Vor genau 50 Jahren, im August 1973, begann ein Streik der „Gastarbeiter“ bei Ford in Köln. Wie kam es dazu? Eine linke, IG-Metall-skeptische Betriebsgruppe hatte damals eine Antwort: „Auslösendes Moment des Streiks“, schrieb man, „waren türkische Kollegen in der Y-Halle. Ein Türke, der seit Jahren an diesem Bandabschnitt und von seinen Kollegen recht isoliert und als Kommunist verschrien war, sollte zu Beginn der Spätschicht eine zusätzliche Operation übernehmen. Er reagierte, wie schon viele Kollegen in dieser Woche reagiert hatten. Er motzte und schrie rum: ‚Kollegen, wie lange wollen wir uns das noch gefallen lassen? Wann tun wir endlich was gegen diese Schweinerei?‘ Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die ganze Y-Halle streikte. Die Kollegen zogen durch die Y-Halle und formierten einen Streikzug, der (dann) durch das ganze Werk (demonstrierte) und die Spätschicht zum Streik mobilisierte.“
Wir wissen, dass die Y-Halle die Endmontage bei Ford war, mit einer physisch sehr belastenden Überkopfarbeit und psychisch anspruchsvollen Bandgeschwindigkeit. Forderungen nach Entlastung, nach Bandpausen und technischen Veränderungen gab es schon lange. Dass es aber zur Arbeitsniederlegung kam, war der Tatsache zu verdanken, dass der Betrieb Hunderte von Migrantinnen und Migranten entließ und für den Rest die Schraube noch weiter anzog. Dennoch werden in dem Zitat viele Kontexte nicht thematisiert, die man auch kennen muss, um den Streik zu verstehen: Die soziale und rechtliche Benachteiligung, die „Gastarbeiter“ in der damaligen bundesdeutschen Gesellschaft erfuhren, die einsetzende globale Rezession dieser Zeit, die später dann als „Ölkrise“ bezeichnet wurde und die im Management in der Autoindustrie damals schon antizipiert wurde und eine restriktive Arbeitspolitik auslöste. Und anderes mehr.
Dennoch – ein wichtiges Moment der Streikkultur ist, wie das Beispiel gut zeigt, die explosive Verbindung zwischen Alltagsrealität und Arbeitsveränderungen. Dabei erscheinen Arbeitskämpfe oft als „spontan“, aber können dennoch als Massenphänomen gesehen werden. Es ist eine Art überall notwendig auftretende Spontaneität: In meinem Buch „Wilde Streiks im Wirtschaftswunder“ (2007) habe ich die Spuren dieser Melange für einen längeren Zeitraum und auf transnationalem Niveau nachgezeichnet. Auch in der Y-Halle ergriff man im Nachahmen ganz ähnlicher zeitgenössischer Aktionen in anderen Betrieben plötzlich aufscheinende Möglichkeiten, es kam zum Sprung vom individuellen Ärger in das gemeinsame Handeln, und dabei offenbar auch zu einer überraschenden Umwertung von Eigenschaften, die zuvor als unziemlich oder wertlos galten. Trotz des Zufälligen, das hier geschildert wird, hat insofern die anfangs eingeführte Szene sowohl etwas Performatives als auch etwas von einem sich wiederholenden Ritual.
Sie kann deshalb in der Tat, abgesehen von allen Besonderheiten – „Gastarbeit“ bei Ford in Köln-Niehl im Jahre 1973 usw. –, als eine Art Archetyp des Streiks gelten. Sie spiegelt sich in vielen ähnlichen Szenen über viele Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte. Und sie wird in zahlreichen Dokumenten und vielen künstlerischen Arbeiten immer wieder gezeigt: So bei Robert Koehler, 1886, „Der Streik“ – ein Gemälde, das die unterschiedlichen sozialen Rollen zeigt, die in einem Arbeitskampf eingeübt und ausgeführt werden. Oder, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, das Bild des Sitzstreiks, das Sheldon Dick Mitte der 1930er Jahre bei einer Aktion der „United Automobile Workers“ in der Automobilfabrik von Ford in Flint im US-Bundesstaat Michigan aufgenommen hat: Auch dies war ein Aspekt des Streiks von 1973 – die Arbeiter verlassen die Fabrik nicht, sondern bleiben einfach zwischen den Bändern und den halb fertigen Produkten sitzen. Sie eignen sich das Werk vermittels des Stillstands an.
Der Streik, so könnte man aus jenen beiden Bildern sozialwissenschaftlich definierend schließen, verbindet das Innen der Produktionsstätte mit ihrem Äußeren, den diskreten Raum der Produktion mit dem öffentlichen Raum. Er enthält, wie etwa Harun Farockis Dokumentarfilm unter dem Titel „Arbeiter verlassen die Fabrik“ (1995) klug nachzeichnete, auch ein Moment der Befreiung: Indem man alltägliche Zumutungen thematisiert, verweist man auch auf den Wunsch nach anderen, besseren Arbeits- und Lebensbedingungen. Indem man die Fabrik verlässt, bezieht man sich konkret auf jenen Anspruch. Der politische Charakter der Wünsche nach einer weniger belastenden und stärker anerkannten Arbeit, fällt dabei den Akteurinnen und Akteuren meist zu – Politik im Streik entsteht insofern eher „unversehens“ als geplant. Der Agitator, in Koehlers Bild im roten Dress an der Spitze der Bewegung, oder, wie man heute vielleicht sagen würde, der Organizer, nimmt dieses „Unversehene“ auf und verwandelt es in etwas Anderes, möglicherweise auch politisch Erweitertes. Aber ob jenes Andere in der Werkstatt der Wünsche mitgetragen wird, ist eine andere, zweite Frage.
