Von Vater­ju­den und ande­ren Bezeich­nun­gen, auf die wir gut ver­zich­ten können

Bedeu­tung, Her­aus­for­de­run­gen und Kritik

Im Jahr 1995 prägte die nie­der­län­di­sche Schrift­stel­le­rin und Femi­nis­tin Catha­rina Des­saur den Begriff des Vater­ju­den. Seit­dem sind damit im deutsch­spra­chi­gen Raum Per­so­nen gemeint, die einen jüdi­schen Vater und eine nicht­jü­di­sche Mut­ter haben und des­halb von den jüdi­schen reli­giö­sen Auto­ri­tä­ten oft als Nicht­ju­den betrach­tet wer­den. Gemäß der Halacha, dem jüdi­schen Reli­gi­ons­ge­setz, wird die Zuge­hö­rig­keit zum Juden­tum durch die Mut­ter wei­ter­ge­ge­ben. Die­ser Regel folgt auch der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land, des­halb wer­den Kin­der jüdi­scher Väter und nicht­jü­di­scher Müt­ter von der über­wie­gen­den Mehr­heit der jüdi­schen Gemein­den in Deutsch­land als Mit­glie­der nicht akzep­tiert. Auch wenn sich die Men­schen selbst auf­grund ihrer Her­kunft und Sozia­li­sa­tion als jüdisch ver­ste­hen, blei­ben sie aus dem jüdi­schen insti­tu­tio­nel­len Leben hier­zu­lande aus­ge­schlos­sen. Die­ser Aus­schluss hat für die Betrof­fe­nen auch psy­chi­sche Fol­gen. So leben viele von ihnen mit dem Gefühl, nur „irgend­wie jüdisch“ oder „nicht ganz koscher“ zu sein, wie der Titel der ers­ten Mono­gra­fie zu die­sem Thema lau­tet, die Sozio­lo­gin Ruth Zei­fert 2017 ver­öf­fent­lichte: „Nicht ganz koscher: Vater­ju­den in Deutsch­land“. Zei­fert schätzt, dass etwa die Hälfte aller Kin­der, die hier­zu­lande einen jüdi­schen Vater haben, nicht von einer jüdi­schen Mut­ter gebo­ren sind.

Wie gehen die Betrof­fe­nen selbst mit der Bezeich­nung „Vater­jude“ oder „Vater­jü­din“ um? Einige ver­su­chen, die­sen Begriff, der den Stem­pel eines „Man­gel­ex­em­plars“ trägt, für sich anzu­eig­nen und sich selbst­be­wusst zu ihrem Juden­tum nach dem Vater zu beken­nen. Die ande­ren wie­derum wäh­len den Weg des Gijurs, der Kon­ver­sion zum Juden­tum, um vom „Nicht­ju­den“ zum „Juden“ zu wer­den, um damit eine „Sta­tus­klä­rung“ oder „Lega­li­sie­rung“ zu voll­zie­hen. Auf­fäl­lig ist aber, dass sich in Deutsch­land bis heute keine Gemein­schaft der Vater­jü­din­nen und -juden gebil­det hat, in der sich Men­schen mit­ein­an­der über die Erfah­run­gen der Aus­gren­zung und des Schams aus­tau­schen und ihr jüdi­sches Selbst­be­wusst­sein stär­ken kön­nen. Einen Ver­such machte 2008 die ein­zig­ar­tige Initia­tive „doppel:halb – vaterjüdisch*mixed families*patrilinear“, die sich an Gesprächs­part­ner mit einem jüdi­schen und einem nicht­jü­di­schen Eltern­teil in unter­schied­li­chen Kon­stel­la­tio­nen rich­tete. Wei­tere Ver­su­che, sich zu orga­ni­sie­ren, Ver­eine oder Anlauf­stel­len zu grün­den, fan­den jedoch nicht statt oder blie­ben für die Öffent­lich­keit unsichtbar.

