Inte­gra­tion als Chance

Wie Deutsch­land als Kul­tur­na­tion beweist, dass bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment sozia­len Frie­den sichert

Das Jahr 2015. Inner­halb von Mona­ten kom­men rund 900.000 Flücht­linge nach Deutsch­land. Öffent­li­che Ein­rich­tun­gen arbei­ten jen­seits ihrer regu­lä­ren Kapa­zi­tä­ten. Bür­ger­schafts-enga­ge­ments über­all in Deutsch­land voll­brin­gen Phä­no­me­na­les. In der Spitze hel­fen 800.000 Bür­ger – auf einen Flücht­ling kam zeit­weise ein frei­wil­li­ger Hel­fer – den Ankömm­lin­gen aus dem Nahen Osten, aus Afgha­ni­stan und Afrika beim Start in ihrer neuen Umgebung.

Ver­trie­bene wer­den im Münch­ner Haupt­bahn­hof von Bür­ger­scha­ren emp­fan­gen, was keine insze­nierte Will­kom­mens-Show ist, son­dern spon­ta­ner Aus­druck des Mit­ge­fühls. Bay­erns Metro­pole hat eine tra­gi­sche natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­gan­gen­heit, heu­tige Münch­ner ste­hen fas­sungs­los vor der Kalt­her­zig­keit jener Zeit. Sie sind froh, jetzt hel­fen zu können.

Deutsch­land, Europa: Hier ent­stand der Huma­nis­mus. Er löste das christ­li­che Gebot der Barm­her­zig­keit aus sei­ner reli­giö­sen Bin­dung; dadurch wurde das Ideal offen für alle Kul­tu­ren. Mit­mensch­lich­keit, Men­schen­rechte, Men­schen­würde: Mit dem Huma­nis­mus begann „die eine Mensch­heit“, die Gemein­schaft aller Men­schen der Erde. Völ­ker­ver­bin­den­der Huma­nis­mus ist Teil der Iden­ti­tät des moder­nen Europas.

Inte­gra­tion braucht Partizipation

Von 1,2 Mil­lio­nen Asyl­su­chen­den seit 2013 haben inzwi­schen 660.000 Per­so­nen Blei­be­recht in Deutsch­land erhal­ten, schätzt Frank-Jür­gen Weise, bis Anfang 2017 Chef des Bun­des­amts für Migra­tion und Flüchtlinge.

Den Ein­wan­de­rern zu hel­fen, in Deutsch­land eine Hei­mat zu fin­den, kön­nen Staat, Ämter und Behör­den auch wei­ter­hin allein nicht leis­ten. Dabei ist zur Ver­knüp­fung von bestehen­den und zur Initi­ie­rung von neuen Netz­wer­ken eine „Zen­trale Koor­di­na­ti­ons­stelle“ unver­zicht­bar, die bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment bun­des­weit unter­stützt – för­dernd, mode­rie­rend, auch kor­ri­gie­rend. Mit Ein­füh­lungs­ver­mö­gen, Erfah­rung und Wis­sen, mit prak­ti­schen Instru­men­ten, finan­zi­el­len Mit­teln und einem Plan, der „lernt“ und bestän­dig ver­bes­sert wird. Fol­gende Prin­zi­pien soll­ten dabei als Leit­ge­dan­ken dienen:

