Michael Lemling 4. September 2018 Logo_Initiative_print.png

Wir sind ja nicht zum Spaß hier

Muss der Buch­han­del poli­ti­scher werden?

Ein Blick über die Sachbuch-Auslagen unserer Buchhandlungen verrät viel über die erregte politische Grundstimmung unseres Landes: „Die große Gereiztheit“, „Wie Demokratien sterben“, „Der Niedergang“, „Ihr Scheinheiligen“ – so lauten die Titel derzeit erfolgreicher zeitgeschichtlicher Bestseller. Alle diese Bücher haben Untertitel, die vom Leser mindestens eine Haltung und oft auch sein Engagement fordern: Und was wir dagegen tun können!

Die Abteilung Zeitgeschichte/Politik ist die derzeit spannendste im deutschen Buchhandel. In ihren Büchern spiegeln sich alle großen außen- und innenpolitischen Konfliktlagen und versuchen Orientierung in unübersichtlichen Zeiten zu geben. Die Zeitgeschichte ist zugleich eine große Herausforderung für jeden Buchhändler, denn sie stellt auch ihm die Frage nach Haltung und Engagement. Es ist eine Frage nach den kulturpolitischen Chancen und gesellschaftlichen Aufgaben, die der Buchhandel in aufgewühlten Zeiten erfüllen kann – wenn er denn will.

Einerseits geht es hier um Meinungsfreiheit. Der deutsche Buchhandel hat eine starke Reaktion gezeigt, als Deniz Yücel und Aslı Erdoğan in der Türkei inhaftiert wurden und hat die Kampagnen für ihre Freilassung aktiv unterstützt. Die beiden sind aber nur die Spitze des Eisberges. Die Reporter ohne Grenzen, das PEN-Zentrum und die IG Meinungsfreiheit im Börsenverein des Deutschen Buchhandels haben hunderte Fälle von zu Unrecht inhaftierten Journalisten, Schriftstellern, Verlegern und Buchhändlern dokumentiert, die weiterhin Unterstützung brauchen. Buchhandlungen sind Orte, die die notwendige Öffentlichkeit schaffen können: durch Veranstaltungen, in ihren Schaufenstern und Regalen, mit ihren Kunden. Wir können zeigen, was „Bücherverbrennung“ heute bedeutet. Das kleinste Beispiel: Mahmud Doulatabadis beeindruckender Roman „Der Colonel“ über die iranische Revolution ist in seinem Heimatland bis heute verboten, in deutscher Übersetzung jedoch lieferbar. Ihm gebührt ein Platz in jeder Buchhandlung.

Zum zweiten geht es um Meinungsvielfalt. Die meisten politischen Diskurse der Gegenwart kranken daran, dass die Beteiligten kaum noch in der Lage sind, Gegenargumente zur eigenen Meinung anzuhören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Verlage bilden in ihren Programmen ein breites Meinungsspektrum ab. Im Buchhandel findet sich das nicht unbedingt wieder. Wer in seiner Buchhandlung nur die Bestseller und den Mainstream der Publikumsverlage anbietet, verschenkt den zivilgesellschaftlichen Beitrag, den seine Buchhandlung leisten könnte. Eine zeitgeschichtliche Abteilung ohne die vielen kleinen unabhängigen Verlage mit ihren hervorragenden Programmen präsentiert nur die halbe Wahrheit.

Drittens geht es um eine neue Debattenkultur. Wir beobachten seit Jahren, wie die politischen Kontroversen zahlreicher und die Meinungsverschiedenheiten tiefgreifender werden und zugleich die Unwilligkeit zu argumentativen Debatten wächst. Der Buchhandel hat eigentlich alle Möglichkeiten, Debatten zu organisieren, die diesen Namen wieder verdienen: die Räumlichkeiten, die Bücher, die Autoren, die Unterstützung der Verlage und sicherlich auch das Interesse ihrer Kunden.
Meinungsfreiheit und -vielfalt zählen zu den Grundvoraussetzungen des Buchhandels. Sie sind vielfach bedroht und brauchen unser Engagement.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

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