„Dr. Josef Schus­ters hei­lende Kraft im Her­zen der deut­schen Demokratie“

Lau­da­tio auf Josef Schus­ter zur Ver­lei­hung des Deut­schen Kulturpolitikpreises 

Die Früchte jüdi­schen Wir­kens in unse­rer Gesell­schaft dürf­ten wohl nur wenige so gut über­bli­cken wie Sie, der Sie als Prä­si­dent des Zen­tral­rats der Juden mehr als 100 jüdi­sche Gemein­den mit ins­ge­samt knapp 100.000 Mit­glie­dern reprä­sen­tie­ren. Und doch ver­mute ich, dass Sie sich bis­her noch nicht näher mit der sehr spe­zi­el­len Frage nach der Bedeu­tung jüdi­scher Ärzte für das kul­tu­relle Leben befasst haben. Dass die­ser Aspekt selbst in der medi­zin­his­to­ri­schen For­schung lange unter­be­lich­tet war, ent­nehme ich dem Buch „Der jüdi­sche Arzt in Kunst und Kul­tur“, das 2012 im Rah­men der Reihe „Medi­zin und Juden­tum“ erschie­nen ist. Ver­schie­dene Autorin­nen und Autoren gehen darin unter ande­rem der Frage nach, wel­chen Ein­fluss jüdi­sche Ärzte auf Kunst und Kul­tur im wei­tes­ten Sinne hat­ten. The­men sind bei­spiels­weise „Jüdi­sche Medi­zi­ner als Kul­tur­po­li­ti­ker, Kunst­samm­ler und Bücher­freunde“, „Der Der­ma­to­loge Albert Neis­ser – Kunst­samm­ler und Mäzen in Bres­lau“ oder auch „Oph­tal­mo­lo­gie und Oli­ven­bäume. Der Augen­arzt Abra­ham und die Male­rin Anna Ticho – Israe­li­sche Pio­niere in Medi­zin, Kunst und Mäzenatentum“.

Sollte jemals eine Neu­auf­lage die­ses Ban­des über den jüdi­schen Arzt in Kunst und Kul­tur geplant sein, wäre ich gerne als Gast­au­torin dabei – und zwar mit dem Titel: „Kul­tur­po­li­tik als Draht­seil­akt: Dr. Josef Schus­ters hei­lende Kraft im Her­zen der deut­schen Demokratie“.

Zwar sind Sie kein Kar­dio­loge, lie­ber Herr Schus­ter, zwar haben Sie sich in Ihrer inter­nis­ti­schen Pra­xis mehr mit Magen und Darm als mit dem Her­zen beschäf­tigt. Doch im Her­zen der Demo­kra­tie – im demo­kra­ti­schen Dis­kurs, in der Kon­fron­ta­tion zwi­schen unter­schied­li­chen Lebens­wei­sen und Welt­an­schau­un­gen – ent­fal­tet Ihr Enga­ge­ment wohl­tu­ende, ja hei­lende Kräfte.

Hei­lende Kräfte, damit meine ich z. B., dass Sie dem Gift des Anti­se­mi­tis­mus die Medi­zin der Auf­klä­rung ent­ge­gen­set­zen: im Kul­tur- und Bil­dungs­an­ge­bot des Zen­tral­rats, aber auch in Ihren Reden und Gast­bei­trä­gen, bei öffent­li­chen Auf­trit­ten, als „eine der ganz wich­ti­gen Stim­men unse­res Lan­des“, wie es in der Begrün­dung für den Ver­dienst­or­den der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land heißt, mit dem Sie mor­gen vom Bun­des­prä­si­den­ten aus­ge­zeich­net werden.

Hei­lende Kräfte, damit meine ich auch: Sie ach­ten auf ein gesun­des gesell­schaft­li­ches Klima, in dem Sie inner­halb der jüdi­schen Gemein­schaft zwi­schen den unter­schied­li­chen Inter­es­sen und reli­giö­sen Strö­mun­gen ver­mit­teln und den Dia­log mit ande­ren gesell­schaft­li­chen Grup­pen suchen. Heil­sam ist auch, dass Sie Jüdin­nen und Juden aus dem engen Kor­sett der von Ihnen immer wie­der kri­ti­sier­ten „Opfer­rolle“ befreien, indem Sie sie etwa im erfolg­rei­chen Begeg­nungs­pro­jekt „Meet a Jew“ mit eige­ner, indi­vi­du­el­ler Iden­ti­tät und Geschichte sicht­bar machen. Oder indem Sie ein selbst­be­wuss­tes, lebens­fro­hes Juden­tum zele­brie­ren, etwa mit der Jew­ro­vi­sion, dem vom Zen­tral­rat aus­ge­rich­te­ten Musik- und Tanz­wett­be­werb für jüdi­sche Jugendliche.

