Fürs Leben lernen

Ver­ant­wor­tung über­neh­men durch soziale Paten­schafts­pro­gramme im Studium

Was heißt Per­sön­lich­keits­bil­dung? Reife Per­sön­lich­kei­ten ver­fü­gen nicht nur über men­tale Stärke, hohe Lebens­zu­frie­den­heit und aus­ge­prägte Pro­blem­lö­sungs- sowie Kri­sen­be­wäl­ti­gungs­kom­pe­ten­zen, son­dern auch über Empa­thie und sozia­les Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein. Letzt­lich ist das Ziel der Per­sön­lich­keits­bil­dung, hand­lungs­fä­hi­ger, unab­hän­gi­ger und damit auch zufrie­de­ner zu wer­den – ein Mensch, der cou­ra­giert und selbst­be­stimmt durch das Leben geht, der mit Frus­tra­tio­nen umzu­ge­hen weiß, Unsi­cher­hei­ten aus­hal­ten kann, soli­da­risch han­delt und dafür gewapp­net ist, Ver­ant­wor­tung für sich und andere zu tra­gen. Per­sön­lich­keits­bil­dung oder bes­ser Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung, ein lebens­lan­ger Pro­zess, kommt damit allen Lebens­be­rei­chen zugute – sie ist das Fun­da­ment auch für die beruf­li­che Ent­wick­lung. Per­sön­lich­keits­bil­dung heißt: für das Leben zu lernen.

Immer mehr junge Men­schen stu­die­ren – aktu­ell star­ten jedes Jahr rund 500.000 Män­ner und Frauen mit einem Stu­dium. Umso wich­ti­ger ist, dass die Hoch­schule neben der fach­wis­sen­schaft­li­chen Bil­dung und der Arbeits­markt­ori­en­tie­rung auch die Per­sön­lich­keits­bil­dung in den Fokus nimmt. Auf diese drei zen­tra­len Dimen­sio­nen hoch­schu­li­scher Bil­dung hat auch der Wis­sen­schafts­rat, das wich­tigste wis­sen­schafts­po­li­ti­sche Bera­tungs­gre­mium in Deutsch­land, jüngst in einer Emp­feh­lung hingewiesen.

Aber wie ent­wi­ckelt sich Per­sön­lich­keit? Per­sön­lich­keit wächst außer­halb der Hoch­schule in der Fami­lie, unter Freun­den, durch gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment in der Zivil­ge­sell­schaft, durch erste Jobs, Mit­ar­beit in Ver­ei­nen und Initiativen.

Und in der Hoch­schule? Fast jeder zweite Stu­die­rende sieht das Stu­dium als eine Phase des Lebens, in der sich Per­sön­lich­keit ent­wi­ckelt. Per­sön­lich­keit wächst sicher­lich nicht durch“ex cathedra“-Vorlesungen und -Semi­nare, son­dern eher durch das Mit­ein­an­der der Stu­die­ren­den in Lern­grup­pen und Tuto­rien, durch Prak­tika und akti­vie­rende For­men des Leh­rens und durch den Aus­tausch unter den Stu­die­ren­den, sei es stu­di­en­be­zo­gen oder in der Frei­zeit. Per­sön­lich­keit ent­wi­ckelt sich auch, indem Ver­ant­wor­tung als stu­den­ti­scher Men­tor oder Men­to­rin für einen Men­tee über­nom­men wird – z. B. einen jün­ge­ren oder aus­län­di­schen Stu­die­ren­den – oder in der umge­dreh­ten Rolle, indem ich von Älte­ren und Erfah­re­ne­ren lerne.

Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung lässt sich kaum steu­ern, aber sie lässt sich unter­stüt­zen und för­dern. Aus­lands­er­fah­rung wäh­rend des Stu­di­ums ist ein wich­ti­ger Kata­ly­sa­tor. Der bewusste Wech­sel in ein ande­res sozia­les Umfeld, eine andere Kul­tur ver­langt dem Ein­zel­nen und der Ein­zel­nen eini­ges ab: Tole­ranz, Fle­xi­bi­li­tät, neue Bezie­hun­gen auf­bauen. Nie­mand kommt von einer Reise so zurück, wie er oder sie weg­ge­fah­ren ist. Letzt­end­lich hilft alles, was den Ein­zel­nen dazu bringt, sich mit sich selbst und sei­ner Umwelt aus­ein­an­der­zu­set­zen, die eigene Rolle zu klä­ren, sich selbst zu reflek­tie­ren und eine Iden­ti­tät zu entwickeln.

