För­dern und Fordern

Andreas Kolb im Gespräch mit Aiman A. Mazyek

Aiman A. Mazyek ist deut­scher Medi­en­be­ra­ter, Publi­zist und Vor­sit­zen­der des Zen­tral­ra­tes der Mus­lime in Deutsch­land. Der Zen­tral­rat gilt neben der zah­len­mä­ßig grö­ße­ren Tür­kisch-Isla­mi­schen Union der Anstalt für Reli­gion, dem Ver­band der Isla­mi­schen Kul­tur­zen­tren, der ale­vi­ti­schen Gemeinde Deutsch­land und dem Islam­rat für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land als einer der wich­tigs­ten isla­mi­schen Dach­ver­bände in Deutsch­land. Aiman Mazyek wurde 1969 als Sohn eines syri­schen Inge­nieurs und einer deut­schen Jour­na­lis­tin gebo­ren. Er stu­dierte in Aachen und Kairo. Zu sei­nen zahl­rei­chen ehren­amt­li­chen Tätig­kei­ten zäh­len u.a. die Grün­dung der Orga­ni­sa­tion Grün­helme, in der ins­be­son­dere junge Chris­ten und Mus­lime beim Wie­der­auf­bau von durch Krieg und Natur­ka­ta­stro­phen zer­stör­ten Schu­len hel­fen. Von 2007 bis 2011 war Mazyek Stadt­ver­bands­vor­sit­zen­der der FDP in Als­dorf bei Aachen. Heute ist Mazyek par­tei­los. Andreas Kolb unter­hielt sich für Poli­tik & Kul­tur mit Aiman Mazyek über die Fol­gen der Mas­sen­ein­wan­de­rung für unsere Gesellschaft.

Andreas Kolb: Herr Mazyek, wie haben Sie den Tag der Offe­nen Moschee am 3. Okto­ber verbracht?

Aiman A. Mazyek: Der Tag der Offe­nen Moschee ist inzwi­schen ein fes­ter Bestand­teil des deut­schen Kul­tur­in­ven­tars. Ich war am 3. Okto­ber in Ber­lin und habe sowohl einige Moscheen besucht, als auch die Ein­heits­feier. Die bei­den Ver­an­stal­tun­gen am sel­ben Tag gehö­ren für uns Mus­lime zusam­men: Der Tag der Offe­nen Moschee zeigt unsere Hal­tung gegen­über der fried­li­chen Revo­lu­tion der Deut­schen, und er zeigt, dass wir ein Teil die­ser Gesell­schaft und die­ses Lan­des sind.

Wel­che Fol­gen hat der ver­stärkte Zuzug von Mus­li­men aus der ara­bi­schen Welt nach Deutsch­land für den Zen­tral­rat der Mus­lime? Und inwie­fern hat das Thema Flücht­lings­welle Ein­fluss auf Ihr per­sön­li­ches Leben?

Als der Ver­band mit den meis­ten ara­bisch spre­chen­den Moscheen waren wir ein Stück weit vor­be­rei­tet, bevor die große Zahl der Flücht­linge hier­her­ge­kom­men ist. Der Zen­tral­rat hat seit Anfang 2015 einen Sport- und Flücht­lings­be­auf­tra­gen. Wir haben aber nicht die Mög­lich­kei­ten und Struk­tu­ren wie die gro­ßen Wohl­fahrts­ver­bände und die Kir­chen – In der Zeit des Rama­dan haben wir eine große Aktion gestar­tet „Deutsch­land sorgt für Flücht­linge“ bei der viele Gemein­den Flücht­linge ein­ge­la­den haben, egal wel­che Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit sie besa­ßen. Was mich per­sön­lich angeht: Dadurch, dass ich einen syri­schen Vater habe, habe ich den Puls noch­mals näher an dem Land sel­ber. Es war abzu­se­hen, dass da etwas pas­sie­ren wird. Ich erlebte haut­nah wie viele syri­sche Fami­lien  schon 2013 und 2014 über 60.000 syri­sche Flücht­linge mit­tels Bürg­schaf­ten nach Deutsch­land  geholt haben.