  1. Sache der Bür­ger: Die Inte­gra­tion von Flücht­lin­gen kann nicht ver­ord­net wer­den, sie muss eine Ange­le­gen­heit auch des bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments blei­ben. Nur dann wird die Bereit­schaft gestärkt, Opfer und Risi­ken mit­zu­tra­gen. Die Fähig­keit des Staats, Par­ti­zi­pa­tion erleb­bar zu machen und Enthu­si­as­mus dafür zu wecken, ist noch weit ent­fernt von dem, was eine zeit­ge­mäße Par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie kön­nen müsste. Diese Kom­pe­tenz wird dar­über ent­schei­den, ob die Iden­ti­fi­ka­tion der Bür­ger mit der Demo­kra­tie einen Auf­schwung erfährt.
  2. Gesicht zei­gen – wech­sel­sei­tig: Ein­wan­de­rer sol­len sich ihren Nach­barn bekannt machen, ein­zelne stell­ver­tre­tend für alle, in Bür­ger­ge­sprä­chen, in Aus­stel­lun­gen und in Medien. Auch Men­schen, die hier leben, geben sich zu erken­nen, „nor­male“ Leute mit Herz und Sinn für Gemein­schaft: Was habe ich vom Frem­den, was hat der Fremde von mir. Inte­gra­tion beginnt mit der Gele­gen­heit zur gegen­sei­ti­gen Wahrnehmung.
  3. Vor­ur­teile und Falsch­mel­dun­gen aus­räu­men: Die größte Ver­füh­rung zur Frem­den­feind­lich­keit geht von Zerr­bil­dern aus, die Fremde her­ab­set­zen und dämo­ni­sie­ren – ohne öffent­li­che Kor­rek­tur. Der „Kampf um die Bil­der im Kopf“ ist des­halb ent­schei­dend für das Gelin­gen von Inte­gra­tion. Das Wer­ben um Kopf und Herz der Men­schen muss auf den Dör­fern und Schul­hö­fen begin­nen und bis in alle Win­kel des Inter­nets vor­drin­gen. Enkla­ven, in denen bös­ar­tige Vor­ur­teile unwi­der­spro­chen gepflegt wer­den, darf es nicht mehr geben. Die „Zen­trale Koor­di­na­tion“ muss hier­bei schnell agie­ren, sehr anschau­lich auf­tre­ten und auf aktu­ellste Tech­ni­ken zugreifen.
  4. Ori­en­tie­rung für inte­gra­ti­ves Ver­hal­ten: Neuen Mit­be­woh­nern muss kon­kret ver­mit­telt wer­den, wel­che Werte und Sit­ten hier hoch­ge­hal­ten und strikt geschützt wer­den. Jeder muss ein Exem­plar des Grund­ge­set­zes erhal­ten, in der jewei­li­gen Lan­des­spra­che kom­men­tiert und anschau­lich illus­triert, je nach Emp­fän­ger­gruppe mit beson­de­ren Schwer­punk­ten, z. B. die garan­tierte Gleich­ran­gig­keit der Geschlech­ter. Ein­hei­mi­sche Bür­ger erhal­ten eine ana­loge Fas­sung: Zum 14. Geburts­tag sollte jedem Jugend­li­chen in einem klei­nen Initia­ti­ons­ri­tual „sein per­sön­li­ches Exem­plar“ über­ge­ben wer­den. Über­ge­ber und Emp­fän­ger signie­ren es handschriftlich.
  5. Öffent­li­che Aner­ken­nung: Frei­wil­lige benö­ti­gen öffent­li­che Aner­ken­nung, vor allem kol­lek­tiv. Das kon­kre­ti­siert den Wert ihrer Anstren­gun­gen und ver­an­lasst andere, künf­tig mit­zu­wir­ken. In die­ser Frage hat die demo­kra­ti­sche Füh­rung bis­her nicht geglänzt: Der Staat hat eine Bür­ger­schaft, die ein Denk­mal ver­dient, und bemerkt es nicht.

Den Wan­del gestal­ten – mit bür­ger­schaft­li­chem Engagement

Die sys­te­ma­ti­sche För­de­rung bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments wird noch wert­vol­ler, wenn die zuvor dar­ge­stell­ten Ideen und Struk­tu­ren genutzt wer­den, um eine weit grö­ßere gesell­schaft­li­che Zukunfts­auf­gabe anzugehen.

Es gilt als kon­ser­va­tive Pro­gnose, dass in zehn, fünf­zehn Jah­ren 20 Pro­zent aller Men­schen in Deutsch­land, die ihren Lebens­un­ter­halt ver­die­nen wol­len, keine Arbeit fin­den. Die Gel­der zur Finan­zie­rung von Arbeits­lo­sig­keit soll­ten dazu genutzt wer­den, Bür­gern dabei behilf­lich zu sein, ihre Zeit sinn­vol­len Auf­ga­ben zu wid­men, die Wert­schät­zung finden.

