Friede auf Erden?

Das Weih­nachts­fest steht vor der Tür

Das Weih­nachts­fest im ver­gan­ge­nen Jahr fand ich ziem­lich schreck­lich. Eine bedroh­li­che Pan­de­mie­lage, noch kein Impf­stoff, dafür unklare Signale von der Regie­rung, Auf­re­gun­gen in den meis­ten Medien und Empö­rung auf aller­lei Kanä­len – das führte dazu, dass das Fest der Liebe in vie­len Fami­lien und Freun­des­krei­sen zu erbit­ter­ten Strei­te­reien führte. Zusam­men­kom­men oder nicht, gemein­sam essen oder nur spa­zie­ren gehen, fei­ern oder fas­ten, vor­her tes­ten oder lie­ber nicht – es war ein Graus. In den Kir­chen­ge­mein­den konnte es nicht anders sein: Got­tes­dienste waren erlaubt, viele Men­schen, dar­un­ter viele Ehren­amt­li­che, hat­ten sich inten­siv Gedan­ken dar­über gemacht, wie es denn gehen könnte, dann kippte die Stim­mung, öffent­li­cher Druck baute sich auf, vie­ler­orts wurde alles wie­der abge­sagt, zurück blie­ben frus­trierte, zer­strit­tene Kir­chen­vor­stände. Wie man es gemacht hatte, hatte man es falsch gemacht. Friede auf Erden?

Auch ich brauchte einige Zeit, um mich von mei­nen weih­nacht­li­chen Diens­ten zu erho­len. In mei­ner ers­ten Gemeinde hatte ich zwei Nach­mit­tags­got­tes­dienste über­nom­men. Der Kol­lege wollte Hei­lig­abend groß unter freiem Him­mel fei­ern, da sollte ich für die Älte­ren und Sitz­be­dürf­ti­gen in der Kir­che da sein. Dar­auf hatte ich mich gefreut. Auch hier hat­ten Ehren­amt­li­che alles lie­be­voll und ver­ant­wor­tungs­be­wusst vor­be­rei­tet. Aber das all­ge­meine Hin und Her, Erre­gun­gen in den Medien und Strei­tig­kei­ten in den Fami­lien führ­ten dazu, dass die meis­ten der Ange­mel­de­ten zu Hause blie­ben und jeweils nur ein gutes Dut­zend Men­schen kam. Es wäre sehr trübe und leicht absurd gewor­den, wenn beim ers­ten Got­tes­dienst nicht ein alter, lang ver­miss­ter Bekann­ter gekom­men wäre und beim zwei­ten eine ehe­ma­lige Kon­fir­man­din, die lange einen Kin­der­wunsch in sich getra­gen hatte, mir jetzt aber freu­dig ihre weit fort­ge­schrit­tene Schwan­ger­schaft vorstellte.

Kir­chen­pro­bleme, könnte man den­ken. Aber dann hätte man die Bedeu­tung die­ses Fes­tes für die gesamte Gesell­schaft aus­ge­blen­det. Ich zögere, Weih­nach­ten nun gleich als kul­tur­po­li­ti­sche Ange­le­gen­heit zu bezeich­nen. Doch in diese Rich­tung geht es schon. Denn an sei­nen Fes­ten erkennt man, wie es um ein Land bestellt ist. Und Weih­nach­ten ist immer noch und bis auf Wei­te­res das zen­trale Fest in Deutsch­land. Es gibt kei­nen ande­ren Ritus, der in ver­gleich­ba­rer Weise die Ein­woh­ner aus­rich­tet und beschäf­tigt, mit Freude oder Sorge erfüllt – gleich­gül­tig, wie es um den je indi­vi­du­el­len Glau­bens­haus­halt kon­kret bestellt sein mag. Nichts ver­bin­det so inten­siv so unter­schied­li­che Lebens­be­rei­che: Reli­gion und Wirt­schaft, Kunst und Kul­tur, das Soziale und das Pri­vate. So etwas fällt nicht ein­fach aus, ohne dass dies erheb­li­chen Scha­den anrichtete.

Nun gebe ich gerade ein Semi­nar an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin über Weih­nach­ten. Mit den Stu­die­ren­den habe ich das Grün­dungs­ma­ni­fest die­ses Fests gele­sen: „Die Weih­nachts­feier“ von Fried­rich Schlei­er­ma­cher, einen roman­ti­schen Dia­log, geschrie­ben im Jahr 1805. Denn Weih­nach­ten, wie wir es ken­nen, ist eine Schöp­fung des modern-bür­ger­li­chen Chris­ten­tums. Dabei sollte man „bür­ger­lich“ nicht als Schimpf­wort hören. Denn bür­ger­lich ist Weih­nach­ten, weil es das reli­giöse Fest von der Kir­che in das eigene Zuhause bringt, wo Fami­lie und Freunde die Regie über­neh­men. Ein­gän­gi­ger und wir­kungs­vol­ler als Schlei­er­ma­cher hat Charles Dickens das modern-bür­ger­li­che Weih­nachts­chris­ten­tum geprägt, mit sei­nem „Christ­mas Carol“ von 1843. Ein harm­los-bour­geoi­ses Lied­chen ist es nicht, son­dern besitzt eine erstaun­li­che poli­ti­sche Schärfe. Hoch enga­giert ver­folgt es eine soziale Agenda und for­mu­liert eine unbe­stech­li­che Kri­tik einer Ideo­lo­gie, die noch heute mäch­tig ist.

Denn Ebe­ne­zer Scr­ooge, der berühm­teste aller Weih­nachts­feinde, ist Ver­tre­ter einer Welt­an­schau­ung: des blan­ken Empi­ris­mus. Ihm gel­ten nur Fak­ten, Daten und Zah­len etwas. Für ihn besitzt allein das einen Wert, was sich als Geld­wert bezif­fern lässt. Seine Ideo­lo­gie ist der men­tale Motor eines Fort­schritts, der einige sehr reich macht, viele andere ins Elend stößt. Sie hat aber darin etwas Tra­gi­sches an sich, dass sie sogar die­je­ni­gen, die von ihr pro­fi­tie­ren, in eine elen­dige Ein­sam­keit stößt.

Doch der Geist von Weih­nach­ten ist so groß und herr­lich, dass er sogar
Scr­ooge zum Guten zu bekeh­ren ver­mag. Diese Geschichte ken­nen die meis­ten. Wer sie ver­ges­sen hat, lese sie nach oder schaue sich eine der fil­mi­schen Adap­tio­nen an, am bes­ten die mit den Mup­pets: Aus einer bös­ar­ti­gen Geld­zähl­ma­schine wird wie­der ein Mensch, ein Rei­cher wird von sei­ner Ein­sam­keit erlöst, und am Ende ist es ein armes, kran­kes Kind, das die Bot­schaft des Fes­tes offen­bart: „Gott segne jeden von uns“.

Ob es in die­sem Jahr ein schö­ne­res, fried­li­che­res, gemein­schaft­li­che­res Weih­nach­ten für uns geben wird? Es sieht gar nicht danach aus. Umso mehr wün­sche ich Ihnen und Ihren Lie­ben: Frohe und geseg­nete Weihnachten!

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2021-01/2022.

Von |2021-12-14T15:58:02+01:00Dezember 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Friede auf Erden?

Das Weih­nachts­fest steht vor der Tür

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.