Kunst und Kultur sind wichtige Orte der Begegnung. Wenn unterschiedliche Lebenswelten und kulturelle Wirklichkeiten in Kunst und Kultur wiedergegeben werden, können sie einen entscheidenden Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Dafür brauchen wir mehr Räume für soziale und kulturelle Lebenswirklichkeiten, die aus der Nische herausgeholt und „auf die Bühne“ gebracht werden. Die zunehmende Globalisierung und Migrationsströme führen zu einer starken Pluralisierung der Gesellschaft und Fragmentierung von urbanen Lebensräumen.
Die Heterogenität einer Bevölkerung stellt demzufolge auch die Kulturpolitik vor eine große Herausforderung. Bieten Kunst und Kultur wirklich allen Menschen, die in unserem Land leben, ein Zuhause? Spiegeln sich beispielsweise die unterschiedlichen Identitäten, die Erinnerungskultur von Migranten in den Kulturhäusern ausreichend wieder?
Deutschland ist noch weit davon entfernt, der kulturellen Vielfalt einen Raum zu geben. Denn die kulturelle Vielfalt findet weder in der Kulturpolitik noch in den Kultureinrichtungen ausreichend Beachtung. Somit schränkt der Mangel an kultureller Vielfalt in den Angeboten automatisch den Zugang zur kulturellen Teilhabe von Migranten ein. Dabei ist das Selbstverständnis einer pluralen Gesellschaft stark von der kulturellen Teilhabe abhängig. Wenn eine Bühne oder ein Publikum die Gesellschaft nicht widerspiegelt, ist dieses Selbstbild ausgrenzend, betonte Mark Terkessidis bereits vor einigen Jahren in seinem Buch mit dem Titel »Interkultur«. Insbesondere etablierte Kultureinrichtungen wie staatliche Museen, Opern und Theaterhäuser tun sich schwer damit, sich interkulturell zu öffnen und die kulturelle Vielfalt, die auf der Straße herrscht, auch in ihren Angeboten widerzuspiegeln. Erfreulicherweise gibt es Ausnahmen.
Die Komische Oper trägt z. B. seit 2012 im Rahmen des interkulturellen Projekts „Selam Opera!“ mit ihrem „Operndolmuş“ (dolmuş bedeutet Sammeltaxi) Musiktheater in die Kieze der Hauptstadt. In diesem Sommer hat der Operndolmuş seine Reise auf den Spuren der Gastarbeiterroute im Kreuzbergmuseum angetreten. Als die Opernsänger das populäre Lied von Barış Manço „Dağlar Dağlar“ anstimmten, herrschte helle Begeisterung im Publikum. Damit die gesellschaftliche Vielfalt in deutschen Kultureinrichtungen zum Regelfall wird, müssten sich die Kultureinrichtungen bereit erklären, sich interkulturell zu öffnen, indem sie die kulturelle Vielfalt in ihren Kulturangeboten sowie in der personellen Besetzung – auch in den Führungspositionen – widerspiegeln. Infolge dessen müsste das Kulturprogramm interkulturell sensibel und zielgruppengerecht angepasst werden.
Damit würden sie gleichzeitig ein wichtiges Signal an die plurale Gesellschaft senden; nämlich eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung sowie die Bereitschaft auf ein Zusammenleben auf Augenhöhe. Dabei sollte die Kultur als wichtiges Medium der Teilhabe und als ein demokratisches Mittel bei der Gestaltung der Vielfalt betrachtet werden. Ein wichtiges kulturpolitisches Ziel sollte es sein, neue Formen des Dialogs und Austauschs in dieser von Heterogenität und Vielfalt gezeichneten Realität aufzuzeigen. Bei dieser Gelegenheit müssten Kulturhäuser ihre Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen intensivieren. Auch müssten die kulturellen Bedürfnisse der Migranten in der Forschung weiterhin ermittelt werden, damit für sie zielgruppengerechte Angebote gemacht werden können. Laut einer Untersuchung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung haben Kunst und Kultur für Migranten eine wichtige Brückenfunktion, die zwischen den Kulturen vermitteln und daher unverzichtbare Instrumente für einen Dialog sind. Dadurch kann eine Begegnung mit anderen Kulturen und Traditionen ermöglicht und eine wechselseitige Akzeptanz beschleunigt werden. Auf diese Erkenntnisse sollte die Kulturpolitik allmählich Rücksicht nehmen und darauf reagieren.
Wie weit ist es heute mit der interkulturellen Öffnung in den Kulturinstitutionen? Die interkulturelle Öffnung in Kultureinrichtungen steckt in Deutschland noch in Kinderschuhen. Nur ein Prozent des Budgets der Bildungsveranstaltungen aller Kultureinrichtungen richten sich an Einwanderer. Die meiste finanzielle Unterstützung wird für die Förderung der Hochkultur ausgegeben. Dabei wird ein bestimmter Typus von Kulturangeboten gefördert: „mittelständisch, bildungsbürgerlich, einheimisch und nichtbehindert“, schreibt Mark Terkessidis in „Interkultur“.
Der Bau des Schlosses in Berlin, das ein bedeutendes Symbol der Hochkultur ist, kostet z. B. 590 Millionen Euro. Aber für den Bau eines Migrationsmuseums in Deutschland, den Migranten seit Jahren fordern, gibt es immer noch keine sichergestellte Finanzierung. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Frankreich und Dänemark bereits ein Migrationsmuseum. Domid e.V. kämpft seit 25 Jahren für eine Gründung eines Migrationsmuseums.
Laut den westfälischen Nachrichten vom 13. Mai 2015 wurde der Startschuss für das erste Migrationsmuseum in Deutschland erteilt. Doch weiterhin fehlen dafür die Gelder; dafür müsse eine breite Öffentlichkeit nur einmal erreicht und Unterstützer gefunden werden. Daran ist deutlich zu erkennen, dass die Kultur der Migranten und ihre Einwanderung in Deutschland nicht ausreichend gewürdigt werden. Die Migranten sind seit über 50 Jahren nach Unterzeichnung der ersten Anwerbeabkommen ein fester Bestandteil dieser Bevölkerung, sie führen Steuern ab und leisten einen entscheidenden Beitrag für den Wohlstand in Deutschland. Sie verdienen es, in der Kulturpolitik gewürdigt und beachtet zu werden. Nur so können ein neues Wir-Gefühl und ein neuer Gemeinsinn entstehen.
Der Text ist zuerst in Kultur bildet. Nr. 9 erschienen.