„Künst­li­che Intel­li­genz“ und Digi­ta­li­sie­rung der Wirt­schaft unter dem Schlag­wort „Indus­trie 4.0“ sind die Moto­ren des Wan­dels. Das Auto, das selbst­stän­dig ferne Ziele ansteu­ert, ist tech­nisch bereits mach­bar. Das auto­mo­bile Luxus-Seg­ment macht der­zeit Schlag­zei­len; die Durch­set­zung auf öffent­li­chen Stra­ßen könnte der Güter­ver­kehr besor­gen. Zugleich wird der Robo­ter popu­lär – so erhält bei­spiels­weise der für Ser­vice und Haus­halte kon­zi­pierte „Pep­per“ vom Publi­kum exzel­lente Sym­pa­thie-Bewer­tun­gen. Acht Monate nach der Markt­ein­füh­rung waren bereits 10.000 Pep­per ver­kauft – bei einer Lea­sing­ge­bühr von 550 Euro monatlich.

Die Leis­tungs­explo­sion der Künst­li­chen Intel­li­genz wird durch Algo­rith­men ange­heizt, bei denen der Tech­nik nicht mehr detail­liert Hand­lungs­schritte, son­dern Ziele vor­ge­ge­ben wer­den, zu denen das Sys­tem selbst die bes­ten Wege fin­det. Ende Januar 2017 gewann die Soft­ware „Libra­tus“ der Car­ne­gie Mel­lon Uni­ver­sity (Pitts­burgh, USA) ein Poker­tur­nier gegen vier der bes­ten Poker­spie­ler der Welt. Die Sen­sa­tion: Libra­tus beherrschte den Bluff bes­ser als alle pro­fes­sio­nel­len Geg­ner – obwohl nie­mand das Sys­tem im Bluf­fen unter­wie­sen hatte. Im Laufe von 120.000 Spie­len hatte Libra­tus die psy­cho­lo­gi­schen Tricks der Pro­fis ver­ste­hen gelernt.

Selbst exzel­lent qua­li­fi­zierte Aka­de­mi­ker sind nicht geschützt davor, dass Künst­li­che Intel­li­genz ihre Auf­ga­ben über­nimmt. Die freund­lichs­ten Schät­zun­gen gehen davon aus, dass etwa neun Pro­zent der Arbeits­stel­len in Deutsch­land von der Auto­ma­ti­sie­rung bedroht sind.

Die Fähig­kei­ten zukünf­ti­ger Erwerbs­lo­ser bil­den ein enor­mes Kom­pe­tenz­spek­trum, wer­den es doch Men­schen aus nahezu allen Bran­chen und Beru­fen, sämt­li­chen Qua­li­fi­ka­tio­nen, ver­schie­dens­ter kul­tu­rel­ler Her­kunft und allen Alters­grup­pen sein. Das wird bewährte und ganze neue For­men von Nach­bar­schafts­hilfe gene­rie­ren: Die einen packen drei Stra­ßen wei­ter bei einem Umzug mit an. Andere unter­stüt­zen als Exper­ten aus Bie­le­feld den Bau eines Brun­nens in einem klei­nen Ort in der Sahel­zone, dem Inter­net sei Dank. Auch ältere Per­so­nen fin­den Gesprächs­part­ner mit ähn­li­chen Inte­ressen, an deren Akti­vi­tä­ten sie teil­neh­men kön­nen. Sehr viele Men­schen wer­den ler­nen, ihr Know-how leben­dig und „päd­ago­gisch wert­voll“ zu vermitteln.

Wir müs­sen die­sen Wan­del zum Vor­teil aller Bür­ger nut­zen, ins­be­son­dere auch kul­tu­rell. Denn: Bezahlte betrieb­li­che Arbeit hat im sozio­kul­tu­rel­len Leben bei uns eine Rück­grat-Funk­tion. Dafür muss Ersatz gefun­den wer­den. Wer keine Erwerbs­ar­beit fin­det, muss Anreize für frei­wil­lige Enga­ge­ments erhal­ten und aus sei­ner depres­si­ons­för­dern­den „Pri­vat-Enklave“ abge­holt werden.