„Nicht alle mus­li­mi­schen Gemein­den hel­fen Flücht­lin­gen aus isla­mi­schen Län­dern – zum Ärger der­je­ni­gen, die sich umso mehr küm­mern.“ Die­sen Satz titelte die FAZ am 8. Okto­ber auf der Politikseite.

Ich kann das nicht bestä­ti­gen. Die meis­ten Gemein­den leis­ten Hilfe. Soli­da­ri­tät und Mit­mensch­lich­keit sind der Reli­gion inhä­rente Impe­ra­tive. Imma­nuel Kant hat in „Der ewige  Frie­den“ geschrie­ben, dass der Hil­fe­su­chende ein Recht auf Hilfe hat. Außer wenn er die Hand gegen seine Hel­fer erhebt. Die Her­lei­tung ist im Islam ein biss­chen anders als bei einem Agnos­ti­ker und gleicht eher der christ­li­chen oder jüdi­schen Ideen­lehre. Pro­ble­ma­tisch sehe ich dage­gen die Frage der Adres­sie­rung: Zunächst gab es eine öffent­li­che Dis­kus­sion dar­über, was die Moscheen ange­sichts des Flücht­lings­zu­stroms mach­ten. Man stellte fest: Die Mus­lime leis­ten viel. Dann kam die Frage auf, was der Zen­tral­rat tut, damit Extre­mis­ten die neue Frei­zü­gig­keit nicht aus­nutz­ten. Schon wie­der war die Adresse die mus­li­mi­sche Moschee.

Jetzt wo wir kon­kret Hilfe anbie­ten, da geht die Poli­tik den beque­men Weg und sagt: Wir haben Netz­werke wie etwa die Wohl­fahrts­ver­bände, mit­tels deren Struk­tu­ren die Hilfe dann  ver­teilt wird. In die­sem Moment wer­den wir nicht mehr adressiert.

Wel­ches sind die Hil­fen, die der Zen­tral­rat der Mus­lime anbietet?

Es ist die ganze Kla­via­tur: Inte­gra­ti­ons­lot­sen, Über­set­zer, Imame, die als Seel­sor­ger und Trös­ter unter­wegs sind, Schlaf­plätze in den Moscheen, Essen und Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tun­gen für Flücht­linge, bis hin zu Deutsch­kur­sen in den Gemein­den und Geschen­ke­ver­tei­lung für Flücht­lings­kin­der zum Opfer­fest. Der Zen­tral­rat setzt sich zudem über ver­schie­dene Pro­jekte spe­zi­ell für unbe­glei­tete Flücht­lings­kin­der und Wai­sen ein, indem diese z.B. über unser Netz­werk Pfle­ge­el­tern ver­mit­teln wer­den. Wir leis­ten eine ganze Menge, ins­be­son­dere über unsere Moscheen vor Ort, wo Ehren­amt­li­che seit Mona­ten bis am Rand ihrer Erschöp­fung arbei­ten. Lei­der gibt es den­noch immer einen Vor­be­halt gegen­über den mus­li­mi­schen Ein­rich­tun­gen und sie sind struk­tu­rell gegen­über den bei­spiels­weise  christ­li­chen Wohl­fahrts­ver­bän­den benach­tei­ligt. Bis­her haben wir da keine rich­ti­gen Weg gefun­den. Einer­seits ist allen klar, dass wir da eine Schlüs­sel­funk­tion üben, ande­rer­seits wird diese aber bis­her nicht ent­spre­chend gewürdigt.

Ist es nicht Zeit für einen mus­li­mi­schen Wohlfahrtsverband?

