Eine vor­wie­gend sym­bo­li­sche Existenz

Jüdi­sches Leben im geteil­ten Deutschland

Als am 9. Novem­ber 1989 die Ber­li­ner Mauer fiel, leb­ten west­lich davon 27.700 Mit­glie­der jüdi­scher Gemein­den, öst­lich davon waren es noch ganze 350. Dar­über hin­aus gab es noch eine unbe­stimmte Zahl von Juden, die nicht Gemein­de­mit­glie­der waren, aber selbst mit die­sen blieb der Anteil von Jüdin­nen und Juden an der deut­schen Gesamt­be­völ­ke­rung unter 0,1 Pro­zent. Jeder tau­sendste Deut­sche war also jüdisch. Die Zahl der hier­zu­lande leben­den Juden ent­sprach etwa der Ein­woh­ner­zahl von Bux­te­hude oder Kauf­beu­ren. Und doch hörte man von den Juden ungleich mehr als von Bux­te­hu­dern oder Kauf­beu­rern. Denn neben der rea­len Exis­tenz der 30.000 leben­den Juden gab es die sym­bo­li­sche Exis­tenz der sechs Mil­lio­nen toten Juden. Diese Dicho­to­mie prägte das Leben jeder Jüdin und jedes Juden in Deutsch­land in den vier Jahr­zehn­ten zwi­schen der Grün­dung der bei­den deut­schen Staa­ten und dem Fall der Mauer.

Für die meis­ten Juden in Israel und Ame­rika, aber auch in Frank­reich und der Schweiz, war nicht die kleine Zahl der jüdi­schen Gemein­schaft im Nach­kriegs­deutsch­land über­ra­schend, son­dern die Tat­sa­che, dass es nach der Shoah über­haupt wie­der jüdi­sches Leben auf einem Gebiet gab, das sie als „blut­ge­tränkte Erde“ bezeich­ne­ten. 1947 hatte sich der Jüdi­sche Welt­kon­gress gegen die Wie­der­be­grün­dung jüdi­scher Gemein­den aus­ge­spro­chen, und noch 50 Jahre spä­ter sah dies der Staats­prä­si­dent Isra­els, Ezer Weiz­mann, so. Wäh­rend die jüdi­sche Gemein­schaft außer­halb Deutsch­lands den deut­schen Juden vor­warf, nichts aus der Geschichte gelernt zu haben, ver­such­ten diese, ihre christ­li­chen Nach­barn davon zu über­zeu­gen, ihrer­seits aus der Geschichte zu ler­nen. Gleich­zei­tig dien­ten sie der deut­schen Poli­tik als leben­di­ger Beweis dafür, dass sich die bei­den deut­schen Staa­ten aus dem Schat­ten der Nazi­ver­gan­gen­heit gelöst hat­ten und der Welt das Bild eines „neuen Deutsch­land“ ver­mit­teln konn­ten. Sie waren, wie Poli­ti­ker ver­schie­de­ner Cou­leur dies bezeich­ne­ten, zum „Prüf­stein“ für die deut­sche Demo­kra­tie geworden.

Die meis­ten von ihnen stamm­ten gar nicht aus Deutsch­land, son­dern waren Dis­pla­ced Per­sons, ost­eu­ro­päi­sche Holo­caust-Über­le­bende, die auf ihrer Flucht vor dem unge­bro­che­nen Anti­se­mi­tis­mus in Ost­eu­ropa zumeist in der ame­ri­ka­ni­schen Zone „hän­gen geblie­ben“ waren. Nur die wenigs­ten von ihnen hat­ten sich bewusst dazu ent­schie­den, in Deutsch­land zu blei­ben. Typi­scher war die Begrün­dung, dass man wegen Krank­hei­ten oder alter Eltern nicht aus­rei­sen konnte. Als 1950 der Zen­tral­rat der Juden begrün­det wurde, wählte man auch aus die­sem Grund bewusst die­sen etwas distan­zier­ten Namen und wollte nicht mehr die bis 1933 bestehende Tra­di­tion der deut­schen Staats­bür­ger jüdi­schen Glau­bens wiederbeleben.

Die gro­ßen Zen­tren der deutsch-jüdi­schen Gemein­schaft lagen im Süden, in Mün­chen und Frank­furt. Bis 1957 bestand auch noch das letzte Dis­pla­ced- Per­sons-Lager süd­lich von Mün­chen im Wolfrats­hau­se­ner Stadt­teil Föh­ren­wald, heute Wald­ram. Diese in Deutsch­land Gestran­de­ten leb­ten auch wäh­rend der nächs­ten Jahr­zehnte zumeist unbe­merkt von der Öffent­lich­keit. Ihr sprich­wört­li­ches Hin­ter­hof­da­sein fand seine wort­wört­li­che Ent­spre­chung in der Tat­sa­che, dass die weni­gen in der Pogrom­nacht 1938 nicht zer­stör­ten Syn­ago­gen sich oft­mals tat­säch­lich im Hin­ter­hof befan­den und nur so der Brand­stif­tung ent­gan­gen waren.

