Ästhe­tik und Aufklärung

Der Foto­graf Harald Haus­wald als Chro­nist und Künstler

Harald Haus­wald ist der bekann­teste und wohl auch bedeu­tendste Foto­graf der spä­ten DDR. Seit Mitte der 1970er Jahre foto­gra­fierte Haus­wald, der selbst seit Jugend­jah­ren zur nicht ange­pass­ten Jugend­szene der DDR gehörte, in öffent­li­chen und pri­va­ten Räu­men Sze­nen des Lebens im Span­nungs­feld zwi­schen staat­li­chem Anspruch und gesell­schaft­li­cher, oft pri­va­ter Rea­li­tät. Ver­öf­fent­licht wur­den Haus­walds Fotos vor allem von West­me­dien, in der DDR hatte Haus­wald fak­ti­sches Publikationsverbot.

Seine Auf­nah­men zei­gen sturm­zer­zauste Fah­nen am Rande ritua­li­sier­ter Mai­fei­ern. Stoi­sche Gesich­ter von FDJ-Ord­nern im Kon­trast zu den sehn­suchts­vol­len Bli­cken ihrer Alters­ge­nos­sen bei Pop-Kon­zer­ten. Karge Schau­fens­ter­de­ko­ra­tio­nen, auf abge­ranz­ter Tafel der Spruch: „Repa­ra­tur aller Sys­teme“  –  ein auf tech­ni­sche Sys­teme gemünz­tes Ver­spre­chen, poli­ti­scher Sub­text ent­fal­tet sich im fest­ge­hal­te­nen Bild. Haus­walds Fotos ver­bin­den die Span­nung opti­scher Bild­kon­struk­tion mit der Span­nung sozia­ler Deu­tung. Seine Bil­der lie­fern Indi­zien gesell­schaft­li­cher Ero­sion, lange Jahre vor der poli­ti­schen Implo­sion des Systems.

30 Jahre nach Ende der DDR-Staat­lich­keit wird nun in einer Retro­spek­tive Haus­walds Arbeit gewür­digt, genauer gesagt: Der Zeit­raum von Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre.

Haus­wald war und ist ein uner­müd­li­cher Foto­graf. An die 300.000 Nega­tive umfasst sein Archiv. Drei Jahre lang wühlte seine Foto­gra­fen-Kol­le­gin Ute Mahler sich durch die­sen Fun­dus. 6.000 Fotos wer­den in hoher Auf­lö­sung digi­ta­li­siert, finan­ziert aus Mit­tel der Bun­des­stif­tung zur Auf­ar­bei­tung der SED-Diktatur.

Rund 250 die­ser Auf­nah­men wur­den aus­ge­wählt für die Retro­spek­tive bei C/O Ber­lin und eine zeit­glei­che Buch­pu­bli­ka­tion. Der Titel der Aus­stel­lung wie des Buches „Voll das Leben“ knüpft an eine frü­here Aus­stel­lung und Publi­ka­tion „Voll der Osten“ Haus­walds an.

Die Neu­for­mu­lie­rung ist fol­ge­rich­tig. Denn die Retro­spek­tive zeigt Bil­der aus dem Osten, aber die Aus­wahl ist eine andere. Natür­lich sind bekannte Haus­wald-Auf­nah­men zu sehen, vor­weg sein wohl berühm­tes­tes Foto von drei Män­nern in der U-Bahn, früh­mor­gens auf dem Weg zur Arbeit. Eine iko­no­gra­fi­sche Chif­fre für Leben im Kor­sett von Gewohn­heit, Pflicht­er­fül­lung, Anpas­sung, Frus­tra­tion – des­sen Prot­ago­nis­ten aber nicht ihrer Würde beraubt wer­den, son­dern selbst in dump­fer Mor­gen­mü­dig­keit die Dring­lich­keit selbst­be­stimm­ten Leben ahnen lassen.

Das Ein­rich­ten in der Nischen­ge­sell­schaft DDR, wie Haus­wald sie nennt, oszil­lierte zwi­schen Resi­gna­tion und Rebel­lion. Die Rebel­lion, weni­ger als poli­tisch arti­ku­lier­ter Pro­test, son­dern als Lebens­form, ist immer wie­der­keh­ren­des Motiv bei Haus­wald. DDR-Punks, von denen im Wes­ten nicht viele wuss­ten, dass es sie über­haupt gibt, Hoo­li­gans im Umfeld der DDR-Fuß­ball­ver­eine, die in ihren radi­ka­len Sprü­chen und Paro­len die viel­leicht größte Frei­heit unter den Augen staat­li­cher Sicher­heits­or­gane ein­fach aus­leb­ten – dies sind die „lau­ten“ Fotos, für die Haus­wald seit Jah­ren bekannt ist. Hier wird Haus­wald zum Chro­nis­ten, zum eigen­wil­li­gen Zeu­gen und Bericht­erstat­ter sei­ner Zeit – ohne dass er jemals diese Rolle geplant hätte. Heute akzep­tiert er, ohne Eitel­keit, dass er in sie hin­ein­ge­wach­sen ist.

Neben die­sem – sozu­sa­gen bekann­ten – Harald Haus­wald zeigt die Retro­spek­tive aber auch eine „leise“ Seite, die gleich­wohl nicht weni­ger auf­re­gend ist, ganz im Gegen­teil. Dies ist das beson­dere Ver­dienst der Kura­to­ren, nament­lich Ute Mahler, die im Fun­dus der 300.000 Nega­tive Arbei­ten ent­deckte, von denen Haus­wald, wie er frei­mü­tig zugibt, jetzt selbst über­rascht wurde.

