Die Ankom­men­den

Gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt und (kul­tu­relle) Integration

Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land wurde 1949 bewusst als „Staats­frag­ment“ gegrün­det mit einem schwer ver­ständ­li­chen „Offen­sein, [das] nicht durch sich sel­ber aus­ge­schlos­sen ist“, so Carlo Schmid. Sie wurde 1990 ledig­lich räum­lich erwei­tert unter Aus­klam­me­rung vie­ler Pro­blem­kreise und unter Aus­set­zung einer ver­tief­ten Ver­fas­sungs­dis­kus­sion. Ein Vier­tel­jahr­hun­dert nach Wie­der­ver­ei­ni­gung und Ver­trag von Maas­tricht ist die Bun­des­re­pu­blik der­zeit zum Schau­platz einer inten­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung um die geis­ti­gen und nor­ma­ti­ven Grund­la­gen unse­res Zusam­men­le­bens gewor­den. Das Flücht­lings­ge­sche­hen 2015 war nur ihr Aus­lö­ser, nicht ihr Grund.

Grund­sätz­lich ist eine sol­che Aus­ein­an­der­set­zung auch not­wen­dig. Eine par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie gelangt jedoch dann an ihre Gren­zen, wenn die Viel­schich­tig­keit der gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zesse nicht hin­rei­chend abge­bil­det wird in zyklisch-ritua­li­sier­ten Wahl­kämp­fen, vom ein­fa­chen Wech­sel gemä­ßigt-kon­ser­va­tiv zu gemä­ßigt-sozia­lis­tisch (wie nach 1968 im Wes­ten, zurück dann 1982 und wie­der zurück 1998), von media­len Groß­erzäh­lun­gen. 2017 zeigt die „pan­eu­ro­päi­sche Union der Natio­na­lis­ten“ (wie­derum wie um 1930) in Polen, in Ungarn, in der Tür­kei, dies­mal auch der Brexi­te­ers, wel­che Aus­nahme eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ist, die allen Bür­gern ein gemein­sa­mes Haus auf der Grund­lage gemein­sam geteil­ter Werte und ohne den Popanz einer sin­gu­lä­ren, sakral über­höh­ten Natio­nal­kul­tur anzu­bie­ten vermag.

An kaum einer Stelle der Bun­des­re­pu­blik wird das Maß der Auf­kün­di­gung gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halts durch breite Bevöl­ke­rungs­teile so deut­lich wie im Frei­staat Sach­sen. Hei­denau, Baut­zen, Schnee­berg sind zu Syn­ony­men für eine Sub­kul­tur von rechts gewor­den, Leip­zig-Con­ne­witz für eine Sub­kul­tur von links, die nicht nur „die staat­li­che Auto­ri­tät infrage“ stel­len, so Mar­kus Ulbig, son­dern weit mehr noch die Grund­la­gen eines Zusam­men­le­bens auf Basis der Arti­kel 1 bis 19 des Grund­ge­set­zes, dem Per­son-Sein aller Men­schen, mit oder ohne deut­schem Pass.

In Sach­sen ist daher For­schung zu gesell­schaft­li­chem Zusam­men­halt und (kul­tu­rel­ler) Inte­gra­tion dem staat­li­chen, kom­mu­na­len, kor­po­ra­ti­ven, kirch­li­chen und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Hand­lungs­be­darf beson­ders nahe. Aus die­sem Grund hat sich ein über­par­tei­li­cher For­schungs­ver­bund von Ver­tre­tern der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Chem­nitz, der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Dres­den, der Uni­ver­si­tät Leip­zig, der Poli­zei­hoch­schule Rothen­burg, der Hoch­schule Zittau/Görlitz und des Insti­tuts für kul­tu­relle Infra­struk­tur Sach­sen gebil­det. Er hat im Herbst 2016 eine erste Bestands­auf­nahme von Theo­rien und Pro­zes­sen ver­bun­den mit kon­kre­ten Hand­lungs­emp­feh­lun­gen in Form der Stu­die „Ankom­men in der deut­schen Lebens­welt. Migran­ten-Enkul­tu­ra­tion und regio­nale Resi­li­enz in der Einen Welt“ von Mat­thias Theo­dor Vogt, Erik Fritz­sche und Chris­toph Mei­ßel­bach vorgelegt.

Aus­gangs­punkt der Stu­die war die Bitte der Säch­si­schen Staats­kanz­lei, eine Woche nach Hei­denau und eine Woche vor dem Buda­pes­ter West­bahn­hof, den Hin­ter­grün­den säch­si­scher Frem­den­feind­lich­keit nach­zu­ge­hen. Im Ver­lauf der Recher­chen zeigte sich, dass sei­tens der Poli­tik und sei­tens der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Theo­rie das kul­tu­relle Poten­zial für gelin­gende Inte­gra­tion stark unter­schätzt wird. Sach­sens Lan­des­po­li­tik hat sich seit 1990 um eine Inte­gra­tion ihrer eige­nen Bür­ger in die Wer­te­ge­mein­schaft der Arti­kel 1 bis 19 des Grund­ge­set­zes nur unzu­rei­chend bemüht. Ohne diese aber gibt es kaum Ansatz­punkte für eine Auf­nahme von Frem­den als Glei­che. Behei­ma­tung in einer auf „Offen­heit“ ange­leg­ten Ver­fas­sungs­struk­tur kann einer tech­ni­zis­tisch-admi­nis­tra­tiv ange­leg­ten Poli­tik nicht gelin­gen. Einer retro­grad ange­leg­ten Kul­tur­po­li­tik genauso wenig.

In sei­ner „Ankommens“-Studie plä­diert der For­schungs­ver­bund für eine bil­dungs- und kul­tur­po­li­ti­sche Befes­ti­gung der Ein­sicht, dass Deutsch­lands Geschichte eine von Ein-, Durch- und Aus­wan­de­rung ist, dass Migra­tion der Nor­mal­fall ist und dass Inno­va­tion und Inte­gra­tion zwei Sei­ten der glei­chen Medaille sind. Eine sol­che Befes­ti­gung in den Vor­stel­lungs­wel­ten der Deut­schen auf bei­den Sei­ten der Elbe kann nur lang­fris­tig und durch eine neu­ar­tige, auf die kul­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen von Inte­gra­tion set­zende Kul­tur­po­li­tik gesche­hen. Im Mit­tel­punkt künf­ti­ger For­schun­gen und kul­tur­po­li­ti­scher Hand­lungs­emp­feh­lun­gen kann daher kein präideo­lo­gi­sier­tes Mul­ti­kulti ste­hen, son­dern ein Rin­gen um Inter­kul­tu­ra­li­tät und vor allem um Intra­kul­tu­ra­li­tät. Die Stu­die „Ankom­men in der deut­schen Lebens­welt“ ist nur ein Anfang, aber ein mutmachender.

Einen Aus­zug der Stu­die fin­den Sie hier als PDF:
http://kultur.org/uploads/forschungen/merr/Vogt_Ankommen_Auszug-Kulturrat_EJM-2016.pdf

Von |2019-06-10T17:21:21+02:00April 2nd, 2017|Einwanderungsgesellschaft|Kommentare deaktiviert für

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Gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt und (kul­tu­relle) Integration

Matthias Theodor Vogt ist Direktor des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen sowie Professor für Kulturpolitik und Interkulturelle Begegnungen an der Hochschule Zittau/Görlitz.