Ja, aber das geht nicht auto­ma­tisch. Es geht natür­lich auch um gewach­sene Struk­tu­ren. Die­ser Pro­zess ist bereits im Gange, spä­tes­tens seit die Islam­kon­fe­renz das Thema Wohl­fahrt und Seel­sorge auf die Tages­ord­nung gesetzt hat. Dass es eines Tages zu einem mus­li­mi­schen Wohl­fahrts­ver­band kom­men wird, das ist jedem klar. Schon heute haben wir ver­schie­dene Gemein­schafts­pro­jekte mit unter­schied­li­chen Akteu­ren wie Arbei­ter­wohl­fahrt, Dia­ko­nie und Cari­tas. Bestimmte Berei­che, ich denke da an Pal­lia­tiv­me­di­zin, Ster­be­be­glei­tung oder Seel­sorge, wer­den die mus­li­mi­schen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten dann sicher sel­ber übernehmen.

Gewinnt der Zen­tral­rat der Mus­lime durch den Zuzug vie­ler syri­scher Asyl­su­chen­der auch eine stär­kere Posi­tion inner­halb der diver­sen mus­li­mi­schen Dach­ver­bände in Deutschland?

Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Fakt ist, dass viele unse­rer Moscheen seit­dem vol­ler gewor­den sind.

Sie haben bereits 1996, also zu einer Zeit, wo noch nicht viele online unter­wegs waren, sehr modern gedacht, und eine wich­tige Inter­net­platt­form initi­iert, deren Chef­re­dak­teur Sie viele Jahre waren: www.islam.de.

Mit dem Por­tal hat­ten wir viele Jahre ein Alleinstellungsmerkmal.

Heut­zu­tage – Gott sei Dank – haben wir eine ganze Reihe von mus­li­mi­schen Inter­net­prä­sen­zen, die jeweils unter­schied­li­che Schwer­punkte haben und auch Spezialisierungen.

Sie sind kein Inge­nieur gewor­den wie ihr Vater, son­dern Publi­zist. Was hat Sie geprägt?

Ich liebe die Klas­sik der deut­schen Lite­ra­tur. Wir hat­ten in der 12. Klasse einen so begna­de­ten Deutsch­leh­rer, der uns „Faust I“ so fan­tas­tisch im Unter­richt nahe­brachte, dass mich diese Zei­len, aber auch die Werke ande­rer Klas­si­ker wie Schil­ler, Her­der oder Les­sing nicht mehr los­ge­las­sen haben. Ich habe damals ange­fan­gen, mehr schlecht als recht Gedichte zu schrei­ben. Auch das hat mich bis heute nicht los­ge­las­sen. Eine wei­tere Liebe ist die klas­si­sche Musik, neben Schu­bert oder Beet­ho­ven schätze ich ins­be­son­dere Tschai­kow­sky. Hier wäre der Ein­fluss mei­ner Mut­ter zu nen­nen, die die gro­ßen rus­si­schen Kom­po­nis­ten geliebt hat.

Waren Sie schon in Kon­zer­ten des in Bre­men neu gegrün­de­ten Syrian Expat Phil­har­mo­nic Orchestra?

Da war ich noch nicht. Aber ich habe mehr­fach Daniel Baren­bo­ims West-Eas­tern Divan Orches­tra live gehört.

Sie selbst sind geprägt vom auf­klä­re­ri­schen Geist der deut­schen Klas­sik, ins­be­son­dere dem soge­nann­ten Sturm- und Drang. Hat der Islam die Auf­klä­rung noch vor sich? Ent­steht durch die Migra­ti­ons­be­we­gun­gen die­ser Tage nicht die Chance, Auf­klä­rung außer­halb der Kern­län­der des Islam neu zu wagen?

