In den letzten Monaten ist wieder einmal von „Streitigkeiten“ in der jüdischen Gemeinde zu Berlin die Rede. Doch wird selten gefragt, was sich dahinter verbirgt und welche inneren Strukturen in Berlin und jüdischen Gemeinden anderen Orts diese Konflikte hervorrufen. In Deutschland leben heute etwa 100.000 Mitglieder jüdischer Gemeinden; dazu kommen, konservativ geschätzt, weitere 150.000 bis 200.000 Juden außerhalb der Gemeinden, einschließlich Menschen, die halachisch, also nach jüdischem Recht nicht als Juden gelten, weil zwar der Vater, nicht aber die Mutter jüdischer Herkunft ist. Was dabei oft übersehen wird, ist, dass die überwältigende Mehrzahl, vielleicht 95 Prozent der Juden in Deutschland, heute Einwanderer, die seit 1945 nach Westdeutschland gekommen sind, und deren Nachkommen sind. Nur etwa fünf Prozent mögen Nachfahren deutscher Juden aus der Vorkriegszeit sein. Diese deutschen Juden und die aus Osteuropa stammenden Juden der frühen Nachkriegsjahre gründeten die Gemeinden neu. Gemeinden freilich, die im Laufe der Jahre auszusterben drohten; wären da nicht, beginnend in den 1980er Jahren, weit über 150.000 russischsprachige Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert.
Mit dieser Einwanderung begann sich auch die Struktur der Gemeinden drastisch zu ändern. Erstens gewannen die russischsprachigen Neueinwanderer fast durchweg die Gemeindewahlen und rückten somit in zum Teil gut dotierte Führungspositionen auf. Zweitens erfuhr die sozialarbeiterische Komponente einen wesentlichen Aufschwung: Hilfe bei der Wohnungssuche, Kranken- und Altenpflege führten schnell zu einer Gewichtsverschiebung in den Gemeindeverwaltungen und somit auch zu einer Aufstockung des dafür erforderlichen Personals. Nun war aber den „Alteingesessenen“, den deutschen bzw. osteuropäischen Juden die Macht in den Vorständen über Gemeindewahlen entzogen worden. Sie fiel nun in Machtkämpfen den Neueinwanderern zu, wodurch sich der politische Habitus änderte – vor allem mit einem anderen Verständnis von Demokratie. Dies erklärt z. B. die mutmaßlichen Wahlmanipulationen in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die nur mittels eines breiteren Personenkreises realisierbar wurden.
25 Jahre nach der russischsprachigen Einwanderung hat sich die Lage verfestigt. „Deutsch-polnische“ und „russische“ Juden bewegen sich auch heute in verschiedenerlei Kulturkreisen. Die ersten definieren sich eher religiös, auch als nicht praktizierende Juden oder als „Drei-Tage-“ oder Feiertagsjuden, weil sie nur dann, nicht aber an einem normalen Schabbat in die Synagoge gehen. Die „russischen“ Juden sind dagegen eher ethnisch-säkular orientiert, was eine völlige Verschmelzung sehr erschwert. Der Punkt ist jedoch, sie sind Teil des Gemeindelebens geworden, haben sich überdies das Gemeindeleben zu eigen gemacht, zumeist mit kinder- und familienorientierten Veranstaltungen – im Gegensatz zu den eher bildungsorientierten Veranstaltungen der Alteingesessenen. Da sie sich als Ethnos verstehen, sehen sich selbst viele russische Juden, die nicht Mitglieder der Gemeinden geworden sind, gesellschaftlich den russischsprachigen Milieus der Gemeinden zugehörig.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland auf diese beiden Pole zu reduzieren wäre jedoch stark vereinfachend. So sind in den verschiedenen Synagogen, von der Orthodoxie über konservatives Judentum zu den liberal-reformen Richtungen, zumeist die Alteingesessenen wie auch die russischsprachigen Mitglieder vertreten. Zudem gibt es weitere alternative Gruppierungen wie etwa feministische Gruppen oder etwa die Gruppe um den „Desintegrationskongress“ im Frühjahr 2016 im Gorki Theater in Berlin, die eine Rückbesinnung auf Jüdischkeit in unserer multikulturellen Gesellschaft versucht.
Israelis in Berlin
Zu dieser Gemengelage stehen die Israelis in Berlin in bemerkenswertem Kontrast. In den letzten zehn Jahren haben sich in Berlin junge Israelis als eine weitere jüdische Einwanderergruppe, als eine israelische Kolonie hier eingerichtet – oder, wie es ein Israeli ausdrückte, obwohl er in Berlin lebt, habe er „Israel nicht verlassen“. Wir sprechen hier von einer geschätzten Zahl von 15.000 bis 30.000 Israelis: Die Diskrepanz ergibt sich aus der Tatsache, dass sich viele hier lebende Israelis mit zweiten europäischen Pässen ausweisen.
Die „Jüdische Gemeinde zu Berlin“ und „Israelis in Berlin“ – dies sind verschiedene Welten. Die Gemeinde holt zwar Personal, von Sicherheitsleuten bis hin zu Lehrern, und zu den Kulturtagen Künstler aus Israel. In den Büros und Schulen der Gemeinde finden sich großformatige Fotos von Tel Aviv, Jerusalem oder Massada. Doch trotz all ihrer Bekenntnisse zu Israel stößt die „israelische Gemeinschaft in Berlin“ bei der Berliner jüdischen Gemeinde auf kein Interesse, obwohl sie in großer Fülle Avantgarde-Filme, -Theater, -Musik, -Literatur und bildende Kunst produziert.