All diese Momente der Streikkultur fallen jedoch aus dem Blick, wenn man diesen lediglich auf die legalen Arbeitskämpfe bezieht. Das gilt besonders für die Situation in Deutschland. Denn unser Grundgesetz legt lediglich das Recht auf Koalitionsfreiheit fest. Wie diese wahrgenommen wird, einschließlich des Arbeitskampfrechts, hat keinen Ort in der Verfassung. Das Streikrecht speziell, obgleich seit den 1950er Jahren als Richterrecht durchaus wandelbar und flexibel, kennt einige Grundpfeiler, die es im internationalen Vergleich sehr restriktiv macht: Es herrscht, solange ein Tarifvertag existiert, ein Streikverbot. Gewerkschaften haben ein Streikmonopol, d. h. sie dürfen letztlich über Ziele und Formen von Arbeitskämpfen bestimmen, aber dies nur im Rahmen einer „Sozialadäquanz“, d. h. die Ziele, die ein Ausstand hat, müssen „tarifierbar“, durch Tarifverträge regelbar sein. Ein individuelles Streikrecht im Sinne eines Verweigerungsrechts bei gesundheitsschädlichen oder sonst abzulehnenden Tätigkeiten existiert, anders als z. B. in Frankreich, in Deutschland nicht. Konsequenz: Ein spontaner Streik wie jener bei Ford in Köln im August 1973 konnte durch den Arbeitgeber durch Entlassungen und Schadensersatzforderungen beantwortet werden. Was bedeutet das für den Streit um Arbeitsbedingungen? Kaum, dass er dadurch nicht stattfindet. Viele Arbeiten soziologischer Forschung haben zuletzt gezeigt, dass die Konflikte am Arbeitsplatz eher zunehmen. Aber es werden zugleich zwei Welten konstituiert: In Deutschland steht schon seit vielen Jahrzehnten die Welt der lokalen, betrieblichen Arbeitskonflikte jener der legalen, „offiziellen“ Arbeitskämpfe gegenüber, und es ist für Gewerkschaften (aber auch für Unternehmen) oft schwierig, eine Verbindung zwischen beiden Ebenen herzustellen.
Gleichzeitig befindet sich die Streikkultur heute in einem massiven Wandungsprozess: Vergliche man ein „typisches“ Bild von – legal, tariflich – Streikenden aus dem Jahr 1973 und von heute, dann wäre der Anteil von Menschen, die in sozialen Dienstleistungen arbeiten, sehr viel höher: In der Tat war der Streik – anders als übrigens in Koehlers erwähntem Bild gezeichnet – niemals eine reine „Männersache“. Und in den letzten Jahren ist das sehr deutlich geworden – von den großen Arbeitskämpfen im Sozial- und Erziehungsdienst 2009 und 2015 bis hin zu den Bewegungen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege, wie sie in den Streiks an der Charité und bei Vivantes in Berlin oder in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern in den vergangenen Jahren zum Ausdruck kamen.
Die neuen Arbeitskämpfe, die mit der Veränderung des Charakters sozialer Dienstleistungen und Infrastrukturen und insbesondere mit ihrer privaten ökonomischen Kontrolle und Ausrichtung zu tun haben, lassen vermuten, dass der Streit um Arbeit aktuell nach und nach das Korsett sprengt, das in der Phase der staatlichen Eindämmung und Regulierung der Arbeitskämpfe seit den 1950ern angelegt wurde. Obwohl die Statistik, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes regelmäßig erstellt, erst im Frühjahr 2024 erscheinen wird – es gehört keinerlei prophetische Gabe dazu, wenn man voraussagt, dass 2023 sicherlich als „Streikjahr“ in die Geschichte eingeht – von der Metall- und Elektroindustrie im Frühjahr, über den Streik bei der Post und im öffentlichen Dienst des Bundes und der Länder im Sommer –, es wird kaum ein Jahr mit so vielen Teilnehmenden gegeben haben wie dieses. Es scheint sogar fast so, als ob der Unmut über erschwerte Arbeitsbedingungen, unter anderem in der Pandemie, die Lohnentwicklung in der Inflation, die mangelnde Wertschätzung, die viele Streikende empfinden, sich kaum anders Ausdruck verleihen können.
Auch insofern sollte der Streik als moderne Form der Artikulation von Unzufriedenheit und Veränderungswillen ernst genommen werden. Der Streik verleiht dem Streit am Arbeitsplatz Ausdruck. Er ist, gut verstanden, ein wertvoller Indikator für Veränderungs- und Demokratisierungswünsche. Und er kann vielleicht ein Kontrastmittel sein, das gegenüber den Vorstellungen von einer an Politik uninteressierten Arbeiterschaft, die für die Ziele der Rechtspopulisten anfällig sei, in Anschlag gebracht werden: Streiks zeigen, dass sich dahinter eine viel komplexere Situation verbirgt, die begriffen werden muss, auch und gerade, wenn man jene „Politikverdrossenheit“ ernsthaft bekämpfen möchte.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.