Ein Foto, des­sen Unge­heu­er­lich­keit erst auf den zwei­ten Blick deut­lich wird, zeigt die Fas­sade eines Plat­ten­baus in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen, 1992 bekannt gewor­den durch Brand­an­schläge auf ein Flücht­lings­wohn­heim. Im tris­ten Grau der Beton­qua­drate an einer Tür­öff­nung ein ein­zel­ner Mann, win­zige Figur – den Arm zum Hit­ler­gruß gereckt. Ein Bild ohne opti­sche Insze­nie­rung eines poli­ti­schen Kom­men­tars – aber gerade die lako­ni­sche Beob­ach­tung beun­ru­higt und stellt die Frage nach Kau­sa­li­tä­ten zwi­schen Lebens­ver­hält­nis­sen und poli­ti­schen Einstellungen.

Das macht die Qua­li­tät der Foto­gra­fien Haus­walds und seine Qua­li­tät als beob­ach­ten­der Doku­men­ta­rist aus: Er kommt nicht mit der Keule eines poli­ti­schen oder mora­li­schen Vor­wurfs um die Ecke, son­dern ver­traut auf die Kraft der Bil­der, die er fin­det und durch das Drü­cken des Aus­lö­sers Dau­er­haf­tig­keit verleiht.

Einen Glanz­punkt der Retro­spek­tive bil­den Auf­nah­men aus Haus­walds Anfangs­jah­ren. Er arbei­tete Teil­zeit bei der Ste­pha­nus-Stif­tung in Ber­lin, eine christ­lich-huma­nis­ti­sche Stif­tung für Men­schen mit Behin­de­rung. Hier lernte Haus­wald foto­gra­fi­sche Nähe zu mensch­li­cher Eigen­art. Inti­mi­tät und Würde auch unter schwie­ri­gen Bedin­gun­gen zu ver­bin­den ist durch­gän­gige Struk­tur aller Arbeiten.

Haus­wald prak­ti­ziert, was für Theo­dor W. Adorno ein grund­le­gen­der Anspruch kri­ti­scher Kul­tur­theo­rie ist: Ästhe­tik als Ele­ment von Auf­klä­rung. Ästhe­tik, vor allem in der Ästhe­tik von Kunst, kann Den­ken abseits bekann­ter Sche­ma­ti­sie­run­gen in Gang set­zen. Kunst­werke spei­chern Erfah­run­gen, leid­volle wie freud­volle, sie bewah­ren die Mög­lich­keit bes­se­ren Lebens und sind der Befrei­ung von Herr­schaft zugeneigt.

Diese sub­ver­sive Kraft ahn­ten, ohne sie zu begrei­fen, zual­ler­erst übri­gens die Siche­rungs­or­gane der DDR-Staats­macht. Den Ein­gangs­raum zur Retro­spek­tive bil­det, in guter Dra­ma­tur­gie, eine Kam­mer im Halb­dun­kel, die den Beob­ach­ter als Beob­ach­tungs­ob­jekt der Staats­si­cher­heit zeigt: Aus­züge aus Haus­walds Stasi-Akte, bis zu 40 offi­zi­elle und inof­fi­zi­elle Mit­ar­bei­ter lie­fer­ten Tau­sende von Noti­zen über Haus­walds all­täg­li­ches Leben. Lächer­lich in peni­bler Belang­lo­sig­keit – „2 Minu­ten beim Bäcker“ –, bedrü­ckend im Bewusst­sein per­ma­nen­ter Über­wa­chung, empö­rend in den Drang­sa­lie­run­gen: vom Ver­öf­fent­li­chungs­ver­bot bis zur zeit­wei­li­gen Weg­nahme sei­ner Toch­ter im Kindesalter.

Die Kennt­nis die­ser Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen ver­stärkt die Wir­kung der Fotos, die Haus­wald unbe­irrt gemacht und über kon­spi­ra­tive Wege an die Öffent­lich­keit gebracht hat. Die Aus­stel­lung wie auch die Doku­men­ta­tion im Foto­band sind keine „Das-war’s-Retrospektive“, kein Nach­ruf zu Lebzeiten.

Wer, 30 Jahre nach dem for­ma­len Ende der DDR, wis­sen will, wo wir heute ste­hen und warum die Ver­hält­nisse so sind, wie sie sind, kommt um diese Aus­stel­lung nicht herum. Und auch nicht um das Buch, das weit mehr ist als ein beglei­ten­der Kata­log. Alle 250 Fotos sind in her­vor­ra­gen­der Qua­li­tät repro­du­ziert. Aus­züge aus Haus­walds Stasi-Akte und eine detail­lierte Bio­gra­fie brin­gen das Werk des Foto­gra­fen und seine his­to­ri­schen Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen in einer Mono­gra­fie sel­ten erleb­ter Güte zusam­men. Dem Göt­tin­ger Steidl-Ver­lag ist ein inhalt­lich und hand­werk­lich gro­ßes Buch gelungen.

Zum Schluss noch ein pas­sen­der Nach­trag: Das C/O Ber­lin resi­diert im ehe­ma­li­gen Ame­ri­ka­haus am Bahn­hof Zoo. Dies war, zu den Zei­ten, als die Fotos ent­stan­den, für die DDR-Füh­rung eine kul­tu­relle Bas­tion des impe­ria­lis­ti­schen Klas­sen­fein­des. An die­sem Ort wird jetzt ein Mann gefei­ert, des­sen Fotos auch ästhe­ti­sche Doku­ment eines geschei­ter­ten Sys­tems sind. Das gehört zur sub­ver­si­ven Iro­nie von Geschichte, für die Harald Haus­wald ein fei­nes Gespür hat.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 10/2020.

Von |2020-10-26T15:26:19+01:00Oktober 6th, 2020|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Der Foto­graf Harald Haus­wald als Chro­nist und Künstler

Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.