Das Gegenteil von Integration
Schlechte und prekäre Arbeit verhindern kulturelle Teilhabe
„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ – dieser Satz von Max Frisch stammt aus dem Jahr 1965, hat an Aktualität aber nichts eingebüßt. Auch heute ist der Ruf nach Arbeitskräften laut und allgegenwärtig und richtet sich zum Teil nach außen, wenn Deutschland sich aufstellt, die Attraktivität des Landes für den globalen Arbeitskräftemarkt zu erhöhen. Gleichzeitig steht die funktionale Seite, mit der Menschen vor allem auf ihr Dasein als Arbeitskraft reduziert werden, auch aktuell zu häufig an erster Stelle.
Arbeit ist ein zentraler Faktor für eine gelingende gesellschaftliche Integration – unabhängig von der Herkunft. Arbeit ermöglicht ein selbstständiges Einkommen, Kontrolle über die eigene Lebensgestaltung, relative Sicherheit und Teilhabe an den gesellschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten eines Landes. Oder besser, all dies sollte durch Arbeit ermöglicht werden. Die Realität sieht leider häufig anders aus: Armut trotz Arbeit oder ein Leben in ständiger Unsicherheit. Schlechte, prekäre Arbeit ist gerade kein Faktor der Integration, sondern das genaue Gegenteil. Sie reduziert Menschen auf ihre Funktion als Arbeitskraft, verwehrt ihnen gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe und legt sie auf einen niederen und wenig angesehenen Platz in der Gesellschaft fest.
Als Gewerkschaften ist es unsere Aufgabe und unser Anspruch, Arbeit so zu gestalten, dass sie tatsächlich ein Beitrag zu gelingender Integration ist – indem Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit wahrgenommen und nicht auf ihre Arbeitskraft reduziert werden. Es gibt viele Indikatoren, an denen wir ablesen können, ob es sich um Arbeitsverhältnisse handelt, die tatsächlich „Integration auf Augenhöhe“ ermöglichen: faire und auskömmliche Bezahlung, möglichst in tarifgebundenen Unternehmen; gute Arbeitsbedingungen in einer Umgebung, die Menschen nicht physisch oder psychisch krank machen; soziale und arbeitsvertraglich geregelte Absicherung bei Krankheit, Unfällen etc.; die Möglichkeit, über Betriebs- oder Personalräte und andere Formen der Mitbestimmung Einfluss auf die eigenen Arbeitsbedingungen zu nehmen.
Für einen großen Teil der Beschäftigten sind diese Ansprüche an gute Arbeit erfüllt. Sie haben sie zusammen mit ihren Gewerkschaften erkämpft und sind bereit, das einmal Errungene auch immer wieder aktiv zu verteidigen. Für andere werden diese Ansprüche bis heute systematisch unterlaufen. Gesellschaftspolitisch ist das insbesondere dann problematisch, wenn es sich um identifizierbare Gruppen handelt. Schlechte und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse für Menschen aus prekären sozialen Lagen oder mit Migrationsgeschichte bestätigen und verfestigen Bilder und Vorurteile gegen diese Gruppen. Schlechte Arbeit kann zum Gegenteil von Integration werden.
Um das zu verhindern, sind wir als Gewerkschaften gefordert. Noch stärker gilt das für den Staat, der die Rahmenbedingungen so gestalten muss, dass die systematische Schlechterstellung bestimmter Gruppen möglichst ausgeschlossen wird. Eine besondere Verantwortung gibt es bei der Integration durch Arbeit für Menschen und Menschengruppen, die von Diskriminierung betroffen sind. Denn häufig stehen diese Menschen unter dem Druck, jede Arbeit annehmen zu müssen, weil von ihr das finanzielle Überleben oder der legale Aufenthaltstitel abhängt.
Ein konkretes Beispiel: Seit dem 1. Januar 2023 gilt das Chancenaufenthaltsrecht. Es ermöglicht sogenannten Geduldeten, in einen langfristigen Aufenthaltstitel zu wechseln. Das setzt ein bestimmtes Maß an Integration dieser Personen voraus, unter anderem die Lebensunterhaltssicherung durch Arbeit. Erste Daten der Bundesagentur für Arbeit aus dem März 2024 zeigen, dass eine große Zahl der Geduldeten die geforderte Integrationsleistung erbracht hat und voraussichtlich in einen dauerhaften Status wechseln kann.
Das Instrument funktioniert also, zeigt aber die zwei Seiten der Integration durch Arbeit für Menschen mit Migrationsgeschichte: den gelungenen Wechsel in einen sichereren Aufenthaltstitel durch Arbeit, aber auch die Gefahr, jede Arbeit annehmen zu müssen, weil der Aufenthalt von ihr abhängt. Notwendig bleiben der gewerkschaftliche Schutz, aber auch gesetzliche Regelungen, damit wir tatsächlich von gelingender Integration auf Augenhöhe sprechen können.
Arbeit ist nur ein Teil der Integration. Sie kann nur gelingen, wenn es auch eine gesellschaftliche Bereitschaft dazu gibt. Abwertende Debatten über Bürgergeldbezieher oder die Verächtlichmachung von Migrantinnen als angebliche Sozialschmarotzer gefährden gelingende Integration. Wer in Deutschland lebt und arbeitet, muss auch demokratisch mitentscheiden können. Mit dem neuen Einbürgerungsrecht wird diese demokratische Lücke endlich für viele Millionen Menschen potenziell geschlossen, weil sie als deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger an Wahlen teilnehmen können. Im betrieblichen Zusammenhang sind wir schon lange weiter: 1972 wurde aus dem Betriebsverfassungsgesetz die Vorschrift gestrichen, nach der die deutsche Staatbürgerschaft die Voraussetzung für die Wählbarkeit in betriebliche Vertretungsorgane ist. Seitdem gelten im Betrieb alle als „Staatsbürger“ und verfügen über das aktive und passive Wahlrecht. Für die betriebliche Integration war das ein großer Schritt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2024.