Hei­lende Kräfte ent­fal­tet nicht zuletzt das von Ihnen mit initi­ierte Fest­jahr „1.700 Jahre jüdi­sches Leben in Deutsch­land“. Es stärkt gewis­ser­ma­ßen die gesell­schaft­li­chen Abwehr­kräfte gegen Anti­se­mi­tis­mus, in dem es jüdi­sches Leben als inspi­rie­ren­den Teil deut­scher Geschichte und Gegen­wart zeigt und den beacht­li­chen Bei­trag des Juden­tums zum kul­tu­rel­len Reich­tum, zu Fort­schritt und Ent­wick­lung unse­res Lan­des offen­bart – sei es in Wis­sen­schaft oder Wirt­schaft, Phi­lo­so­phie oder Phy­sik, Male­rei oder Musik.

Mit die­sem, Ihrem uner­müd­li­chen, ehren­amt­li­chen Enga­ge­ment, das Sie schon in jun­gen Jah­ren begon­nen haben, und das Sie in die Prä­si­dien des Zen­tral­rats der Juden in Deutsch­land, des Euro­päi­schen Jüdi­schen Kon­gres­ses und des Jüdi­schen Welt­kon­gres­ses geführt hat, leis­ten Sie einen wesent­li­chen Bei­trag zur inter­kul­tu­rel­len und inter­re­li­giö­sen Ver­stän­di­gung und zum gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt in demo­kra­ti­scher Vielfalt.

Ein wah­rer Draht­seil­künst­ler sind Sie dabei, weil Sie Stand­fes­tig­keit und Tritt­si­cher­heit brau­chen, um im Wech­sel zwi­schen der ener­gisch geball­ten Faust im Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus und der aus­ge­streck­ten Hand im inter­kul­tu­rel­len Dia­log das Gleich­ge­wicht zu hal­ten. So schaf­fen Sie es, nicht nur als War­ner und Mah­ner Gehör zu fin­den, son­dern auch als Vor­den­ker und Gestal­ter – z. B. mit den 15 The­sen zum Zusam­men­halt in Viel­falt der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion des Deut­schen Kul­tur­ra­tes, an deren Erar­bei­tung Sie maß­geb­lich betei­ligt waren.

Ein wah­rer Draht­seil­künst­ler sind Sie aber auch des­halb, weil Sie sich von der erschüt­tern­den All­ge­gen­wart anti­se­mi­ti­scher Aus­gren­zung und Gewalt nicht aus dem Gleich­ge­wicht brin­gen las­sen. Selbst ange­sichts furcht­ba­rer Anschläge ruhig und beson­nen zu blei­ben, dif­fe­ren­ziert statt pau­schal zu urtei­len, sich von Argu­men­ten statt Emo­tio­nen lei­ten zu las­sen – all das erfor­dert die auf­rechte Hal­tung eines lei­den­schaft­li­chen Demo­kra­ten. Dabei kommt Ihnen sicher­lich nicht nur die Ihnen eigene, ruhige Beson­nen­heit zugute, mit der Sie im regel­mä­ßi­gen Not­arzt­dienst Men­schen­le­ben ret­ten, son­dern auch die Her­zens­bil­dung, die Sie in Ihrer Kind­heit und Jugend erfah­ren haben. Ihre Eltern haben Sie im Geiste der Ver­stän­di­gung und der Ver­söh­nung erzo­gen – und das, obwohl die Eltern Ihrer Mut­ter in Ausch­witz ermor­det wur­den und Ihr Vater in Dachau und Buchen­wald inhaf­tiert war, bevor er nach Haifa, Ihre spä­tere Geburts­stadt, emi­grie­ren musste.

Dabei haben Sie von frü­her Kind­heit an erlebt, wie Ihr Vater nach der Rück­kehr in die Hei­mat­stadt Würz­burg mit aller Kraft am Wie­der­auf­bau jüdi­schen Lebens mit­ge­wirkt hat. Beein­dru­ckend finde ich auch, dass Ihr Vater Ihnen vor­lebte, prag­ma­tisch nach vorne zu schauen statt unver­söhn­lich zurück: Z. B. als er Sie für den Füh­rer­schein zu einem Fahr­leh­rer schickte, der Ihrer Fami­lie gestand, dass er bei der SS gewe­sen sei und es bereue. „Ich bin mit die­ser Art Tole­ranz und Unvor­ein­ge­nom­men­heit auf­ge­wach­sen“, haben Sie dazu ein­mal gesagt.

Mit eben „die­ser Art Tole­ranz und Unvor­ein­ge­nom­men­heit“ enga­gie­ren Sie sich für den Schutz auch ande­rer gesell­schaft­li­cher Min­der­hei­ten – ich nenne hier nur das Pro­jekt „Schul­ter an Schul­ter“, das Bei­stand für Opfer ras­sis­ti­scher Angriffe orga­ni­siert. Auch damit ent­fal­tet Ihr Enga­ge­ment als Prä­si­dent des Zen­tral­rats der Juden in Deutsch­land heil­same Kraft für Ver­stän­di­gung und Ver­söh­nung, für Soli­da­ri­tät und Zusam­men­halt in unse­rer Demokratie.

