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Melisa Erk­urt

Melisa Erkurt ist Journalistin, ehemalige Lehrerin und Autorin des Buches „Generation haram“. Darin veranschaulicht sie klar und deutlich, warum das Bildungssystem Kindern mit Migrationshintergrund meist keine Chancen ermöglicht und die Kinder daher in veraltete Rollenbilder flüchten, Vorurteile bestätigen. Mit Vorträgen und Kolumnen will sie die Problematik der Diskriminierung in der Schule verstärkt in die Mehrheitsgesellschaft bringen.

1991 in Sarajevo geboren, floh Melisa Erkurt als kleines Kind mit ihrer Mutter vor dem Bosnienkrieg nach Österreich. In Wien studierte sie Germanistik, Psychologie und Philosophie, arbeitete für das biber-Magazin und ist aktuell unter anderem Reporterin für den Fernsehsender ORF. Für die taz schreibt sie die Kolumne „Nachsitzen“ über bildungspolitische Themen in der postmigrantischen Gesellschaft.

Vielen Dank, Melisa Erkurt, für das Aufrütteln der Bildungssysteme!

Sie haben als Lehrerin an Wiener Schulen gearbeitet und sind jetzt als Journalistin tätig, wo Sie vorrangig über Bildungs- und Integrationsthemen berichten. Wie kam es dazu? Und wieso liegen Ihnen diese Themen so sehr am Herzen?
Meine gesamte Existenz baut darauf auf, dass vor über 20 Jahren zufällig eine Lehrerin an mich geglaubt hat in diesem Bildungssystem, das Arbeiterkinder mit meiner Migrationsbiografie sonst nicht durchlässt. Es ist ein Skandal, dass sich eines der teuersten Bildungssysteme Europas auf solche Zufälle verlässt – auch heute noch, über 20 Jahre später bei meinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern. Es ist ein Skandal, dass Bildung noch immer vererbt wird.

„Meine gesamte Existenz baut darauf auf, dass vor über 20 Jahren zufällig eine Lehrerin an mich geglaubt hat.“

Im August erschien Ihr Buch „Generation haram“, welches aus einer Reportage für das österreichische biber-Magazin über die Verbotskultur muslimischer Jugendlicher entstand. Als Leiterin eines Schulprojekts haben Sie beobachtet, wie muslimische Jungs in der Schule die muslimischen Mädchen mit dem Wort „haram“ – „verboten“ auf Arabisch – zurechtweisen. Was sagt das über die Probleme des heutigen Bildungssystems aus?
Diese Jugendlichen fühlen sich verloren in einer Gesellschaft, die ihnen nichts zutraut, außer den Weg in die Arbeitslosigkeit oder den Dschihad. Sie nehmen sich die einzig verfügbare Macht, und zwar die über die Mädchen. Die Lehrpersonen glauben diese Jungs sind halt so, das ist ihre Kultur. Dabei sind das die einzig verfügbaren Rollen, die man ihnen gewährt. Wo sind sie denn sonst die Muhammeds und Alis? Ich sehe sie nicht in der Politik, in den Medien, in den Chefetagen – das System sortiert sie aus.

„Diese Jugendlichen fühlen sich verloren in einer Gesellschaft, die ihnen nichts zutraut.“

In dem Buch gehen Sie unter anderem darauf ein, dass viele wichtige Themen wie Antisemitismus und Homophobie im Unterricht nicht ausreichend besprochen werden. Woran liegt das? Und was müsste Ihrer Meinung nach getan werden?
Die Ausbildung der Lehrpersonen müsste reformiert werden und an die Bedürfnisse, Ressourcen und Herausforderungen der Jugendlichen von heute angepasst werden. Viele Lehrpersonen fühlen sich nicht bereit, über solche Themen zu sprechen, weil ihnen in ihrer Ausbildung nicht beigebracht wurde wie. Oft gibt es in den einzelnen Unterrichtsstunden auch einfach wenig Zeit, komplexe Themen zu besprechen – darauf muss unser Lehrplan und unsere Fächerauswahl endlich Rücksicht nehmen.

Sie heben im Buch hervor, dass die Potenziale, die Kinder mit Migrationshintergrund mitbringen, also interkulturelle Kompetenzen und Mehrsprachigkeit, meist nicht entsprechend genutzt und gefördert werden. Woran liegt das?
Auch der Umgang mit Mehrsprachigkeit kommt in der Ausbildung noch immer nicht genug vor. Aber auch die Gesellschaft ist Mitschuld, sie sieht Sprachen wie Türkisch, Serbisch oder Arabisch als minderwertige Sprachen. Die Politik diskutiert immer mal wieder über eine Deutschpflicht am Pausenhof. Kinder, die Englisch und Deutsch, oder Französisch und Deutsch können, werden dagegen als polyglotte Personen bezeichnet und für ihre Mehrsprachigkeit bewundert.

„Den ganz normalen strukturellen Alltagsrassismus, den haben Migrantinnen und Migranten nicht erfunden.“

Die 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration tragen den Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“. Was bedeutet für Sie „Zusammenhalt in Vielfalt“ und welche der 15 Thesen ist Ihre „Lieblingsthese“?
These 7 „Einwanderung und Integration gehören zu unserer Geschichte“, wo klar gemacht wird, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. In Österreich spricht man das so nie aus. Man spricht Migrantinnen und Migranten dafür gerne ihre Daseinsberechtigung ab, wenn sie etwas machen, was der Mehrheitsgesellschaft nicht passt, wenn sie nicht mehr nur still, dankbar und hart arbeitend sind – sondern Teilhabe einfordern, sich einen Platz am Tisch erkämpfen. Wir brauchen dringend einen ehrlichen Diskurs auf Augenhöhe, ein Eingeständnis dafür, dass nicht Migrantinnen und Migranten Probleme machen, sondern oft die sind, die die Probleme haben; in der Schule, bei der Arbeits- und Wohnungssuche diskriminiert werden. Den ganz normalen strukturellen Alltagsrassismus, den haben Migrantinnen und Migranten nicht erfunden.

Vielen Dank!

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