Theresa Brüheim: Herr Höppner, die Initiative kulturelle Integration geht unter anderem auf das Engagement des Deutschen Kulturrates zurück, dessen Präsident Sie sind. Was bedeutet kulturelle Integration für Sie?
Christian Höppner: Kulturelle Integration ist für mich eine Zweibahnstraße. D. h., die Neugierde auf das Andere, auf das Unbekannte, das Fremde zu wecken, zu befördern und die eigenen Wurzeln zur Identitätsfindung zu stärken. Kulturelle Integration ist also nicht ein einseitiger Prozess, sondern auf jeden Fall eine Zweibahnstraße, bei der sich unterschiedliche Kulturen begegnen, das Gemeinsame suchen, aber auch das Trennende erkennen, im besten Fall schätzen lernen.
Welche Erwartung haben Sie dabei an die Initiative kulturelle Integration?
Ich erwarte, dass das Bewusstsein für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt wird. Die Bandbreite der politischen Kräfte und gesellschaftlichen Gruppen, die sich in dieser Initiative versammeln, ist für sich genommen ein Politikum und bildet ein Alleinstellungsmerkmal in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. Die Initiative kulturelle Integration bezieht sich nicht „nur“ auf die geflüchteten Menschen in unserem Land, sondern richtet sich an jeden Menschen, der hier lebt. Vor dem Hintergrund, dass unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet, ist gesamtgesellschaftlicher Zusammenhalt die zentrale Herausforderung. Deshalb freue ich mich so, dass der Kulturrat – zusammen mit den anderen Gründungsinitiatoren – ganz entscheidend als zivilgesellschaftliche Kraft bei diesem Prozess mitwirkt. Außerdem erhoffe ich mir sehr konkret, dass das auch finanzielle Auswirkungen haben wird. Denn im Moment haben wir eine große Diskrepanz zwischen der Bereitschaft der Menschen, sich ehrenamtlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu engagieren und den Mitteln, die der Staat für die hauptamtliche Begleitung und damit für ein Stück Professionalisierung in diesem Umbruchprozess, in dem wir uns im Moment befinden, beiträgt. D. h., am Ende dieser Initiative erhoffe ich mir neben einem gemeinsamen Thesenpapier mit Signalwirkung auch Auswirkungen für den Bundeshaushalt 2018. Ganz konkret: In dem Haushaltsplanentwurf 2018 – mehr kann es ja nicht sein, weil wir im September die Bundestagswahl haben – wünsche ich mir ein deutlicheres Signal zur Finanzierung von Maßnahmen, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen.
Sie haben gesagt, die Gesellschaft driftet immer weiter auseinander. Wie kann Kultur dem entgegenwirken und gesellschaftlichen Zusammenhalt befördern?
Kultur ist die Hefe im Teig gesellschaftlicher Entwicklungen. Meiner Meinung nach sind nahezu alle Konflikte kulturelle Grundierung. Menschliches Zusammenleben ist ganz entscheidend von Kultur geprägt. Oft steht bloß nicht drauf, wo Kultur auch mitdrinsteckt. Wir brauchen ein breiteres Selbstverständnis von dem Kulturbegriff, damit die zentrale Bedeutung der Kultur klarer wird. Beispielgebende Grundlage ist immer noch die Erklärung von Mexiko City von 1982 zum weiten Kulturbegriff. Ich bin überzeugt, dass Kultur einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, wie ich das Andere, das Fremde wahrnehme, wie ich darauf reagiere. Zudem kann Kultur dazu beitragen, die zunehmende Sprachlosigkeit und Dialogunfähigkeit, die wir in der Gesellschaft verzeichnen, unter anderem durch die Verrohung in den sozialen Netzwerken zu überwinden. D. h. nicht, dass wir uns in einer unendlichen Toleranzkommunikation befinden, sondern dass wir wieder in der Lage sind, eigene Interessen zu formulieren, aber auch den anderen zuhören können.
