Das Entsetzen über den Holocaust mit den unfassbaren Zahlen von über sechs Millionen ermordeten europäischen Juden war so erdrückend, dass es lange Zeit den Blick auf das Schicksal der Emigranten verstellt hat. Im Jahr 1933 gab es etwa 500.000 Juden in Deutschland. Das entsprach ungefähr einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Trotz der antijüdischen Politik war zunächst nur eine Minderheit bereit, Deutschland zu verlassen. Am Ende war ungefähr die Hälfte von ihnen emigriert – in eine ungewisse Zukunft.
Ein Großteil der Emigranten waren Vertreter der Wissenschaft, der Künste, der Literatur, des Theaters. Es war ein tiefer Einschnitt für die Vertriebenen, die aus ihrem jeweiligen Lebenszusammenhang und Schaffensprozess herausgerissen wurden und eine Katastrophe für Deutschland, das unwiederbringlich eine große geistige Substanz verlor. Einigen gelang es, ihre Entwicklung erfolgreich fortzusetzen, sie konnten in der neuen Heimat produktiv wirken, andere konnten nicht wieder Fuß fassen. Es lohnt sich, den Einzelschicksalen nachzuspüren, um dem namenlosen Schicksal Gesichter zu geben und auch wirksam gebliebene deutsch-jüdische Beziehungen zu erkennen.
Eine faszinierende Geschichte betrifft in diesem Zusammenhang die Entstehung der hebräischen Schriften, des Grafikdesigns und der Buchgestaltung des 1948 gegründeten Staates Israel. Die intensiven Forschungen des Israel Museums Jerusalem und des Literaturarchivs Marbach konnten belegen, dass insbesondere drei Schriftkünstler, die wegen der nationalsozialistischen Machtergreifung Deutschland verlassen mussten und in Palästina eine neue Heimat fanden, als Pioniere einer neuen Formensprache Israels für Schrifttypen, Embleme und Buchgestaltung gelten
können: Francisca Baruch, Henri Friedlaender und Moshe Spitzer. Alle drei hatten ihr Handwerk in Deutschland, bevorzugt in Leipzig und Berlin, gelernt. Sie waren unter dem Einfluss von Expressionismus und Bauhaus damals auf der Suche nach zeitgemäßen Schrifttypen für das moderne Hebräisch, dessen Drucklettern sich letztlich noch immer an den mittelalterlichen Handschriften Europas orientierten. Seit den frühen Drucken des späten 15. Jahrhunderts hatten sich die Formen der hebräischen Lettern kaum verändert, und die meisten Druckschriften ahmten kalligrafische Texte nach. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland zu einem Zentrum moderner hebräischer und jiddischer Kultur und Verlagstätigkeit in Europa. In Leipzig und Berlin entstanden Verlage und Zeitschriften, die Literatur, wissenschaftliche Arbeiten, Editionen alter jüdischer Texte und zeitgenössischer Literatur in deutscher, hebräischer und jiddischer Sprache publizierten.
Francisca Baruch, in Hamburg geboren, in Berlin aufgewachsen, arbeitete mit der hebräischen Kulturszene eng zusammen, bis sie 1933 nach Palästina emigrierte. Für die Tageszeitung Ha’aretz gestaltete sie 1936 den Titelschriftzug, der bis heute genutzt wird. Im Auftrag des Verlegers Salman Schocken entwarf sie die viel genutzte Schrifttype „Schocken“. 1948 wurde eine Reihe von offiziellen Insignien des Staates Israel entworfen, das Emblem der Stadt Jerusalem, Banknoten usw. Ihre Schrifttype „Stam“ findet noch immer auf dem offiziellen Briefpapier des Staates Israel Verwendung. Buchgestalterische Arbeiten für die großen Verlage runden das Bild ab.
Henri Friedlaender, in Berlin aufgewachsen, absolvierte seine Ausbildung in Leipzig an der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe und arbeitete ab 1929 als Gestalter für die Leipziger Offizin Haag-Drugulin. Wegen der judenfeindlichen politischen Entwicklung in Deutschland floh er in die Niederlande und arbeitete dort erfolgreich als Buchgestalter. Ab 1942 musste er sich wegen der deutschen Besatzung versteckt halten. 1950 zog er mit seiner Familie nach Jerusalem. Er wurde als Leiter der Druckereischule in Jerusalem zu einem einflussreichen Lehrer für die
jungen Schrift- und Buchgestalter. Sein großer Erfolg wurde die moderne hebräische Schrifttype „Hadassah“, die das Schriftbild in Israel deutlich prägt.
Moshe Spitzer, geboren in Boskowitz im heutigen Tschechien, wuchs in einer traditionell geprägten jüdischen Familie auf. Er ist ab 1932 zunächst als Sekretär von Martin Buber tätig, Typografie und Buchgestaltung sind seine Passion. Von 1933 bis 1938 gestaltete er die „SchockenBücherei“, eine Zusammenstellung der besten hebräischen und jiddischen Texte. 1939 gelang ihm die Flucht nach Palästina. Er begann in Jerusalem mit einer eigenen Schriftsetzerei und Schriftgießerei und gründete den Verlag Tarshish. Auch er entwickelte neue Schrifttypen, die breite Anwendung fanden.
Als das Israel Museum die gestalterische Arbeit der drei Grafikgestalter in einer eigenen Ausstellung anlässlich der Feierlichkeiten zu „50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen“ 2015 präsentierte und die vielfältigen Beziehungen zwischen modernem hebräischen und deutschen Schrift- und Buchdesign vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen Geschichte vermittelte, war es ein sensationeller Erfolg, der eine entstandene Lücke der gemeinsamen Erinnerung schloss. Die Kuratorin Ada Wardi bereitete die Ausstellung später auch für das Druckkunstmuseum in Leipzig 2017 auf.
Israel feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen, ein guter Zeitpunkt, sich an diese Beziehungen zu erinnern. Es ist ein schwieriges Jahr für das Land. Die Sorge um die demokratische Verfassung führt inzwischen zu landesweiten Protesten. Israelfahnen und zahlreiche Protesttafeln vermitteln die gemeinsamen Überzeugungen. Die Schrifttypen auf den Postern und Tafeln entstammen zu großen Teilen dem Lebenswerk dieser Schriftkünstler. Die Schriften haben inzwischen eine elektronische Transformation erfahren und prägen nach wie vor wesentlich das Schriftbild in den verschiedenen Anwendungsbereichen.
Dieser Test ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.