Theresa Brüheim: Anfang der 1990er Jahre erlebte das wiedervereinigte Deutschland eine große Zuwanderungswelle aus der ehemaligen Sowjetunion. In diesem Rahmen kam eine Vielzahl jüdischer Bürger in die Bundesrepublik. Wie gestaltete sich die Zuwanderung und die folgende Integration der neuen jüdischen Mitbürger damals? Welche Rolle kam dabei den jüdischen Gemeinden bei der Aufnahme zu?
Thomas de Maizière: Im Jahr 1990 hatte der Zentralrat der Juden in Deutschland etwa 30.000 Mitglieder, die sich auf etwa 90 jüdische Gemeinden verteilten. Mit dem Zerfall der Sowjetunion kamen die ersten jüdischen Zuwanderer aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion nach Deutschland. Seit 1990 sind bis heute mehr als 215.000 jüdische Zuwanderer und ihre Familienangehörigen aus der Ukraine, Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Deutschland aufgenommen worden. Etwa die Hälfte von ihnen sind Mitglieder jüdischer Gemeinden geworden. Dadurch haben sich bestehende Gemeinden vergrößert und neue Gemeinden wurden gegründet. Insgesamt hat sich die Größe der organisierten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in etwa vervierfacht. Dies ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Eine entscheidende Rolle bei der Aufnahme der damaligen Zuwanderer spielten natürlich die rechtlichen Bedingungen. Die meisten der Zugewanderten kamen als sogenannte Kontingentflüchtlinge, d. h. sie hatten von vornherein eine feste Bleibeperspektive.
Bei der Bewältigung der Aufnahme haben dann die jüdischen Gemeinden eine zentrale und gute Rolle gespielt. Sie haben gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland große Integrationsleistungen erbracht. In erster Linie waren es die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse, die den Neuzugewanderten eine Eingliederung in das Erwerbsleben und das Zurechtfinden im Alltag erschwerten. Dazu kam, dass die in den Herkunftsländern erworbenen akademisch-beruflichen Qualifikationen vielfach nicht anerkannt wurden. Heute sind wir da weiter. Auch im Bereich der religiösen Bildung gab es bei den überwiegend säkular geprägten Zuwanderern riesigen Nachholbedarf. Konflikte mit den alteingesessenen jüdischen Gemeindemitgliedern blieben da nicht aus. Einige ältere Zuwanderer tun sich bis heute mit der deutschen Sprache schwer und identifizieren sich stärker mit ihren Herkunftsländern. In all diesen Bereichen waren die jüdischen Gemeinden vor Ort ungeheuer wichtig. Die Gemeinden haben es mit großem Engagement verstanden, die Zuwanderer in das Gemeindeleben einzubinden, zusätzlichen Sprachunterricht anzubieten und bei Wohnungs- und Arbeitssuche sowie Behördengängen Unterstützung zu leisten. Natürlich haben Bund und Länder bei der Gestaltung der Aufnahmebedingungen und durch Haushaltsmittel entscheidende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration geschaffen. Aber ohne die großartige Arbeit der jüdischen Gemeinden in Deutschland hätte die Erfolgsgeschichte der jüdischen Zuwanderung so nicht geschrieben werden können.
Heute sieht sich die Bundesregierung vor einer ähnlichen Aufgabe. Es gilt zahlreiche muslimische Zuwanderer in unsere Gesellschaft zu integrieren. Wie gestaltet sich die Aufnahme heute? Kommt der Integration der jüdischen Mitbürger dabei eine Vorbildfunktion zu? Welche Parallelen lassen sich ziehen, welche Herausforderungen stellen sich?
Die Zuwanderung aus muslimischen Ländern in den letzten Jahren ist mit der jüdischen Zuwanderung, die in den 1990er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion eingesetzt hatte, nicht zu vergleichen. Nicht nur die Migrationsgründe und die kulturellen Herausforderungen sind sehr verschieden, es ist vor allem die große Zahl der Flüchtlinge, die in kürzester Zeit zu uns kamen. Allein im vergangenen Jahr sind rund 890.000 Menschen nach Deutschland gekommen. Diese Zahl ist sehr hoch, auf Dauer auch zu hoch. In diesem Jahr sind es bisher rund 213.000 Asylsuchende. Die Aufnahme und Versorgung dieser Menschen war nur durch einen enormen Kraftakt der Behörden und der vielen Tausend ehrenamtlich Tätigen möglich. Den Menschen, die Schutz zugesprochen bekommen, eine Zukunftsperspektive zu bieten, sie in unsere Gesellschaft zu integrieren und unsere eigene Bevölkerung auf diesem Weg mitzunehmen, darin besteht unsere Herausforderung. Die jüdischen Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wurden seinerzeit gezielt und im Einvernehmen mit den jüdischen Gemeinden in Deutschland aufgenommen. Trotz aller Schwierigkeiten, die ich angerissen habe, bestand aber doch ein wichtiges verbindendes Element zwischen aufnehmender Gesellschaft und Zuwanderern: die gemeinsame Prägung durch die europäische Herkunft und Kultur mit ihren christlich-jüdischen Wurzeln. Die Vorteile für die jüdischen Gemeinden, die Vergrößerung ihrer Gemeinschaft, lagen auf der Hand, ebenso wie der Wunsch Deutschlands, den Wiederaufbau jüdischen Lebens nach der Schoah zu festigen und das freundschaftliche Verhältnis zur jüdischen Glaubensgemeinschaft zu fördern.
