Die Initiative „Wir sind der Osten“ will Menschen in und aus Ostdeutschland, die die Zukunft positiv gestalten, ein Gesicht geben. Denn die große Mehrheit der Menschen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist demokratisch, progressiv, weltoffen und tolerant – das zeigen die Wahlergebnisse, auch wenn es in der Berichterstattung nicht immer so deutlich wird. Hier will „Wir sind der Osten“ insbesondere etwas bewegen. Theresa Brüheim spricht mit dem Journalisten und Mitinitiator Christian Bollert.
Theresa Brüheim: Herr Bollert, Sie sind Mitinitiator von „Wir sind der Osten“. Warum haben Sie vor rund zwei Jahren diese Initiative mitgegründet? Welche Idee steht dahinter?
Christian Bollert: Zuerst ist wichtig, dass der Grundimpuls für die Gründung von „Wir sind der Osten“ von Melanie Stein kam. Sie hat mich vor ziemlich genau zwei Jahren nach der Europawahl angerufen. Denn sie wunderte sich, dass nach fast jeder Wahl pauschal über den Osten berichtet wird – nach dem Motto: „So ist der Ossi.“ Solche Schlagzeilen gab es ernsthaft. Daraus ist die Idee entstanden, etwas gegen diese Pauschalisierung und diese sehr verkürzte Wahrnehmung der ostdeutschen Bundesländer und der Menschen, die hier leben, zu tun. Denn auch die Wahlergebnisse zeigen, dass der absolute Großteil demokratisch, progressiv, weltoffen und tolerant ist. Aber das kommt in der medialen Wahrnehmung häufig zu kurz oder wird nicht differenziert berichtet. Das war der Grundimpuls: Wir wollen die Berichterstattung differenzierter, komplexer und damit ausgewogener sowie realistischer gestalten. Und wir möchten den Menschen eine Stimme geben, die sonst häufig nicht wahrgenommen werden.
Ähnliches haben Sie Anfang Juni dieses Jahres im Interview mit Deutschlandfunk nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt kritisiert. Auch hier wurde Ihres Erachtens in der allgemeinen Medienberichterstattung nicht differenziert genug auf Sachsen-Anhalt geblickt – und das Bundesland beispielhaft für „den Osten“ angeführt. Wieso hat sich da – spätestens seit der Europawahl – immer noch nichts geändert?
Ich glaube, es ändert sich schon Stück für Stück etwas. Wir sehen, dass unsere Arbeit Früchte trägt und dass es viele andere Initiativen und Menschen gibt, die mittlerweile – im Jahr 2021 – doch mehr Gehör finden als noch vor zwei oder erst recht vor fünf Jahren. Es gibt einen Bewusstseinswandel. Aber häufig wird der Diskurs immer noch von Journalistinnen und Journalisten aus Hamburg, München, Köln oder Berlin getrieben. Sehr selten wird direkt aus den ostdeutschen Ländern berichtet. Und wenn, dann werden immer noch Reporter losgeschickt, die hier vor Ort berichten sollen, aber eigentlich in Hamburg oder München leben.
Es gibt nur wenige Ausnahmen, wie z. B. „taz“, „Krautreporter“ oder „Die Zeit“, die wirklich ernsthaft und langfristig versuchen, vor Ort zu sein. Natürlich muss man in dem Atemzug auch die Öffentlich-Rechtlichen nennen. Aber insgesamt gibt es da auf jeden Fall eine mediale Verzerrung, was die Berichterstattung angeht. Denn auch die Journalistinnen und Journalisten, die über Ostdeutschland berichten, sind sicher nicht repräsentativ, was die Bevölkerung angeht. Der Bevölkerungsanteil der Menschen mit ostdeutschem Hintergrund spiegelt sich eben nicht an Journalistenschulen oder in Redaktionen wider. Und das merkt man leider in vielen Berichten, die dann sehr, sehr weit weg von der Lebensrealität der Leute sind.
Wie gehen Sie das mit „Wir sind der Osten“ genau an? Was sind Ihre Ziele in diesem Rahmen?
Provokant gesagt, wollen wir uns selbst überflüssig machen. Wir wollen zeigen, dass natürlich auch in den ostdeutschen Ländern der absolute Großteil der Menschen demokratisch und progressiv an der Zukunft arbeitet, neue Ideen hat, an der Digitalisierung arbeitet, sich konstruktiv mit Problemen auseinandersetzt, an Lösungen arbeitet. Und wir wollen natürlich auch ein Verständnis schaffen für die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten.
Was mir persönlich in den letzten Jahren noch deutlich klarer geworden ist: Es hört nicht mit einer Generation auf. Es ist nicht so, dass man 1992 geboren ist und aufgrund des Geburtsjahres automatisch nichts mehr mit dem Thema zu tun hat. Sondern in den Biografien der Großeltern und Eltern werden Dinge tradiert und Erfahrungen weitergetragen, die sich eben doch signifikant von Menschen unterscheiden, die in Dortmund oder Stuttgart leben. Denn Anfang der 1990er Jahre, nach der Wiedervereinigung, haben so viele massive Veränderungen stattgefunden. Wir wollen auch ein Bewusstsein für diese persönlichen Geschichten erzeugen: Menschen in Ostdeutschland mussten ihr Haus abgeben, weil es Restitutionsansprüche gab. Menschen in Ostdeutschland sind nach der Wiedervereinigung arbeitslos geworden, manchmal beide Elternteile. Menschen sind aus Ostdeutschland weggegangen, weil sie keine Jobperspektiven mehr hatten. Diese ganzen persönlichen Geschichten sind in meiner individuellen Wahrnehmung bisher oft zu kurz gekommen – und werden erst in den letzten Jahren immer präsenter.
