Ich spreche aus einer Erinnerung und sie wird wie jede Erinnerung von einem anderen Ereignis erzählen als dem, das erinnert werden soll; aber so erinnere ich mich: Januar, 1998. Ich war 13, als wir im Englischunterricht über den Untergang der Titanic sprachen. James Camerons Film kam in diesem Monat in die deutschen Kinos. Es gibt eine Szene, nachdem das Schiff bereits mit dem Eisberg kollidiert war, in der Rose und Jack durch die Gänge der dritten Klasse rennen, an einer Familie, wahrscheinlich Einwanderer, vorbei. Der Vater hielt ein Wörterbuch in der Hand, in dem er blätterte, seinen Blick abwechselnd darauf und auf das Schild, das an der Wand hing, gerichtet. Die Szene dauerte wenige Sekunden.
Ich hatte sie vergessen. Vor einigen Wochen, als ich mit einem Freund in einer Bar in Neukölln saß und wir über unsere Väter sprachen, habe ich mich an diese Familie erinnert, und auch an unser Lachen erinnerte ich mich; meine Freunde und ich saßen im Parterre; unser Englischlehrer konnte sehen, wie wir mit unseren Fingern auf sie zeigten. Mein Vater war bereits hier, als meine Mutter, mein älterer Bruder und ich in dieses Land kamen; die sri-lankische Armee hatte begonnen, junge tamilische Männer festzunehmen und verschwinden zu lassen. Er musste vor uns gehen. Wir folgten ihm, 1984, ein halbes Jahr später, als ich vier Monate alt war. Das kleine Langenscheidt Wörterbuch Englisch – Deutsch, das er nach seiner Ankunft benutzte, besitze ich immer noch. Es ist so groß wie eine Handfläche, der Einband: abgegriffen und grau von seinen Berührungen. Es fehlen Seiten; einige hingen lose an der Bindung. Als ich an diesem Abend spät nachts nach Hause kam, habe ich dieses Liliput Wörterbuch – die Reihe ist nach ihrem Format benannt worden – gesucht und in einem Schuhkarton, in dem ich alte Familienfotos aufbewahre, gefunden. Es sah anders aus als in meiner Erinnerung: Die Seiten hatten sich mittlerweile vom Einband gelöst; das türkisblaue L und der gelbe Hintergrund waren verblasst. Mit ihm – und, weil es damals kein Wörterbuch Tamil – Deutsch gab, über das Englische – begann mein Vater zur deutschen Sprache zu kommen, in der er auch 33 Jahre später nicht ankam.
Deutsch begann ich im Kindergarten zu sprechen, zur deutschen Sprache aber brachte mich die Bibel. Während wir in einem Asylbewerberheim lebten, konvertierte mein Vater zu den Zeugen Jehovas. Bis ich 13 war, war auch ich Jehovas Zeuge. Kurz vor meiner Taufe trat ich aus unserer Gemeinde aus. Den Einfluss der Bibel, die ich in der Neuen Welt Übersetzung der Heiligen Schrift, der Übersetzung der Zeugen Jehovas, las, beginne ich erst langsam zu verstehen. Mit ihr lernte ich beides: Lesen und Schreiben; ein Bruder aus unserer Versammlung brachte es mir bei, im Sommer vor meiner Einschulung. Mit zögernder Stimme und dem Zeigefinger unter dem Satz las ich meinen ersten Vers, 1. Korinther 13, 12: „Denn jetzt sehen wir mit Hilfe eines metallenen Spiegels in verschwommenen Umrissen, dann aber wird es von Angesicht zu Angesicht sein. Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich genau erkennen, so wie ich genau erkannt worden bin.“ Einen Vers zitieren zu können – auswendig, und zur rechten Zeit – wurde nicht nur als ein Zeichen des Verstehens – also der Verständigung mit Gott –, sondern auch als ein Zeichen der Standfestigkeit im Glauben betrachtet. Lange dachte ich, ich hätte einen Text, unabhängig von seinem Inhalt, nur begriffen, wenn ich aus ihm zitieren konnte.
Ich bin dreisprachig aufgewachsen: Tamil und Englisch – Sri Lanka war fast 150 Jahre lang britische Kronkolonie – sprach ich mit meinen Eltern, Deutsch später mit meinen Brüdern und Freunden. Diese Sprache habe ich anders erfahren: Tamil und Englisch lernte ich als horizontale Sprachen – Sprachen der Kommunikation, die an jemanden adressiert waren, der körperlich anwesend war, im selben Raum wie ich. Diese horizontale Linie, die von Mund zu Ohr und Ohr zu Mund, von Angesicht zu Angesicht verläuft, besaß und besitzt auch die deutsche Sprache für mich, allerdings wurde sie von Anfang an durchkreuzt, von einer vertikalen: von mir zu Jehova und – wie ich in dieser Zeit glaubte – auch von Jehova zu mir. In ihr sprach ich anders und wurde anders angesprochen: Ich glaubte, genau zu erkennen, so wie ich auch glaubte, genau erkannt worden zu sein. Deutsch war die Sprache Gottes, weil ich in ihr Gottes Wort erfahren, früher hätte ich gesagt: empfangen, hatte. Deutsch war die Sprache, die in unserer Gemeinde gesprochen wurde und in der ich glaubte, gemeint worden zu sein, von jemandem, der körperlos anwesend war, in jedem Raum, ohne Angesicht. Das erste Wort, das ich schreiben konnte, war der Name Gottes, mit einem blauen Stift auf einem gelben Notizzettel; das J fing am oberen Rand an und endete am unteren. Und noch heute sehe ich in diesem Buchstaben Jehovas Arm, der vom Himmel aus auf die Erde greift und nimmt, was ihm gehört. Das habe ich geglaubt. Von dieser Sprache bin ich ausgegangen. Und in dieser Sprache schreibe ich.
20 Jahre nach meinem Austritt liegt die Bibel weiterhin auf meinem Schreibtisch, in einer anderen Übersetzung und zu einem anderen Zweck. Als ich meinen ersten Roman geschrieben hatte, geriet ich manchmal ins Stocken bis zum Stillstand: Wenn meine Sprache sich nicht mehr bewegte, ich also nicht mehr in ihr vorankam, blätterte ich in der Bibel wie in einem Wörterbuch und ich las das, was ich zufällig aufgeschlagen hatte, einen Psalm, den Römerbrief, die Apostelgeschichte, den Blick abwechselnd auf einen Vers und auf den Monitor gerichtet, bis sich die Sprache von sich aus bewegte und ich von ihr und durch sie weiter gehen konnte: vertikal, horizontal, diagonal – in jede Richtung.