Die deut­schen Juden, die aus dem Exil zurück­ge­kehrt waren, um die bei­den deut­schen Staa­ten wie­der neu auf­zu­bauen, errich­te­ten ihre Zen­tren in der ehe­ma­li­gen bri­ti­schen Zone. Wich­tige Funk­tio­näre wie der lang­jäh­rige Gene­ral­se­kre­tär des Zen­tral­rats der Juden in Deutsch­land, George Hen­drik van Dam, und der Begrün­der der Jüdi­schen All­ge­mei­nen Wochen­zei­tung, Karl Marx, kamen aus dem eng­li­schen Exil zurück und führ­ten lange Zeit von Düs­sel­dorf aus diese bei­den wich­ti­gen Insti­tu­tio­nen. In Ham­burg regierte in den 1960er Jah­ren mit Bür­ger­meis­ter Her­bert Weich­mann der wohl bekann­teste jüdi­sche Poli­ti­ker der Bundesrepublik.

Andere Rück­keh­rer waren als Sozia­lis­ten oder Kom­mu­nis­ten aus Deutsch­land geflüch­tet und kamen nun als sol­che zurück, und zwar zumeist in den Osten. Dar­un­ter waren auch die bekann­te­ren Namen, wie etwa die Schrift­stel­ler Anne Seg­hers, Arnold Zweig und Ste­fan Heym. Sie muss­ten erle­ben, dass die in der spät­sta­li­nis­ti­schen Sowjet­union aus­ge­bro­chene und dann in die Tsche­cho­slo­wa­kei über­ge­schwappte anti­se­mi­ti­sche Welle Ende 1952 auch die DDR erreichte. Inner­halb weni­ger Wochen flüch­te­ten vor dem Hin­ter­grund des anti­se­mi­ti­schen Slan­sky-Schau­pro­zes­ses in Prag und der Inhaf­tie­rung pro­mi­nen­ter Juden auch in der DDR fast alle Vor­sit­zen­den der dor­ti­gen jüdi­schen Gemein­den und viele Gemein­de­mit­glie­der in den Westen.

In den 1950er und 1960er Jah­ren teil­ten die meis­ten in Deutsch­land leben­den Juden das Gefühl, nur zeit­weise hier zu leben. Wenn sie es nicht schaff­ten aus­zu­wan­dern, so soll­ten wenigs­tens ihre Kin­der die Zukunft in Israel oder dem west­li­chen Aus­land fin­den. Viele schick­ten diese, auch in Erman­ge­lung jüdi­scher Schu­len in Deutsch­land, auf jüdi­sche Inter­nate in Eng­land oder Frank­reich. In der Tat wan­der­ten zahl­rei­che junge Juden in den ers­ten Jahr­zehn­ten der Bun­des­re­pu­blik aus. Aber es kamen auch immer wie­der neue jüdi­sche Ein­wan­de­rer hinzu: aus Polen, der Tsche­cho­slo­wa­kei, zu Beginn der 1970er Jahre bereits in einer ers­ten klei­nen Welle aus der Sowjet­union, aus dem Iran und zuneh­mend auch aus Israel.

Da sich Aus­wan­de­rung und Ein­wan­de­rung in etwa die Waage hiel­ten, blieb die Zahl jüdi­scher Gemein­de­mit­glie­der in Deutsch­land von den 1950er bis in die 1980er Jahre rela­tiv kon­stant zwi­schen 25.000 und 30.000. Mit der Erkennt­nis, dass eine zweite Gene­ra­tion wohl doch zumin­dest teil­weise im Lande blei­ben würde, begann aber auch der Auf­bau neuen jüdi­schen Lebens. Vor allem in den 1960er Jah­ren setzte der Bau von Syn­ago­gen ein, die ers­ten jüdi­schen Grund­schu­len wur­den in Frank­furt, Mün­chen und Ber­lin gegrün­det, und 1979 errich­tete der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land die Hoch­schule für Jüdi­sche Stu­dien in Hei­del­berg, in der Absicht, hier auch Rab­bi­ner und Reli­gi­ons­leh­rer auszubilden.