Anfangs hat man sich – auch völlig zu Recht – erst mal auf die großen Linien gestürzt: Kalter Krieg, Stasi, Diktatur, Treuhand. Erst in den letzten drei, vier, fünf Jahren gibt es immer mehr Dialog zwischen den Generationen – und auch zwischen Menschen, die in den westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern aufgewachsen sind. Dort entsteht erst jetzt ein Gespräch auf persönlicher Ebene, das aus meiner Sicht unabdingbar ist, damit wir irgendwann eben nicht mehr so oft und intensiv über diese Unterschiede diskutieren müssen.
Ich z. B. lebe in Leipzig – wenn man so will – in einer gewissen Blase: Die allerallermeisten Menschen hier, auch die nicht aus den ostdeutschen Ländern kommen, haben sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt. Ich habe erst diese Woche ein solches Erlebnis gehabt: Eine Kollegin hat in der Redaktion erzählt, wie ihre Eltern 1989 geflohen sind. Dabei haben die Kollegen mit westdeutschem Hintergrund die Geschichte mit offenen Mündern angehört, weil sie so etwas noch nie persönlich erzählt bekommen haben. Und das passiert, je weiter man von den ostdeutschen Bundesländern wegkommt, nicht mehr so häufig. Ich höre das von vielen Leuten, die bei „Wir sind der Osten“ mitmachen. Sie sagen z. B. „Ich bin erst in Hamburg zum Ossi geworden“ oder „Ich dachte eigentlich, das spielt gar keine Rolle“.
Der Dialog ist unabdingbar, da stimme ich natürlich zu. Sind Sie es trotzdem manchmal leid, „den Osten“ immer wieder erklären zu müssen?
Ja, ganz klar. Ich kann es auch nicht ganz verstehen, dass es z. B. nach Landtagswahlen immer wieder diesen Impuls gibt zu sagen: „Bitte erklären Sie doch mal ‘den Ossi’“ Das ist natürlich Quatsch. Da müssten wir mittlerweile einen Schritt weiter sein. Ich muss zugeben, dass ich nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt entsetzt war, dass es immer noch die gleichen sehr einfachen Erklärungsversuche sind, die angewendet werden, anstatt sich mit der komplexen Realität auseinanderzusetzen und zu versuchen, nicht die einfachen Antworten zu geben – auch wenn das medial schwierig ist, das ist mir vollkommen klar. Aber in 30 Sekunden wird sich die Geschichte der ostdeutschen Bundesländer nicht erklären lassen.
Sie fordern mit „Wir sind der Osten“ auch mehr Aufmerksamkeit für Menschen in Ostdeutschland ein, die sich gegen alle Widerstände engagieren. Wie kann es gelingen, diese zu erzeugen?
Eine einfache Antwort aus unserer Perspektive ist unsere Webseite: wirsindderosten.de. Dort kann man fast 500 Leute sehen, die sich engagieren, die Dinge tun, die sich ehrenamtlich einbringen, die gesellschaftlich aktiv sind, die sich in diesem berühmten vorpolitischen Raum – in Gewerkschaften, in Kirchen, in Vereinen und Verbänden – bewegen. Menschen, die einfach dafür sorgen, dass ein größerer demokratischer Nährboden entsteht. Der muss sich natürlich erst entwickeln. Das musste er auch erst in den westdeutschen Bundesländern nach 1945. Uns geht es darum „Role Models“ zu zeigen, das heißt Menschen eine Plattform zu geben, die sich z. B. in der Altmark für ihren Ort engagieren, was dazu führen kann, dass andere Leute erfahren, was das Besondere – städtebaulich und historisch – dort ist, oder die im Erzgebirge demokratische Initiativen aufbauen. Diesen Menschen einfach ein Gesicht zu geben, ist unglaublich wichtig. So können die oft schablonenhaften Erklärungsmuster durchbrochen werden. Denn es gibt eben viel, viel mehr als die frustrierten Wähler, die populistische Parteien wählen.
Erklärtes Ziel von „Wir sind der Osten“ ist es, wie erwähnt, die Berichterstattung in den Medien zu verändern. Was fordern Sie konkret von den Medien diesbezüglich?
Es geht auch da nur über Repräsentanz. Wir brauchen in den Redaktionen, und vor allem natürlich in den Entscheidungsebenen, Menschen mit ostdeutschen Biografien – oder Menschen, die lange Zeit in Ostdeutschland gelebt haben, die Probleme verstehen und sich seit Jahren mit den Menschen hier auseinandersetzen. Es wird auf Dauer nicht möglich sein, eine sinnvolle Berichterstattung über ostdeutsche Länder ausschließlich aus Köln, Hamburg, München oder Berlin-Mitte zu machen. Das geht am Ende nur über Menschen, die aus diesen Regionen kommen. Entsprechend müssen die auch gefördert werden, dass sie ansatzweise so repräsentiert werden, wie sie auch in der Bevölkerung vertreten sind. Dann kann es auf lange Sicht auch gelingen.
Im vergangenen Jahr haben wir ganz bewusst unsere Initiative noch mal erweitert um den Punkt „Rübergemacht“. Hier stellen wir Menschen vor, die nicht in den fünf ostdeutschen Bundesländern geboren sind, aber diese auch repräsentieren.
In diesem Sommer werden wir im Vorfeld der Bundestagswahl gucken, dass wir engagierte Politikerinnen und Politiker auf der Plattform einbinden. Natürlich wollen wir auch die Menschen zeigen, die sich ganz konkret im politischen Raum engagieren. Da arbeiten wir gerade an neuen Formaten und Ideen. Das als kleiner Ausblick.
Vielen Dank.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2021.