Diese Eigenschaft geht immer stärker verloren. Ich habe es persönlich bei den Einheitsfeierlichkeiten in Dresden erlebt. Kurz bevor ich durch die Polizeiabsperrung kam, hat sich ein wildfremder Mann vor mir aufgebaut und gesagt: „Du Schwein, hau ab.“ Der kannte mich gar nicht. Er hat mich eben zu dem Establishment gezählt und hat mir auch gesagt: „Du bist Establishment. Du bist eine Merkel-Sau.“ Es war unglaublich, was ich da an Hass erlebt habe. Da ist es nicht mehr möglich zu kommunizieren. Aus diesem Zustand müssen wir wieder rauszukommen. Kultur sollte dabei nicht nur als die Vermittlung der schönen Künste gesehen werden, sondern Kultur ist auch die Frage, wie wir Menschen ansprechen, wie wir Menschen erreichen können. Kultur ist prädestiniert, in der politischen Positionierung und der Vernetzung mit der Gesamtgesellschaft einen Beitrag zu leisten.
Ein großer Teil von Kultur ist Musik. Sie sind Generalsekretär des Deutschen Musikrates und Sprecher des Deutschen Musikrates im Deutschen Kulturrat. Welchen Beitrag leistet Musik heute schon zur Integration?
Musik hat die Kraft, den Menschen mit all seinen Sinnen anzusprechen. Sie kann ihn auf eine Weise erreichen, wie es dem Wort allein nicht möglich ist. Insofern kann Musik tatsächlich offen sein und Offenheit befördern. Aber ich will die zweite Seite der Musik nicht unerwähnt lassen: Weil Musik den Menschen mit allen Sinnen erreichen kann, ist sie auch für die Manipulation von Menschen prädestiniert. Diese Janusköpfigkeit der Musik kann nicht oft genug unterstrichen werden. Denn wenn wir sagen: Musik macht bessere Menschen, dann stimmt das so per se nicht. Musik kann Brücken bauen, kann wirklich Offenheit befördern. Aber sie kann auch genau das Gegenteil tun. Das sehen wir bei der Radikalisierung, die in den radikalen Gruppierungen in unserem Land unter anderem durch Musik stattfindet und in Form der Manipulationsmöglichkeiten, die auch in Diktaturen – wie dem Dritten Reich – angewandt werden.
Also kann Musik auch eine Gefahr sein?
Absolut. Ich glaube, wie kaum eine der anderen Künste kann Musik zum Guten im gesellschaftlichen Zusammenleben und in der Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen führen. Aber auch zum Schlechten – und das nutzen Menschen natürlich aus.
Wenden wir uns aber dem Guten in der Musik zu. Viele Orchester leben schon Integration. Wie können sie als gesamtgesellschaftliches Wertevorbild dienen?
Die Vielfalt der Kulturen in einem Orchester oder in einem Chor – sei es in der professionellen Szene oder im Amateurmusikleben – wird seit jeher praktiziert und gelebt. Das ist etwas ganz Selbstverständliches. Darum wird darüber auch so wenig berichtet. Aber diese angesprochene Vielfalt der Kulturen – immer auf der Basis der Werte und Normen, die das Grundgesetz in unserem Land legt und die in unserer Gesellschaft praktiziert werden – könnte schon eine Vorlage für andere Bereiche sein, die stark auf Abschottung setzen.
Sie haben öfters die Themen Radikalisierung, Abschottung etc. erwähnt und auch dargestellt, wie Musik zur einer Gefahr werden kann. Wie kann dem entgegengewirkt werden? Z. B. durch kulturelle Integration?