Insgesamt hat sich die Größe der organisierten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in etwa vervierfacht. Die heutigen Zuwanderer sind dagegen überwiegend Muslime, die vor allem aus Krisen- und Bürgerkriegsstaaten, häufig traumatisiert, nach Deutschland kommen und hier um Asyl und Flüchtlingsschutz nachsuchen. Allein die Herkunftsstaaten mit ihren sehr unterschiedlichen kulturellen Prägungen machen Vergleiche schwierig. Wir brauchen übereinstimmende Grundüberzeugungen, aber auch klare Regeln: Alle Zuwanderer, die in Deutschland einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus erhalten und hier eine Bleibeperspektive haben, müssen sich an die Regeln unseres Landes halten, sie müssen unsere Gesetze einhalten und die Werte beachten, die unsere Verfassung, das Grundgesetz, vorgibt. Dafür bietet unser Staat den Zuwanderern mit einer guten Bleibeperspektive Integrationskurse an, die die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben fördern. Vor allem soll durch die Integrationskurse die Sprachkompetenz gefördert werden, damit die Verständigung auf Deutsch und die Teilnahme am Leben in Deutschland schnell gelingt. Hier bieten sich für jüdische wie auch für die betroffenen Zuwanderer aus muslimischen Ländern die gleichen Chancen und Möglichkeiten. Die Erfolgsgeschichte der jüdischen Zuwanderung gibt anderen Zuwanderern Hoffnung, dass Integration gelingen kann. Sie zeigt aber auch, wie entscheidend die Unterstützung durch eine Religionsgemeinschaft sein kann, die bereits in Deutschland zu Hause, Teil unserer Gesellschaft ist und entsprechende Hilfe zur Integration leisten kann und will.
Mit Zunahme der Anzahl der muslimischen Mitbürger nehmen ggf. auch antisemitische Tendenzen in der Bundesrepublik zu. Deutschland hat sich aber aus den Lehren der Geschichte dem Schutz der Juden verschrieben. Wie lässt sich diese Diskrepanz lösen?
Ich bin sehr besorgt über die zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft, ausgehend von der Hasskriminalität und der Wucht der verbalen Gewalt im Internet über die Angriffe auf Flüchtlingsheime, Synagogen und Minderheiten. Die Ängste der jüdischen Mitbürger vor der großen Anzahl der Flüchtlinge muslimischen Glaubens, die wir in unsere Gesellschaft aufnehmen und einem „importierten Antisemitismus“ nehme ich sehr ernst. Viele der Neuzugewanderten kommen aus Ländern mit nur eingeschränkter Religionsfreiheit und sind mit antisemitischen Vorurteilen sozialisiert worden. Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden bin ich mir einig, wenn wir definieren wollen, was unser Leben zusammenhält, dann gehört der Schutz jüdischen Lebens und jüdischer Kultur unverzichtbar dazu. Ein Angriff auf das jüdische Leben in Deutschland ist ein Angriff auf unsere Gesellschaft insgesamt und unsere demokratische Verfassung. Jeder, der in Deutschland lebt und dieses Land als seine neue Heimat begreifen will, hat sich an unsere Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu halten. Zu diesen gehört wesentlich die Absage an antisemitische Tendenzen und Äußerungen. Diesen Tendenzen und Äußerungen entgegenzuwirken, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie ist gleichermaßen von staatlicher wie von zivilgesellschaftlicher Seite im Rahmen von Bildungs- und Aufklärungsmaßnahmen zu erfüllen. Das berührt auch die Verantwortlichkeiten muslimischer Verbände und Vereinigungen. Ich bin froh, mit den Islamverbänden, die in der Deutschen Islam Konferenz vertreten sind, darin übereinzustimmen, dass die Vermittlung unseres grundgesetzlich verankerten Wertesystems ebenso wie der bekenntnisorientierte Religionsunterricht in deutscher Sprache verstärkt werden muss.
Wie könnte sich in Zukunft ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben von Juden, Muslimen und Christen in der Bundesrepublik gestalten?
Die Rahmenbedingungen für ein friedliches Zusammenleben in einer religiös pluralen Gesellschaft wie der unsrigen sind bereits vorhanden. Es sind – ich habe es bereits erwähnt – die Einhaltung unserer Gesetze und Werte. Zentral ist für mich das tolerante Miteinander in einer westlich geprägten offenen Gesellschaft. Außerdem haben wir ein Religionsverfassungsrecht, das zwar die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften vorsieht, aber durch gegenseitige Zugewandtheit und Kooperation geprägt ist. Dies gilt nicht nur für die Kontakte mit den christlichen Kirchen. Mit der jüdischen Gemeinschaft gibt es schon seit dem Bestehen der Bundesrepublik einen engen Kontakt auf allen staatlichen Ebenen. Mit den islamischen Verbänden und Organisationen ist dies spätestens seit Konstituierung der Deutschen Islam Konferenz als neuer Dialogplattform vor zehn Jahren auf dem Weg. Doch es kommt natürlich nicht allein auf den Staat an, wenn es um das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionen geht. Auch die Zivilgesellschaft muss sich hier verantwortlich fühlen. Daher ist der interreligiöse Dialog unter den Religionsgemeinschaften sehr wichtig, um sich untereinander besser kennenzulernen, Vorurteile abzubauen und gemeinsame Projekte zu realisieren. Vorbilder sind auf diesem Gebiet die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die sich in Deutschland bereits nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah organisiert hatten, um Konflikte, die aus Antisemitismus und Ablehnung fremder Religionen und Ethnien entstehen, im Keim zu ersticken. Der Trialog mit dem Islam hat in den letzten Jahren ebenfalls begonnen und zeigt Früchte. Ich würde mich freuen, wenn es beim interreligiösen Dialog noch zu einer weiteren Verstetigung und Vertiefung kommen würde.
Der Text ist zuerst erschienen in Kippa, Koscher, Klezmer? – Dossier „Judentum und Kultur“.