Gesellschaftspolitische Zäsuren führen die Relevanz und die Notwendigkeit des bürgerschaftlichen Engagements oftmals verstärkt vor Augen. Ein gern genanntes Beispiel dafür ist die überwältigende Bereitschaft vieler Menschen, sich im Herbst 2015 im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ für das Gemeinwohl zu engagieren. Anfang 2020 wurde die Gesellschaft und die Politik erneut mit einer solchen Zäsur konfrontiert: das Coronavirus erreichte Deutschland und damit einhergehend die Notwendigkeit weitgehender Beschränkungen des alltäglichen Lebens zur Eindämmung des Virus. Und wieder zeigte sich eine große Bereitschaft der Bürger, sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. Nicht nur innerhalb bestehender Engagementstrukturen wurde nach kreativen Lösungen für coronabedingte Probleme gesucht, auch viele neue Initiativen wurden ins Leben gerufen.
Dass das bürgerschaftliche Engagement in schwierigen Zeiten einerseits besonders gefragt ist und andererseits besonders großen Zuspruch erfährt, verrät viel über den Kern des bürgerschaftlichen Engagements und über die Wertehaltungen derjenigen, die sich engagieren. Denn in diesen Situationen sind Solidarität, Hilfe und Unterstützung anderer bzw. Nächstenliebe und die gemeinsame Sorge um das Gemeinwohl die Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den sozialen Frieden. Sie bilden somit die zentralen moralischen Handlungsmaximen und Prinzipien des bürgerschaftlichen Engagements. Diese moralischen Handlungsmaximen und sozialethischen Prinzipien tragen insbesondere auch im Raum der katholischen Kirche wesentlich zum erfreulich großen Engagement ihrer Mitglieder bei. Neben dem engagementfördernden Faktor der Mitgliedschaft und entsprechend vorhandenen organisationalen Rahmenbedingungen bieten die christlichen Glaubensgebote und die christliche Sozialethik einen zentralen Erklärungsansatz für die Tatsache, dass sich Mitglieder der katholischen Kirche laut dem Freiwilligensurvey von 2014 anteilig überdurchschnittlich häufiger engagieren als Menschen ohne Konfessionszugehörigkeit. Auch wenn die steigenden Kirchenaustritte, die sinkende Bereitschaft zur langfristigen Übernahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit, die Digitalisierung und der demografische Wandel natürlich auch quantitative Auswirkungen auf das bürgerschaftliche Engagement in den kirchlichen Strukturen haben, werden die kirchlichen Engagementangebote nach wie vor von vielen, auch jungen Menschen, als attraktiv empfunden und in Anspruch genommen.
Eine der Herausforderungen für das heutige bürgerschaftliche Engagement in der katholischen Kirche hat im Zuge der Corona-Pandemie eine neue Qualität erreicht: die Digitalisierung. Die Pandemie hat nicht nur die Relevanz des bürgerschaftlichen Engagements unterstrichen und das Engagement belebt, sondern auch die Unumgänglichkeit der Digitalisierung hervorgehoben. Nicht selten hat man in den letzten Monaten gehört, dass die Pandemie für einen „Digitalisierungsschub“ gesorgt hat. Dies gilt zweifelsohne auch für die katholische Kirche und das bürgerschaftliche Engagement in ihren Strukturen. So sorgte die Schließung der Gotteshäuser im Frühjahr z. B. dafür, dass das digitale pastorale Angebot rasant gewachsen ist: Gottesdienste werden auf YouTube live gestreamt und zum Abruf bereitgestellt, Gemeinden halten über die sozialen Netzwerke den Kontakt zwischen dem Pfarrer und den Gemeindemitgliedern aufrecht. Aber auch in anderen Bereichen wird nach Lösungen gesucht, das Engagement trotz der Beschränkungen weiterzuführen: So werden Beratungsangebote der Caritas und Veranstaltungen der Jugendverbandsarbeit digitalisiert oder „hybridisiert“.
Diese Entwicklungen zeigen, dass die Digitalisierung auch für die katholische Kirche enorme Chancen bietet und neue Handlungsräume eröffnet. Sie ermöglicht es, gerade auch in schwierigen Zeiten, diejenigen zu erreichen, die man auf anderen Wegen nicht mehr erreichen kann und den Kontakt zu denjenigen aufrechtzuerhalten, die die kirchlichen Angebote bisher wahrgenommen haben. Dies gelingt sicher noch nicht immer und überall gleich gut und aus diesen Erfahrungen gilt es zu lernen. Die katholische Kirche schreibt auch in Bezug auf die Digitalisierung das Prinzip der Teilhabegerechtigkeit groß. Dies bedeutet, dass sie immer wieder überprüfen muss, ob die eigenen digitalen Angebote Teilhabe verbessern oder verringern. Wir wissen, dass der persönliche Kontakt und die physische Präsenz in den Gemeinden für viele Gläubigen essenziell sind, dass auch besonders vor Ort spontan gemeinsam neue Engagementideen entwickelt und umgesetzt werden. Wir müssen uns also die Frage stellen, wie wir zukünftig „analoges“ und digitales Engagement sinnvoll miteinander verbinden können. Wir brauchen eine Antwort auf die Frage, was wir von den digitalen Formaten und Angeboten, die wir in den letzten Monaten entwickelt haben, nach der Rückkehr in die „Normalität“ unbedingt beibehalten wollen und was wir vielleicht auch wieder verwerfen sollten. Digitalisierung darf weder lediglich ein Lösungsansatz für den Krisenmodus bleiben, noch darf ihre gewachsene Bedeutung dazu führen, dass wir digitale Formate und Angebote als unabänderlich ansehen und nicht mehr hinterfragen. Die Digitalisierung des bürgerschaftlichen Engagements in der katholischen Kirche ist somit keine Alles-oder-nichts-Frage, ganz im Gegenteil: Sie erfordert ein ständiges Abwägen und Austarieren.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.