Den meis­ten Ange­bo­ten an Hoch­schu­len gemein ist aber, dass sich die Stu­die­ren­den unter ihres­glei­chen bewe­gen – in einem pri­vi­le­gier­ten Milieu. Kon­takt zu ande­ren gesell­schaft­li­chen Grup­pen und Schich­ten ist stark begrenzt. Denn trotz der Expan­sion des Hoch­schul­stu­di­ums ist die soziale Selek­ti­vi­tät immer noch hoch. Vor allem die Wei­chen­stel­lun­gen wäh­rend der Schul­zeit füh­ren dazu, dass von 100 Kin­dern aus nicht-aka­de­mi­schen Eltern­häu­sern nur 23 stu­die­ren, bei Kin­dern aus aka­de­mi­schen Eltern­häu­sern sind es dage­gen 77, das heißt mehr als drei­mal so viele. An der Hoch­schule trifft in der Regel der Arzt­sohn die Archi­tek­ten­toch­ter – sel­ten die Toch­ter eines Maurers.

Ande­rer­seits gibt es Men­schen, die wir stär­ker als bis­her in die Mitte unse­rer Gesell­schaft holen müs­sen – Flücht­linge, Men­schen mit Behin­de­rung, Haupt­schü­le­rin­nen und -schü­ler, junge Men­schen ohne Schul- oder Berufs­ab­schluss. Allein 1,3 Mil­lio­nen junge Men­schen zwi­schen 20 und 29 Jah­ren haben kei­nen berufs­qua­li­fi­zie­ren­den Abschluss und damit kaum eine Chance auf öko­no­mi­sche, soziale und kul­tu­relle Teilhabe.

Auf Basis eines bun­des­wei­ten Pro­gramms soll­ten darum Paten­schaf­ten zwi­schen Stu­die­ren­den und Leis­tungs­schwä­che­ren zu einem selbst­ver­ständ­li­chen Teil des Stu­di­ums im Sinne einer umfas­sen­den Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung wer­den und mit Leis­tungs­punk­ten  unter­legt wer­den. Gewiss: Sozia­les Enga­ge­ment kann und soll nicht objek­tiv gemes­sen und hono­riert wer­den. Aber Leis­tungs­punkte mes­sen den Arbeits­auf­wand im Stu­dium. Wer­den sie für ein sol­ches Men­to­ring ver­ge­ben, machen sie deut­lich, dass Enga­ge­ment für weni­ger Pri­vi­le­gierte den Zie­len des Stu­di­ums sowie der Gesell­schaft dient und Wert­schät­zung erfährt.

Eine Paten­schaft selbst kann sehr unter­schied­li­che For­men anneh­men: Haus­auf­ga­ben­be­treu­ung, Nach­hilfe, Suche nach einem Aus­bil­dungs­platz oder einer behin­der­ten­ge­rech­ten Woh­nung, Unter­stüt­zung bei Bewer­bungs­schrei­ben, gemein­same Muse­ums- oder Restau­rant­be­su­che und sport­li­che Akti­vi­tä­ten. Pro Patin oder Pate wäre ein Bud­get von etwa 500 Euro pro Jahr aus­rei­chend, um die Kos­ten zu decken. Die Bun­des­bil­dungs­mi­nis­te­rin und die Lan­des­bil­dungs­mi­nis­te­rin­nen und -minis­ter soll­ten über die unbü­ro­kra­ti­sche Aus­ge­stal­tung und Finan­zie­rung eines sol­chen gro­ßen Paten­schafts­pro­jek­tes Gesprä­che aufnehmen.

Beide Sei­ten – Pate und „Paten­kind“, Men­tor und Men­tee – wür­den pro­fi­tie­ren: eine klas­si­sche Win-win-Situa­tion. Von einem sol­chen Pro­gramm könnte dar­über hin­aus auch ein Impuls für ein stär­ke­res Mit­ein­an­der in unse­rer Gesell­schaft aus­ge­hen – für mehr Soli­da­ri­tät, gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt, Teil­habe und sozia­len Frieden.

Der Text ist zuerst in Poli­tik & Kul­tur 01/2017 erschienen.

Von |2019-06-17T11:13:36+02:00Januar 12th, 2017|Arbeitsmarkt|Kommentare deaktiviert für

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Ver­ant­wor­tung über­neh­men durch soziale Paten­schafts­pro­gramme im Studium

Peter Clever ist Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).