Diese unzu­rei­chende Ver­net­zung und nur ver­ein­zelte selbst­be­wusste Posi­tio­nie­rung zum Begriff Vater­jü­din­nen und -juden sind ein Zei­chen dafür, dass diese Bezeich­nung sich nicht für ein posi­ti­ves Selbst­bild eig­net und von der Mehr­heit der Betrof­fe­nen nicht über­nom­men wird. Wel­che Gründe kann diese Ableh­nung haben und warum lässt sich diese Bezeich­nung kritisieren?

Zum einen hat der Begriff Vater­jude mit der Rea­li­tät der­je­ni­gen, die damit gemeint sind, wenig gemein­sam. Wird jemand als „Vater­jü­din“ bezeich­net, sagt das weder etwas über ihre Bezie­hung zum Juden­tum, noch zu ihrem Vater aus. Damit deu­tet man viel­mehr auf ein Defi­zit, der angibt, „jüdisch auf der fal­schen Seite“ zu sein. Einen beson­de­ren Nach­ge­schmack hat diese Bezeich­nung für die patri­li­nea­ren Jüdin­nen und Juden, die aus der ehe­ma­li­gen Sowjet­union kom­men. Jüdisch­sein galt dort als Natio­na­li­tät, deren Wei­ter­gabe offi­zi­ell nach dem Vater erfolgte. In den sowje­tisch gepräg­ten Staa­ten waren Men­schen patri­li­nea­rer jüdi­scher Abstam­mung sowohl für die inner­jü­di­sche Com­mu­nity als auch für die Mehr­heits­ge­sell­schaft Jüdin­nen und Juden. Sie waren häu­fig jüdisch sozia­li­siert und lit­ten nahezu aus­nahms­los unter dem Anti­se­mi­tis­mus. Vie­len von ihnen ist die jüdi­sche Tra­di­tion in ihrer sowje­ti­schen Aus­prä­gung gut ver­traut, häu­fig ver­or­ten sie sich jedoch jen­seits des Reli­giö­sen. Dass sich eine Bezeich­nung wie Vater­jude auf die reli­gi­ons­recht­li­che Aus­le­gung der Halacha stützt, geht an der Lebens­rea­li­tät derer vor­bei, die sich als säku­lare Jüdin­nen und Juden begreifen.

Ein ande­rer Grund für Kri­tik am Begriff des Vater­ju­den ist die Erkennt­nis, dass er vor dem Hin­ter­grund der Kom­ple­xi­tät von Geschich­ten und Bio­gra­fien patri­li­nea­rer jüdi­scher Men­schen zu kurz greift. So leben in Deutsch­land nicht nur Jüdin­nen und Juden nach dem Vater, son­dern auch Enkel­kin­der jüdi­scher Groß­vä­ter müt­ter­li­cher und väter­li­cher­seits. Auch diese Per­so­nen­gruppe bleibt von der Teil­nahme am jüdi­schen Gemein­de­le­ben auf­grund ihrer Patri­li­nea­ri­tät aus­ge­schlos­sen, fin­det sich aber unter dem Begriff der Vater­jü­din­nen und -juden nicht unbe­dingt wie­der. Die erwähnte Kom­ple­xi­tät zeigt sich auch darin, dass die Geschich­ten rus­sisch­spra­chi­ger Jüdin­nen und Juden sich wie­derum wesent­lich von den Bio­gra­fien deut­scher, fran­zö­si­scher oder israe­li­scher Jüdin­nen und Juden oder der­je­ni­gen mit zen­tral­eu­ro­päi­schen Wur­zeln unter­schei­den. Die meis­ten die­ser Bio­gra­fien sind mit der Shoah und dem Anti­se­mi­tis­mus ver­floch­ten und seit Gene­ra­tio­nen durch eine tiefe Ver­bun­den­heit mit dem Juden­tum geprägt, jedoch auf eine viel­heit­li­che Art und Weise, die sich nicht durch diese eine Bezeich­nung erzäh­len lässt.
Wäh­rend in den USA Teile des libe­ra­len Juden­tums auch die patri­li­neare Abstam­mung aner­ken­nen, rich­ten sich in Deutsch­land sowohl die ortho­do­xen als auch die kon­ser­va­ti­ven und libe­ra­len jüdi­schen Gemein­den nach den halachi­schen Regeln der Matri­li­nea­ri­tät – bedingt durch den Cha­rak­ter der Ein­heits­ge­meinde. Dabei belegte Hein­rich C. Olmer, der dama­lige Vor­sit­zende der israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­meinde Bam­berg, in sei­ner Stu­die „’Wer ist Jude?‘ Ein Bei­trag zur Dis­kus­sion über die Zukunfts­si­che­rung der jüdi­schen Gemein­schaft“ von 2010, dass nicht nur die müt­ter­li­che, son­dern auch die väter­li­che Abstam­mung die Zuge­hö­rig­keit zum Juden­tum bestim­men kann. Olmer führt an, dass die müt­ter­li­che Abstam­mung ihren Ursprung nicht in der bibli­schen, son­dern in der spä­te­ren rab­bi­ni­schen Zeit hat und in den rab­bi­ni­schen Schrif­ten wie Mischna und Tal­mud fest­ge­hal­ten wurde. In den bibli­schen Quel­len gilt dage­gen das Prin­zip der Patri­li­nea­ri­tät. So ist man Ange­hö­ri­ger des Pries­ter­stam­mes Cohen z. B. bis heute nicht durch seine Mut­ter, son­dern durch sei­nen Vater.