Obwohl die jüdische Gemeinde die institutionellen Ressourcen besitzt, bietet sie den ankommenden Israelis keine Anlaufstelle, unterstützt keine der israelischen Projekte in Berlin; ihr Gemeindeblatt berichtet nicht über die israelischen Einwanderer vor ihrer Haustür und ihr hochkalibriges israelisch-deutsches Kulturfestival, noch über deren Monatsmagazin „spitz“, der ersten hebräischen Zeitschrift in über 90 Jahren in Deutschland.
Diese Israelis in Berlin unterscheiden sich deutlich von den Gemeindemitgliedern. Sie sind eine fluide, heterogene, permanent sich reproduzierende und selbstreferentielle Gruppe, deren israelische Identität zentral verankert ist. Sie bringen Israel explizit nach Berlin und sind keineswegs israelische Berliner. Die Israelis kennen keine Mitgliedschaft, sondern organisieren sich mittels unabhängiger Initiativen selbst – etwa im besagten israelisch-deutschen ID Festivals. Auf dem Programm des ID Festivals standen Symphoniekonzerte und Quartette mit renommierten Musikern, Theaterauf führungen, Performances, Philosophische Kabarette, Film und Tanz. Wie lässt sich die wechselseitige Aversion erklären? Zwei Gemeinschaften derselben ethno-religiösen Gruppe, die jedoch in deutlicher Distanz zueinander stehen? Mit Sigmund Freud mag es der Narzissmus der kleinen Unterschiede sein, doch die unterschiedlichen Sozialisierungen seit Kindesalter und die divergierenden Erinnerungen und Traditionen, neu erfunden oder älteren Datums, spielen eine grössere Rolle.
Aus dem historischen Gedächtnis heraus lässt sich die Distanz zwischen Gemeinde und Israelis jedoch nur begrenzt erklären; stärker ins Gewicht fallen Sprache und die israelischen neu erfundenen Traditionen, vor allem die neu begründeten Feiertage wie Schawuot, Yom Haschoah, Yom Haazmaut und Sukkot, die national-israelisch und eher naturbezogen umgewertet wurden. Am Ende ist es der neue Ethnos der Israelis gegen den des Diaspora-Judentums, der die russischsprachigen Juden diasporisch integriert, während die Berliner Israelis in anderen Welten leben.
Warum dann passen die Israelis nicht unter diesen Schirm? Wenn trotz divergierender Erinnerung russische Juden Gemeindemitglieder werden konnten, warum wurden dann die Israelis nicht auch Mitglieder? Ein in Israel und Nordamerika verbreitetes Pauschalurteil ist, die Berliner Israelis seien aus Hass auf alles Israelische, Hass auf den Zionismus, und als Provokation ausgerechnet nach Berlin, dem Kern Hitlerdeutschlands, gezogen. Diesem Vorurteil schließt sich der Gemeindevorstand an, folgt also der Linie der israelischen Regierung, von der sie sich vermutlich auch gedrängt sieht, die Berliner Israelis zu ignorieren.
Doch kann von Hass auf Israel keine Rede sein – eher von einer Art Ressentiment. Die Gründe für den Umzug sind vielfältig, es sind die niedrigeren Lebenshaltungskosten in Berlin und für viele Israelis auch die Politik, vor allem die Netanjahus und Bennets, das Anwachsen der radikalen Siedlerbewegung sowie Hass und Gewalt auf der arabischen Seite. Ein stärker verbreitetes Motiv scheint für viele hiesige Israelis jedoch ein breiteres, diffuses Gefühl der Malaise in der israelischen Gesellschaft zu sein.
Dagegen ist Berlin für viele Israelis ein Laboratorium, in dem eine humane hebräische Kultur neu vorgestellt werden kann, mit Rückgriff auf die Geschichte der frühen jüdischen Jugendbewegungen der 1920er Jahre in Berlin und Wien. Insofern stellen die Berliner Israelis die authentische Verbindung zwischen Israel und Deutschland dar, die sie deshalb in der Kulturszene und in der Politik zu einem für Berlin strategischen Partner macht. Denn was kann sich die Stadt mehr wünschen als Israelis, die ihr eigenes Land zumindest zeitweise zugunsten Berlins verlassen haben?
Die jüdische Gemeinde als kulturelle Kraft erscheint blass im Vergleich. Mit hunderten israelischen Künstlern, zahlreichen Start-Ups und international vernetzten jungen Geschäftsleuten in der israelischen Gemeinschaft Berlins kann sie nicht konkurrieren, zumal ihre kulturelle Selbstdarstellung auf geborgter israelischer Kultur beruht. Sie kann sich ja schon kaum gegenüber der ultraorthodoxen Chabadgemeinde in Berlin durchsetzen. Die Gemeinde hat auch nicht die Freiheit und Unabhängigkeit der israelischen Gemeinschaft. Gerade deshalb könnte die Gemeinde nichts Besseres tun, als sich den Israelis zu öffnen und das jüdisch-israelische Projekt in Berlin als gemeinsame Aufgabe zu verstehen.
Der Text ist zuerst erschienen in Kippa, Koscher, Klezmer? – Dossier „Judentum und Kultur“.