Zum einen ist es wichtig, dass wir jedem Menschen die Möglichkeit geben, seine eigenen Wurzeln zu suchen und zu finden, d. h. Identitätsbildung in einer großen Bandbreite zu ermöglichen. Dazu gehören ganz grundlegende Dinge, z. B. kulturelle Bildung, die professionelle Vermittlung von künstlerischen Schulfächern. Das ist ein Slot. Es gibt noch viele andere Slots. Zum anderen müssen neben dieser Möglichkeit zur Identitätsfindung und Persönlichkeitsentfaltung für den Einzelnen Begegnungen ermöglicht werden. Es kommt nicht von ungefähr, dass dort, wo besonders wenig Migranten leben, die Ablehnung gegen sie besonders hoch ist. Einfach das Unbekannte, von dem ich wenig weiß, erzeugt gerade im digitalen Zeitalter der fragmentierten Nachrichtenübermittlung und Wahrnehmung besonders starke Ängste. Die (digitale) Blasenbildung versperrt immer mehr den Blick auf Zusammenhänge. Es gilt diese Ängste wahr und ernst zu nehmen. Nur so kann man durch die genannte Persönlichkeitsentwicklung, die kulturelle Entfaltungsmöglichkeit und die Begegnungsforen diesen Ängsten entgegenwirken. Das ist ganz entscheidend. In der Musik funktioniert das schon ganz gut. Es gibt Maßnahmen in beiden angesprochenen Bereichen, z. B. im internationalen Austausch der Amateurmusik. Das wirkt gerade im prägenden Kinder- und Jugendzeitalter ein Leben lang. Wenn ich aber in einer abgeschotteten Blase aufwachse und dem Fremden, dem Unbekannten immer nur in Bedrohungsszenarien begegne, dann werden eben auch Ängste stark geschürt.
Kommen wir nochmal zum Ehrenamt zurück. Sie engagieren sich selbst umfassend ehrenamtlich. 2016 haben Sie das Verdienstkreuz Erster Klasse von der Bundesrepublik Deutschland dafür erhalten. Ist ehrenamtliches Engagement heute wichtiger denn je?
Wir befinden uns aktuell in einem Erosionsprozess, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt anbelangt. Umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, welche Werte und Normen das Grundgesetz vermittelt. Das Grundgesetz steht in einer Werte- und Rechtsverbindung zu den Vereinten Nationen, wie z. B. den Menschrechten, der Freiheit der Künste und Medien, der Gleichstellung von Mann und Frau. Die Werte und Normen, die das Grundgesetz vermitteln, bilden die zentrale Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Werte und Normen halte ich auch im derzeitigen Veränderungsprozess in unserer soziodemografischen Bevölkerungsstruktur für nicht verhandelbar. Ehrenamtliches Engagement kann diesen Zusammenhalt in besonderer Weise befördern. Es ist ganz wichtig, dass der Staat durch jeden Bürger vertreten wird: Wir alle sind der Staat. Wir müssen weg von dieser Verantwortungsdelegation an die politisch Handelnden. Alles, was nicht funktioniert, laden wir dort ab. Das wird so nicht funktionieren. Wir alle – und das betrifft auch die tragenden Kräfte dieser Gesellschaft wie die Verbände und somit auch den Kulturrat – müssen erkennen, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Teil beitragen muss. Und dass es wunderschön ist, diesen Beitrag zu leisten. Es geht mir nicht darum, die parlamentarische Arbeit zurückzudrehen. Eine repräsentative Demokratie darf nicht durch den zunehmenden Ruf nach Volksabstimmungen perforiert werden. Aber bürgerschaftliches Engagement kann die Politik und die Gesellschaft als Ganzes stärken und Fehlentwicklungen entgegenwirken. Dabei braucht es von allen Seiten die Bereitschaft, sich zu äußern, zu zuhören und kritisch zu hinterfragen. So eine Gesellschaft mit so einem Bewusstsein würde ich mir wünschen. Dann würden wir manchen Konflikt nicht in der Weise austragen, wie wir es heute tun, nämlich indem wir unsere Meinung in die digitale Welt rausposaunen, ohne tatsächlich die Resonanz wiederaufzunehmen.