Bei der Orga­ni­sa­tion des Fel­des und der Koor­di­na­tion des bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments in allen Berei­chen und Regio­nen Deutsch­lands wer­den die Erfah­run­gen und die Infra­struk­tu­ren, die bei der Flücht­lings­in­te­gra­tion ein­ge­rich­tet wer­den, über­nom­men oder als Erfah­rungs­grund­lage ver­wer­tet werden.

Für den Auf­bau der Zusam­men­ar­beit muss ein Koope­ra­ti­ons­fo­rum geschaf­fen wer­den. Mit dem Deut­schen Kul­tur­rat steht eine erfah­rene Orga­ni­sa­tion zur Ver­fü­gung: Frei­wil­li­gen­or­ga­ni­sa­tio­nen sind Kul­tur­ein­rich­tun­gen ähn­li­cher als der Industrie.


Minis­te­rium für bür­ger­schaft­li­ches Engagement

Mehr als 30 Mil­lio­nen Per­so­nen sind in Deutsch­land bür­ger­schaft­lich enga­giert. Viele die­ser Zusam­men­schlüsse sind als Nukleus für eine „wirk­li­che“ Lösung zu sehen. Die admi­nis­tra­ti­ven Struk­tu­ren von Frei­wil­li­gen-Orga­ni­sa­tio­nen sind extrem unein­heit­lich: Einige glän­zen mit der Pro­fes­sio­na­li­tät glo­ba­ler Kon­zerne, andere ope­rie­ren auf dem Niveau einer Pfad­fin­der­gruppe – und kön­nen inhalt­lich den­noch bril­lante, vor­bild­hafte Arbeit leisten.

Das bür­ger­schaft­li­che Enga­ge­ment ist so zu för­dern, dass es ein Part­ner wird, mit dem die Poli­tik große Auf­ga­ben stra­te­gisch pla­nen und rea­li­sie­ren kann. „Neben­bei“ kann der Staat diese Auf­gabe nicht lösen.

Des­halb muss eine leis­tungs­fä­hige Schnitt­stelle zwi­schen bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments und der Regie­rung kre­iert wer­den, um eine gezielte För­de­rung der Orga­ni­sa­tio­nen zu ermög­li­chen und für die enge ope­ra­tive Zusam­men­ar­beit von Poli­tik und Frei­wil­li­gen zu sorgen.

Für diese Auf­ga­ben soll ein Bun­des­mi­nis­te­rium für bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment ein­ge­rich­tet wer­den, ana­log zu den Minis­te­rien für bezahlte Arbeit und Sozia­les, für Fami­lie und für Umwelt.

Die Poli­tik muss zügig han­deln. Der Beginn der neuen Legis­la­tur­pe­ri­ode wäre ein güns­ti­ger Zeit­punkt, um dem Ereig­nis Signal­wir­kung zu verleihen.

2017 lässt sich das her­aus­ra­gende Enga­ge­ment der Bür­ger bei der Flücht­lings­in­te­gra­tion glaub­haft als Grün­dungs­im­puls für das neue Minis­te­rium nen­nen. In der Cor­po­rate Iden­tity ent­spricht diese his­to­ri­sche Bezug­nahme der Akti­vie­rung eines Grün­dungs­my­thos. Er wird nach­hal­tig hel­fen, bür­ger­schaft­li­chem Enga­ge­ment ein unge­kann­tes Anse­hen und dem Minis­te­rium emo­tio­na­len Rück­halt in der Bevöl­ke­rung zu verschaffen.

Von |2019-06-11T10:54:28+02:00Juni 14th, 2017|Bürgerschaftliches Engagement|Kommentare deaktiviert für

Inte­gra­tion als Chance

Wie Deutsch­land als Kul­tur­na­tion beweist, dass bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment sozia­len Frie­den sichert

Ralph Habich ist Vizepräsident des Deutschen Designtages und freier Berater für Designmanagement, Markenentwicklung und Corporate Identity. Boris Kochan ist Präsident des Deutschen Designtages und geschäftsführender Gesellschafter der Branding- und Designagentur Kochan & Partner.