Dazu will ich etwas aus­ho­len. Ich ver­stehe den Islam nicht als Sys­tem, son­dern als eine Frage von Prin­zi­pien. Ich denke an das Gerech­tig­keits­prin­zip, auch an mora­li­sche Codexe, die Sie auch im Chris­ten- und Juden­tum wie­der­fin­den. Unsere Auf­gabe liegt darin, diese Prin­zi­pien in der jewei­li­gen Zeit, in der jewei­li­gen Kul­tur und Gesell­schaft, ent­spre­chend anzu­wen­den. Ich glaube da soll­ten wir Mus­lime uns fun­da­men­tal von Ideo­lo­gen jeder Art unter­schei­den. Bun­des­kanz­le­rin  Mer­kel sagte im Inter­view zum Thema Flücht­lings­pro­blem: „Wir sind eine christ­li­che Par­tei.“  Was heißt das als Christ gespro­chen für den Umgang mit Asyl­su­chen­den? Rein prag­ma­tisch und sach­lich könnte man als Poli­ti­ker sagen: Wenn ich mehr Flücht­linge hier rein­lasse, dann kol­la­biert diese Gesell­schaft oder diese Wirt­schaft. Nüch­tern betrach­tet, ist die Gefahr nicht ganz von der Hand zu wei­sen. Aber nein, Frau Mer­kel  fragt sich: Was ist meine christ­li­che Ver­ant­wor­tung? Und das bedeu­tet in die­sem Fall  Nächs­ten­liebe – ein Prin­zip und eine Hal­tung, die ein Mus­lim bei­spiels­weise aus dem Gedan­ken der Barm­her­zig­keit ablei­tet, ja ablei­ten muss, will er ein guter Mus­lim sein. Einige Mus­lime haben inso­fern tat­säch­lich eine Auf­klä­rung vor sich: Sie müs­sen ihre Reli­gion aus der Ver­schüt­tung wie­der ent­de­cken! Vie­les ist davon ver­schüt­tet und wir erle­ben ja gerade in der mus­li­mi­schen Welt kein Auf­be­geh­ren oder ein Auf­bäu­men der Mus­lime, son­dern eine tiefe Resi­gna­tion, auch reli­giös gese­hen. Das ist ein Ergeb­nis davon, dass wir unse­ren Glau­ben nicht als Hal­tung begrei­fen, son­dern als ein ideo­lo­gi­sches, abge­schlos­se­nes Sys­tem. Dabei kennt die isla­mi­sche Welt durch­aus eine eigene Zeit der „Auf­klä­rung“, die bis zum Beginn der Neu­zeit zur wis­sen­schaft­li­chen Blüte der isla­mi­schen und auch der christ­li­chen Län­der beitrug.

„Wir dür­fen Flücht­linge nicht in Watte packen“ zitiert Sie die Ber­li­ner Zei­tung. Wie ist das gemeint?

Das Prin­zip heißt ein­fach „För­dern und For­dern“. Die Men­schen, die her­kom­men, soll­ten so früh wie mög­lich die Chance erhal­ten, ihre Talente in die Gesell­schaft mit ein­zu­brin­gen, gerade auch in die Arbeits­welt. Das Schlimmste wäre, durch lange War­te­zei­ten zu beför­dern, dass die Moti­va­tion der Asyl­su­chen­den ver­schüt­tet wird, ihre Talente ver­kom­men und sie dann nicht mehr in der Lage wären, sie zu nut­zen. Das darf nicht pas­sie­ren. Das ist damit gemeint.

Erle­ben viele Men­schen, die jetzt neu in Deutsch­land und Europa ankom­men, nicht einen Kul­tur­schock? Wel­che Auf­ga­ben wach­sen den Küns­ten, und ins­be­son­dere der Kul­tur­po­li­tik hier neu zu?

Dadurch, dass wir Neues zulas­sen, haben wir auch die Chance, unsere alten ver­krus­te­ten Struk­tu­ren zu revi­ta­li­sie­ren. Ein Mehr an Viel­falt ist natür­lich auch anstren­gend, aber am Ende macht es einen auch stär­ker. Deutsch­land wird durch die Flücht­linge am Ende nicht nur öko­no­misch stark pro­fi­tie­ren, die ande­ren euro­päi­schen Staa­ten wer­den noch stau­nen und dann wie­der fra­gen: Wie hat das Deutsch­land nur gemacht?

Das Inter­view ist zuerst in Poli­tik & Kul­tur 06/2015 erschienen.

Von |2019-06-17T11:06:05+02:00Januar 12th, 2017|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

För­dern und Fordern

Andreas Kolb im Gespräch mit Aiman A. Mazyek

Aiman A. Mazyek ist deutscher Medienberater, Publizist und Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland. Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.