Monty Ott
Monty Ott ist Politik- und Religionswissenschaftler und forscht zu queer-jüdischer Theologie. Er schreibt Artikel zu tagespolitischen Themen, zum Beispiel in der taz, der ZEIT, der Jüdischen Allgemeinen, der Berliner Zeitung oder der WELT, in denen er explizit Position zu Antisemitismus, Erinnerungskultur und Queerness bezieht. Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich Ott in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit. Von 2018 bis 2021 war er zudem Gründungsvorsitzender von Keshet Deutschland e. V. – der jungen Initiative von jüdischen Queers und Friends/Allies. Monty Ott ist politischer Schriftsteller. 2022 belegte er beim Schreibwettbewerb „L’Chaim: Schreib zum jüdischen Leben in Deutschland!“ mit Ruben Gerczikow und dem Text „Hat Halle uns verändert? Ein Manifest mutiger, widerständiger Jüdischkeit“ den vierten Platz. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Ruben Gerczikow verfasster Reportageband „‚Wir lassen uns nicht unterkriegen‘ – Junge jüdische Politik in Deutschland“ erschienen.
In deinem mit Ruben Gerczikow verfassten Reportagenband „‚Wir lassen uns nicht unterkriegen‘ – Junge jüdische Politik in Deutschland“ kommen junge jüdische und politische Stimmen zu Wort. Was hat dich persönlich beeindruckt?
Das Engagement, das Durchhaltevermögen, die Kreativität und die Pluralität – anders, als es sich die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft oft vorstellt, gibt es viele mutige junge jüdische Stimmen, die etwas verändern wollen und es auch tun. Sie kämpfen oft gegen harte Widerstände und verfestige Narrative an, sie kämpfen um individuelle Sichtbarkeit als Menschen und nicht bloß als „Stellvertreter einer Gattung“. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass wir keine Enzyklopädie jungen jüdischen politischen Engagements geschrieben haben. Wir haben nichts Vollumfängliches oder Repräsentatives schreiben wollen, sondern ein gutes Buch, das man gerne liest. Wir wollten eine Plattform anbieten, auf der sich diese Menschen selbst darstellen können, ohne dabei uns all ihre Positionen zu eigen zu machen. Mein Co-Autor Ruben Gerczikow und ich haben darüber geschrieben, dass es zu oft eine Erwartungshaltung gegenüber Jüdinnen*Juden gibt. Wir sollen uns so darstellen, „wie wir uns selbst nicht sehen. Wir sollen ‚generisch jüdisch‘ sein, ohne Widersprüche und Brüche“, wie wir in unserem Buch schreiben. Und genau gegen diese Denkgewohnheiten begehren seit jeher junge Jüdinnen*Juden auf. Wir haben so viele selbstbewusste junge jüdische Stimmen in der Öffentlichkeit wie nie zuvor. Eine gute Freundin sprach mal über die schmerzhafte Leere, die in den vergangenen Jahrzehnten existierte. Die existierte, weil es kaum noch junge Jüdinnen*Juden gab, die hätten in die Öffentlichkeit treten können. Davon war ihre Generation geprägt. Heute ist das anders. Aber auch diese Entwicklung ist dynamisch und wir wissen noch nicht, wo sie uns hinführt. Was aber klar sein sollte:
Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Communities besteht aus jüdischen Zuwandernden, die seit 1990 nach Deutschland aus den ehemaligen Ländern der Sowjetunion eingewandert sind und deren Nachfahren. Das bildet sich ebenso wenig medial ab. Gleichermaßen sind nur die wenigsten Jüdinnen*Juden überhaupt dazu bereit, in die Öffentlichkeit zu treten. Denn das Licht der Öffentlichkeit ist nicht immer wärmend.
Es erhöht auch die Bedrohung. Mein Co-Autor spricht immer von einem unsichtbaren Fadenkreuz, das auf die Stirn jüdischer Menschen oder die Fassade jüdischer Einrichtungen gerichtet ist.
Was ist widerständige Jüdischkeit? Und was macht die durch den Angriff der Hamas auf Israel ausgelöste angespannte Situation und der vermehrt offen gezeigte Antisemitismus in Deutschland mit ihr?
Wir haben bisher bewusst darauf verzichtet, eine zu enge Festschreibung dessen vorzugeben. Ich glaube auch, dass es sich dabei um das Lebensgefühl oder ein unausgesprochenes Credo einer jungen jüdischen Generation handelt. Ein Lebensgefühl, das auf den Schultern großer Aktivist*innen und Denker*innen entstanden ist. Aktivist*innen und Denker*innen, die es in der Vergangenheit erkämpft haben – buchstäblich und im übertragenen Sinne. Menschen, die selbst zur Waffe griffen und gegen die nationalsozialistische Zustimmungsdiktatur kämpften. Menschen, die zum Stift griffen und gegen die Ungerechtigkeit anschrieben. Menschen, die ihre Stimme ergriffen und das Tuch des Schweigens und der Verdrängung durchschnitten, das diese Gesellschaft immer wieder versucht über ihre Beteiligung an der Shoa und ihren Kontinuitäten zu legen. Sie alle sind von dem Gefühl vereint, sich nicht durch die verbreiteten Erzählungen unterkriegen zu lassen, kritisch zu bleiben und eine Gegenkultur zu schaffen. Der Angriff der Hamas hat in erster Linie ein unvorstellbares Ausmaß an Schock und Trauer zur Folge gehabt. Der Terror ist unfassbar grausam, so sehr, dass die Vorstellungskraft kaum ausreicht. Und während die Staatsraison Israels, jüdisches Leben zu schützen, existenziell in Frage gestellt wurde, werden Jüdinnen*Juden überall in der Diaspora zum Ziel antisemitischer Angriffe. Doch nicht nur die Angriffe sind besorgniserregend. Auch das Schweigen, die Relativierung und die Glorifizierung des islamistischen Terrors sind es. Sie alle zusammen bilden ein Reservoir, aus dem die anti-jüdische Gewalt schöpft.