Wenn Rab­bi­ne­rin­nen und Rab­bi­ner in Deutsch­land Juden nach dem Prin­zip der Patri­li­nea­ri­tät in ihre Reli­gi­ons­ge­mein­den auf­neh­men wol­len, müs­sen sie krea­tiv sein. Der libe­rale Rab­bi­ner Thom Kučera nimmt in sei­ner libe­ra­len jüdi­schen Gemeinde Mün­chen Beth Shalom etwa Kin­der jüdi­scher Väter als För­der­mit­glie­der auf, auch wenn sie keine Kon­ver­sion voll­zo­gen haben: „Ein patri­li­nea­rer Jude muss kei­nen Gijur machen, wenn er kein Gijur machen möchte. Wenn man sich jüdisch genug fühlt und möchte ein Teil der jüdi­schen Gemeinde sein, dann kann man als patri­li­nea­rer Jude jeder Reform­ge­meinde, zumin­dest hier in Mün­chen, als För­der­mit­glied bei­tre­ten und man muss nicht unbe­dingt über Gijur nach­den­ken“, stellt Rabbi Kučera in einem Inter­view auf Hagalil.com fest. Patri­li­neare Jüdin­nen und Juden gehö­ren für ihn zum Stamm Isra­els: „Jemand, der einen jüdi­schen Vater hat, ist nicht Nicht­jude, son­dern Jude nach dem Vater. Das ist ganz klar nach der Mischna und auch nach dem Talmud.“

Es zeich­net sich bereits heute ab, dass schon in der nächs­ten Gene­ra­tion, wenn die Kin­der jüdi­scher Groß­vä­ter her­an­wach­sen, die Begriffe Vater­jü­din und Vater­jude obso­let wer­den. Immer mehr Jüdin­nen und Juden ver­lan­gen nach einer Öff­nung der Gemein­den für Men­schen mit unter­schied­li­chen jüdi­schen Bio­gra­fien, nach der Aner­ken­nung hybri­der Iden­ti­tä­ten und nach der Ent­ta­bui­sie­rung und Nor­ma­li­sie­rung ihrer im „Vater­ju­den-Nebel“ ver­pack­ten Exis­ten­zen. An die­ser Stelle stellt sich ernst­haft die Frage, ob wir auf die Bezeich­nung Vater­jude inso­fern getrost ver­zich­ten, dass alle Men­schen mit einem bio­gra­fi­schen oder reli­giö­sen Bezug zum Juden­tum ein­fach Jüdin­nen und Juden sind. Denn hin­ter jeder die­ser Bio­gra­fien steht eine jüdi­sche Erzäh­lung, die zu unse­rem Ver­ständ­nis der jüdisch-deut­schen Geschichte bei­trägt und wei­ter­ge­ge­ben wer­den muss.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2021.

Von |2021-04-01T11:48:20+02:00April 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Bedeu­tung, Her­aus­for­de­run­gen und Kritik

Alina Gromova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Akademieprogramme des Jüdischen Museums Berlin.