Diese Grün­dung fiel in eine Umbruch­zeit für die Juden in der Bun­des­re­pu­blik. Es war nun die erste im Nach­kriegs­deutsch­land gebo­rene Gene­ra­tion her­an­ge­wach­sen, die mehr poli­ti­sche Akti­vi­tä­ten und reli­giö­sen Plu­ra­lis­mus for­derte. Die Pro­test­ak­tio­nen anläss­lich des Besuchs von Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl und US-Prä­si­dent Ronald Rea­gan auf dem Sol­da­ten­fried­hof in Bit­burg mit Grä­bern von Waf­fen-SS-Ange­hö­ri­gen 1985 sowie die Beset­zung der Bühne des Frank­fur­ter Schau­spiels im glei­chen Jahr anläss­lich der geplan­ten Auf­füh­rung von Rai­ner Wer­ner Fass­bin­ders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, des­sen Haupt­fi­gur schlicht „Der rei­che Jude“ beti­telt war, stand für die­sen neuen Akti­vis­mus. Als 1992 der Initia­tor der Frank­fur­ter Büh­nen­be­set­zung und dor­tige Gemein­de­vor­sit­zende Ignatz Bubis, an die Spitze des Zen­tral­rats gewählt wurde, war die­ser Wan­del abgeschlossen.

Auch in der DDR hatte sich in den 1980er Jah­ren eini­ges getan. Junge Jüdin­nen und Juden, zumeist Kin­der von über­zeug­ten Kom­mu­nis­ten, hat­ten sich von der poli­ti­schen Über­zeu­gung ihrer Eltern gelöst und such­ten nach weni­ger ver­krus­te­ten Wegen, sich an die jüdi­sche Gemein­schaft anzu­schlie­ßen. So ent­stand in der Ost-Ber­li­ner Gemeinde eine jüdi­sche Gruppe, die nach Alter­na­ti­ven zu den staat­lich kon­trol­lier­ten Gemein­den suchte. Auch die Par­tei­füh­rung ging in den letz­ten Jah­ren der DDR, wohl aus Grün­den einer erhoff­ten Finanz­hilfe aus den USA, auf die jüdi­sche Gemein­schaft zu, stellte erst­mals seit Jahr­zehn­ten wie­der einen Rab­bi­ner aus den USA ein und erklärte, die wäh­rend des Kriegs zer­störte Syn­agoge in der Ora­ni­en­bur­ger Straße auf­bauen zu wollen.

Der Wan­del des jüdi­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses ist nur im Rah­men des gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Wan­dels zu ver­ste­hen. Begin­nend mit der Aus­strah­lung der ame­ri­ka­ni­schen TV-Mini­se­rie „Holo­caust“ im west­deut­schen Fern­se­hen 1979, erhielt die­ses Wort erst­mals in brei­ten Krei­sen die Bedeu­tung, die es seit­dem trägt. Wohl kein ande­res Ereig­nis löste eine so hef­tige und nach­wir­kende Dis­kus­sion über die deut­schen Ver­bre­chen im Zwei­ten Welt­krieg aus wie die­ser Fern­seh­film. In den 1980er Jah­ren kam es auch zu zahl­rei­chen loka­len Initia­ti­ven in der Bun­des­re­pu­blik, die jüdi­sche Geschichte am Ort zu unter­su­chen und der Ermor­dung der „jüdi­schen Mit­bür­ger“, wie es oft­mals unglück­lich for­mu­liert hieß, zu geden­ken. Selbst in der DDR fand am 9. Novem­ber 1988 erst­mals ein breit ange­leg­tes und staat­lich unter­stütz­tes Geden­ken an die Ver­bre­chen gegen­über den Juden statt.

Für die Juden selbst war diese „Auf­ar­bei­tung“ der Ver­gan­gen­heit ein wich­ti­ges Zei­chen und eine Ermu­ti­gung, ihre Zukunft im Land zu pla­nen. Gleich­zei­tig machte es die all­ge­gen­wär­tige Prä­senz die­ser The­ma­tik schwer, eine „nor­male“ Exis­tenz zu füh­ren. Der Schat­ten der sechs Mil­lio­nen toten Juden über­deckte wei­ter­hin den All­tag der 30.000 leben­den Juden. Auch der große Ein­schnitt, der durch die Zuwan­de­rung von über 100.000 Juden aus der ehe­ma­li­gen Sowjet­union in den 1990er Jah­ren zu spü­ren war, konnte diese Prä­misse jüdi­schen Lebens in Deutsch­land nicht grund­le­gend ändern. Grö­ßer als ihre reale Exis­tenz ist wei­ter­hin ihre sym­bo­li­sche Funktion.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2021.

Von |2021-04-01T12:24:24+02:00April 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Jüdi­sches Leben im geteil­ten Deutschland

Michael Brenner ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.