Ich kann mich an meine Ankunft im Osten noch gut erinnern. Ein Jahr nach meinem Examen und ein halbes Jahr nach meinem Vorstellungsgespräch bei der „Mitteldeutschen Zeitung“ packte ich im Spätsommer 1992 das Nötigste in meinen roten Opel Corsa und fuhr von meiner Studenten-WG in Münster in Westfalen nach Sachsen-Anhalt. Eine der zahlreichen Lokalredaktionen der ehemaligen SED-Bezirkszeitung namens „Freiheit“ hatte ihren Sitz in Bernburg; das liegt zwischen Magdeburg und Halle. Die schöne Industriestadt an der Saale sollte nun für 24 Monate meine neue Heimat werden.
Ich weiß noch, wie ich mich freute, als ich an einem Sonntagabend das Haus in Augenschein nahm, in dem sich Redaktion und Geschäftsstelle des Blattes befanden. Es stand in der Lindenstraße, der zentralen Einkaufsstraße der Stadt, die alle den „Boulevard“ nannten. Dieser von Bäumen gesäumte Boulevard war schön und erinnerte mich an zu Hause, wo wir in einer ähnlichen Einkaufsstraße eine Bäckerei besaßen. Vom Boulevard fuhr ich weiter zum Bernburger Salzbergwerk. Es hielt in schmucklosen Pavillons kleine Werkswohnungen bereit, in denen es nach dem unverwechselbaren DDR-Putzmittel Wofasept roch und in dem ich fürs Erste mein Lager aufschlug.
Tags darauf, es war ein Montag, suchte ich meine neuen Kollegen auf, die mich flugs mit einem kleinen Auftrag versahen, obwohl es erst am Dienstag offiziell losgehen sollte. An jenem Dienstag saß ich dann mit meinen Volontariats-Novizen aus Ost und West beim Chefredakteur in Halle. Der nahm sogleich anerkennend meinen ersten Text in Augenschein. Mein Leben im Osten ließ sich gut an.
Der Schritt aus dem Westen war groß damals. Von Magdeburg nach Bernburg brauchte man für 40 Kilometer bisweilen drei Stunden; eine Autobahn gab es noch nicht. Die Sanierung vieler Gebäude hatte gerade erst begonnen. Im Winter roch es überall nach Kohle. Und in der Redaktion gab es zwar für jeden der acht Redakteure und zwei Sekretärinnen einen Telefonapparat – dafür aber lediglich zwei Leitungen. Wenn zwei Kollegen telefonierten, mussten die anderen warten.
Wie groß der Sprung von West nach Ost tatsächlich war, merkte ich an den Reaktionen der Daheimgebliebenen. Die fragten meist recht allgemein „Wie ist es denn da so?“, hatten allerdings längst wieder abgeschaltet, wenn ich zur Antwort ansetzte. Weil ich im Osten freundlich, aber eben doch als „Wessi“ wahrgenommen wurde, hatte ich das Gefühl, mich emotional für eines der beiden Deutschländer entscheiden zu müssen. Ich entschied mich für den Osten.
In Bernburg lernte ich eine andere Gesellschaft kennen. Meine Kollegen waren teilweise in der SED gewesen oder hatten ihr nahegestanden. Das verschaffte mir mehr journalistische Freiräume, als ich im Westen als 28-Jähriger gehabt hätte. Die Arbeitslosenquote lag seinerzeit bei etwa 25 Prozent; ungefähr gleich viele Menschen waren in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen „geparkt“. Die meisten Ostdeutschen hatten ihre alten Plätze in der Gesellschaft verlassen müssen und waren auf der Suche nach einem neuen. Neu war für mich auch, dass die Kirchen eine Nischenexistenz führten – wobei die evangelische Kirche noch die bedeutendere war. Ich kam aus einem katholischen Elternhaus, und im Münsterland war der Katholizismus dominant.
Dabei war es kein Zufall, dass ich in Sachsen-Anhalt gelandet war. Denn eine Affinität zu Ostdeutschland hatte ich schon früh. Ich hatte vor 1989 Moskau und Prag bereist und eher zufällig an einem FDJ-Jugendlager in der Nähe von Potsdam teilgenommen, kannte Wolf Biermanns Platten teilweise auswendig, hatte ein Interview mit Stephan Krawczyk geführt, noch bevor die Mauer fiel – und fuhr, als sie dann tatsächlich gefallen war, umgehend mit dem Auto nach Berlin, um mir das aus der Nähe anzusehen. Ich mochte die Ostdeutschen – nicht zuletzt weil ich erlebte, dass sie es nach 1989 zunächst erneut schwerer hatten.
Im Übrigen hatte ich berufliches Glück. Westdeutsche Verlage hatten die ostdeutschen Bezirkszeitungen aufgekauft und wollten die Redaktionen mit neuen Leuten durchmischen, gern auch mit Westdeutschen. Sie suchten junge, aufgeschlossene und an Ostdeutschland interessierte Journalisten. Sie suchten Menschen wie mich. 1994 zog ich also von Bernburg nach Wittenberg, von dort 1999 nach Halle und von Halle 2001 nach (Ost-)Berlin. Meine Liebste kommt schließlich aus Thüringen. Und so wurde das Ost-Thema für mich lebensprägend und identitätsstiftend. Drei Bücher sind daraus erwachsen.
Der im Osten sehr viel stärkere Rechtsextremismus hat mich stets befremdet. Doch ich habe ihn lange verdrängt. Als ich mit meinem Freund Günter aus Köln mal in der Nähe von Bernburg auf einem Dorffest war und er mich auf die vielen Neonazis ansprach, redete ich das klein. Ich wollte nicht, dass Günter schlecht über den Osten denkt.
Seit der „Flüchtlingskrise“ und dem Erstarken der AfD hat sich das geändert. Meine Geduld hatte sich erschöpft, als ich sah, wie in Sachsen und anderswo eine Flüchtlingsunterkunft nach der anderen attackiert wurde. In Heidenau war ich im August 2015 Augen- und Ohrenzeuge, als Kanzlerin Angela Merkel ins Visier von Rechtsextremisten und vermeintlich „besorgten Bürgern“ geriet. Dieser Hass und diese Kälte haben mich schockiert und mir Angst gemacht. Noch mehr hat mich schockiert, dass rechtsextremes Gedankengut in die Mitte der Gesellschaft einsickerte.
Als ich im März 2018 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen Text über diesen anderen Blick auf den Osten publizierte, bekam ich viel Zustimmung, gerade von Ostdeutschen mittlerer Jahrgänge, die in größeren Städten leben und mir sagten, sie verstünden ihre Landsleute selbst nicht mehr. Freilich gab es auch Angriffe. Ein Ost-Kollege schrieb: „Dann geh doch rüber.“ Das war bitter.
Meine Kollegen in Bernburg hießen übrigens Andreas, Carsten, Engelbert, Harald, Paul, Raimund, Rita und Yvonne. Es war eine lebendige, lustige, auch komplizierte Redaktion. Drei von ihnen sind tot. Ich habe alle noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.