags, die wir mit Ver­ständ­nis klä­ren können.

Wel­che Rolle spie­len Ver­trie­bene und ihre Nach­fah­ren für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt in unse­rer von Flücht­lings­kri­sen gepräg­ten Zeit?
Aus mei­ner Sicht spie­len die deut­schen Hei­mat­ver­trie­be­nen eine sehr, sehr große Rolle, gerade auch für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt. Weil wir aus eige­ner Erfah­rung sagen kön­nen, dass es nicht nega­tiv sein muss, wenn man sich auf Neues ein­lässt. Wir haben selbst erfah­ren, wie das war. Wir kön­nen auch die deut­sche Gesell­schaft daran erin­nern, dass vor eini­gen Jahr­zehn­ten über 15 Mil­lio­nen Deut­sche das glei­che Schick­sal einer Ver­trei­bung, einer eth­ni­schen Säu­be­rung erlebt haben und wir damals froh gewe­sen sind, eine neue Hei­mat zu fin­den. Genau das kön­nen wir heute in die gesell­schaft­li­che Ana­lyse ein­brin­gen. Um noch­mal die Ver­gleich­bar­keit an ein­zel­nen Punk­ten dar­zu­stel­len: Gleich nach dem 2. Welt­krieg sind aus der Tsche­chi­schen Repu­blik Men­schen in geschlos­se­nen Zügen nach Deutsch­land gekom­men, meist nach Bay­ern. Da sind z. B. 500 Men­schen in einem Dorf gelan­det, in dem vor­her auch nur 500 Men­schen gelebt haben. Es ist zu einer Ver­dop­pe­lung der Bevöl­ke­rungs­zahl gekom­men. Und es gab die Mög­lich­keit, dass Pro­tes­tan­ten in ein rein katho­li­sches Dorf gekom­men sind und umge­kehrt. Ich denke, dass vor 70 Jah­ren der kon­fes­sio­nelle Unter­schied viel­leicht genauso bedeut­sam war wie heute der reli­giöse Unter­schied. Trotz­dem hat man sich daran gewöhnt. Man hat fest­ge­stellt, dass Men­schen, wenn man die Betrach­tung von Ideo­lo­gie befreit, eigent­lich auch nur Men­schen sind und dass man zusam­men­wach­sen kann. Ich denke, wenn wir diese Erfah­rung ein­brin­gen, dann klappt es heute auch mit den neuen Nachbarn.

Vie­len Dank!

Von |2019-06-11T10:35:32+02:00August 9th, 2017|Heimat|Kommentare deaktiviert für

Hei­mat ist mehr als ein geo­gra­fi­scher Ort

Die Rolle der Ver­trie­be­nen bei der Integration

Bernd Fabritius, MdB ist Vorsitzender des Unterausschusses für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV). Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.