Es ist kein „entweder-oder“, man muss sich jetzt entscheiden. Und zwar nicht, ob man gegen Antisemitismus oder Rassismus, für Israel oder die palästinensische Selbstbestimmung kämpft – sondern ob man auf der Seite der Menschlichkeit steht, oder nicht. Dann ist klar, dass man jedem Antisemitismus und Rassismus die Stirn bietet und mit der überfallenen israelischen Zivilbevölkerung genauso mitfühlt, wie mit den Menschen im Gazastreifen, die durch die Hamas unterjocht wird und deren Leben durch die Taten der Hamas gerade bedroht werden.
Du bist aktiv auf X, ehemals Twitter, wie ist es für dich als queerer Jude heute in der Öffentlichkeit zu stehen? Was erwartest du von der deutschen Gesellschaft und deutschen Politik, um Hass und Diskriminierung entgegenzuwirken?
Tatsächlich bin ich ein sehr unsteter Twitter-User. Auch, weil viele der Missstände, die dieses Medium betreffen, sehr abschrecken. Gleichermaßen bot es die Möglichkeit, in der unübersichtlichen Lage des 7. Oktober 2023 zügig an teils gesicherte Informationen zu kommen. Ich möchte da gar nicht als queerer oder jüdischer Mensch sprechen, das erzeugt den Eindruck von Repräsentativität, die ich nicht für mich beanspruche.
Ich möchte als ich, Monty, sprechen. Als ein Mensch, der sich politisch für eine pluralistische Gesellschaft einsetzt. Eine Gesellschaft in der man ohne Angst verschieden sein kann. Und da erwarte ich nur eines: Haltung! Das bedeutet, dass man sich entschieden jeglicher Form des Antisemitismus entgegenstellt – und das nicht nur, wenn es gerade politisch opportun ist. Genauso erwarte ich, dass Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem anerkannt wird. Dementsprechend sollte die Debatte um ein konsequentes Vorgehen gegen Antisemitismus nicht migrationsfeindlich und rassistisch geframed und instrumentalisiert werden. Wer den Antisemitismus immer nur bei „den Anderen“ sieht, wird ihn nie begreifen – und will das vielleicht auch gar nicht.
Ich erwarte Haltung: Das bedeutet, den Betroffenen beizustehen und sich gegen jeden Antisemitismus einzusetzen – auch dann, wenn er nicht gerade so medial präsent ist, wie das derzeit der Fall ist!
Du warst Gründungsvorsitzender von Keshet Deutschland e. V. und forschst zu queer-jüdischer Theologie. Was hat sich seit der Gründung des Vereins 2018 getan? Wie selbstverständlich ist queeres Leben in jüdischen Gemeinden und in der Gesellschaft?
Als ich 2021 nicht erneut für den Vorstand kandidiert habe, lag das nicht nur an den durch Promotion, Vollzeitjob, Bildungsarbeit und schriftstellerischer Tätigkeit wenigen Ressourcen, die mir zur Verfügung standen. Ich wollte, dass ein queerer Verein von den unterschiedlichsten Identitäten repräsentiert und geführt wird, die das queer-jüdische Leben in Deutschland zu bieten hat. Und da ist in den vergangenen Jahren viel passiert. Es waren tolle Menschen, die den Verein geleitet und so viele engagierte Menschen, die ihn getragen haben. Wir sind angetreten mit dem Ziel, dass queeres jüdisches Leben sichtbar und selbstverständlich wird. Und wenn dieses Ziel bereits erreicht wäre, dann bräuchte es den Verein wahrscheinlich nicht mehr.
Tatsächlich stehen auch in der aktuellen Situation queere Jüdinnen*Juden besonders unter Druck – vor allem wegen des israelbezogenen Antisemitismus, der sich global in queeren Bewegungen ausbreitet. Aber, so muss man es wohl auch betonen: Es gibt heute viel mehr Verbündete. Es gibt viel mehr Menschen, die offen Stellung beziehen und es gibt mehr Sichtbarkeit. Doch Sichtbarkeit ist symbolisch wichtig, sie schafft aber nicht alle Probleme aus der Welt. Daran wird weitergearbeitet.
Die 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration tragen den Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“. Was bedeutet für dich „Zusammenhalt in Vielfalt“ und welche der 15 Thesen ist deine „Lieblingsthese“?
Es bedeutet für mich zu betonen, welche Kraft aus dem Zusammenwirken in Unterschiedlichkeit und dem Respekt für die Besonderheit des Gegenübers ausgeht. Wenn wir diese Gesellschaft wirklich zu einer besseren machen wollen, dann müssen wir Bündnisse aufbauen, die auf einer klaren Haltung beruhen. Dann müssen wir einen Zusammenhalt schaffen, der Situationen wie diese aushält, in dem solidarisch sein, an erster Stelle steht. Insofern ist These 6, also die Demokratische Debatten- und Streitkultur für mich eine „Lieblingsthese“. Wir brauchen diese Räume, in denen wir uns streiten können und in denen wir auch was aushalten müssen. Räume, in denen auch mal dumme Sachen gesagt werden können. Doch diese Räume brauchen ein Fundament und das ist die von mir beschriebene entschlossene Haltung, die bei offenem Antisemitismus und Rassismus eine klare Grenze zieht.
Vielen Dank!