Weil nur eine wehr­hafte Demo­kra­tie eine starke Demo­kra­tie ist, will ich zum Schluss doch noch ein wenig näher auf Ihren Bei­trag zur Auf­ar­bei­tung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur ein­ge­hen – auch wenn Sie zu Recht immer wie­der dar­auf hin­wei­sen, dass die öffent­li­che Auf­merk­sam­keit für das Juden­tum sich zu ein­sei­tig auf den Holo­caust und die Dar­stel­lung jüdi­scher Geschichte sich zu sehr auf die „Opfer­rolle“ konzentriert.

Ich bin sehr dank­bar, Sie und den Zen­tral­rat der Juden im Rin­gen um Auf­ar­bei­tung der prä­ze­denz­lo­sen Ver­bre­chen der Natio­nal­so­zia­lis­ten an unse­rer Seite zu wis­sen – ins­be­son­dere auch in den Gre­mien zahl­rei­cher, vom Bun­des­kul­tur­res­sort insti­tu­tio­nell geför­der­ter Gedenk­ein­rich­tun­gen. Denn ich bin über­zeugt: Wer ein­mal ver­stan­den hat, wie aus gewöhn­li­chen Men­schen fana­ti­sche Voll­stre­cker einer mör­de­ri­schen Ideo­lo­gie wur­den, wird nicht mehr so ein­fach weg­hö­ren und weg­schauen kön­nen, wenn anti­se­mi­ti­sches, ras­sis­ti­sches und dis­kri­mi­nie­ren­des Reden und Han­deln Anklang und Bei­fall fin­den. Denn eben damit begann einst der unheil­volle Weg, der in den Zivi­li­sa­ti­ons­bruch der Shoah geführt hat.

In die­sem Sinne stärkt Ihr Ein­tre­ten für Auf­ar­bei­tung die Wehr­haf­tig­keit unse­rer Demo­kra­tie, und ich bin sicher: Auch Ihr vehe­men­tes War­nen vor jener Par­tei, die die Gräu­el­ta­ten der Natio­nal­so­zia­lis­ten ver­harm­lost und unter dem Vor­wand, jüdi­sches Leben schüt­zen zu wol­len, ras­sis­ti­sche und anti­mus­li­mi­sche Hetze betreibt, rüt­telt Men­schen wach – genauso wie Ihre kla­ren Worte gegen die BDS-Bewe­gung und Ihre Kri­tik an der Instru­men­ta­li­sie­rung der Opfer der Shoah und der Baga­tel­li­sie­rung ihres Leids im Zusam­men­hang mit der Coronapandemie.

„Ich wün­sche mir Nor­ma­li­tät für die jüdi­schen Gemein­den in Deutsch­land“, so haben Sie, lie­ber Herr Schus­ter, Ihr Anlie­gen ein­mal for­mu­liert – ein beschei­de­ner Wunsch, und doch ein gro­ßes Ziel. Ange­sichts der beschä­men­den Tat­sa­che, dass Anti­se­mi­tis­mus unter­schied­li­cher Cou­leur heute wie­der auf dem Vor­marsch ist, mag Ihnen Ihr Enga­ge­ment für ein demo­kra­ti­sches Deutsch­land, in dem Jüdin­nen und Juden ihre Kul­tur, ihren Glau­ben offen leben kön­nen, manch­mal nicht nur wie eine Her­ku­les-Auf­gabe, son­dern viel­leicht gar wie eine Sisy­phus-Auf­gabe vor­kom­men. Umso bemer­kens­wer­ter ist Ihr kraft­vol­ler Opti­mis­mus, der aus Ihren Wor­ten wie aus Ihrem Han­deln spricht: „So wie wir es hin­be­kom­men wer­den, die Coro­na­pan­de­mie zu bewäl­ti­gen, so kön­nen wir die Bevöl­ke­rung auch stär­ker gegen Anti­se­mi­tis­mus immu­ni­sie­ren“, haben Sie kürz­lich in einer Rede gesagt.

Auf eine Imp­fung kön­nen wir im Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus lei­der nicht zäh­len. Aber ver­las­sen kön­nen wir uns auf die heil­sa­men Kräfte der Auf­klä­rung, der per­sön­li­chen Begeg­nung und der Erin­ne­rung. Ich danke Ihnen von Her­zen, dass Sie sich in die­sem Sinne beharr­lich für eine wehr­hafte Demo­kra­tie und eine Kul­tur der Tole­ranz und der Ver­stän­di­gung einsetzen.

Herz­li­chen Glück­wunsch, lie­ber Herr Schus­ter, zu Ihrer Aus­zeich­nung mit dem Kul­tur­po­li­tik­preis des Deut­schen Kulturrates.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2021.

Von |2021-11-05T13:04:16+01:00November 5th, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Lau­da­tio auf Josef Schus­ter zur Ver­lei­hung des Deut­schen Kulturpolitikpreises 

Monika Grütters, MdB ist Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.