Felix Zimmermann 27. September 2023 Logo_Initiative_print.png

Ein Com­pu­ter­spiel als Ort der Erinnerung?

Ein­schät­zun­gen zum Holo­caust-Museum im Shoo­ter-Mega­hit „Fort­nite“

Am 15. August 2023 gab Game Designer Luc Bernard auf der Social-Media-Plattform X (ehemals Twitter) die Veröffentlichung des „Voices of the Forgotten Museum“ bekannt, „the first Digital Holocaust Museum in the metaverse“, wie er selbst schreibt. Wer dieses Museum besuchen möchte, muss zuerst einmal das Computerspiel „Fortnite“ auf Konsole oder PC starten. Das Spiel ist kostenlos erhältlich, ein sogenannter „Free-to-Play-Titel“. Gemeint ist damit, dass das Spiel ohne Kosten heruntergeladen und gestartet werden kann, in der Regel allerdings mehr oder weniger subtil zu sogenannten „In-Game-Käufen“ bzw. „Mikrotransaktionen“ anregt, um dann doch Geld in die Kassen zu spülen.

Wichtig ist, zu verstehen, dass „Fortnite“ schon lange nicht mehr „nur“ ein „Battle-Royale-Shooter“ ist, also ein Spiel, bei dem – im Falle von „Fortnite“ – bis zu 100 Spielerinnen und Spieler auf einer Insel abgeworfen werden, sich dort mit Ausrüstung wie Waffen, Schilden und Tränken ausstatten, und dann gegeneinander kämpfen, bis nur noch ein Spieler bzw. Spielcharakter übrig ist.

Schätzungen zufolge kann „Fortnite“ mittlerweile zwischen 400 und 500 Millionen „registrierte User“ vorweisen, von denen zu jedem Zeitpunkt ungefähr drei Millionen gleichzeitig online sind. Diese enorme Basis an Spielerinnen und Spielern, von denen – ebenfalls nach Schätzungen – knapp über 60 Prozent unter 24 Jahre alt sind, ist nicht nur potenziell ungeheuer lukrativ, sondern auch Zielgruppe für Marketingmaßnahmen aller Art. Deswegen verfolgt beispielsweise Disney eine intensive Kooperation mit Epic Games und erlaubt dem Entwicklungsstudio, Outfits, sogenannte „Skins“ von Darth Vader bis Iron Man im Spiel zum Verkauf anzubieten. Auch groß angelegte Konzerte von Travis Scott oder Ariana Grande haben in der Spielwelt von „Fortnite« bereits stattgefunden. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten, sowohl für Epic Games und „Fortnite“ als auch für die Künstlerinnen und Künstler, die mit „Fortnite“ ihre Zielgruppe erreichen und erweitern können.

In diesem Sinne hat sich „Fortnite“ über die Jahre von einem Battle-Royale-Shooter hin zu einer Plattform für alle möglichen Aktivitäten entwickelt, was „Fortnite“ bisweilen sogar den Ruf einge-bracht hat, das erste echte Metaverse zu sein, also – grob gesagt – eine virtuelle Wirklichkeit, in der sich Menschen aufhalten und verschiedenen Aktivitäten wie eben z. B. Konzertbesuche unserer realweltlichen Gesellschaft nachgehen können.

Eine entscheidende Rolle nimmt hierbei „Fortnite Creative“ ein, ein Modus, der es Spielerinnen und Spielern ermöglicht, auf Basis von „Fortnite“ bzw. auf Basis des zugrundeliegenden Grafikgerüsts Erlebnisse zu erstellen, die sich signifikant vom klassischen Battle-Royale-Modus unterscheiden können. Von Horrorspielen bis Farmsimulationen ist hier vieles möglich. Und irgendwo dort, in „Fortnite Creative“, versteckt sich nun auch das „Voices of the Forgotten Museum“.

„Verstecken“ ist hier das richtige Stichwort, denn eine Sache muss klar sein: Das Museum ist kein offizielles Angebot des Entwicklers und Publishers Epic Games. Im Gegenteil: In der schieren Masse an Angeboten in „Fortnite Creative“ ist es äußerst unwahrscheinlich, dass jemand zufällig auf dieses Museum stößt. Viel wahrscheinlicher ist es, dass eine Person auf einer anderen Plattform auf den sogenannten „Inselcode“ des Museums (1511-8598-6202) aufmerksam wird und dann ganz bewusst das Museum aufruft. Das „Voices of the Forgotten Museum“ wird daher wohl kaum Millionen Menschen erreichen. Dafür ist dieses Museum zu versteckt und zu weit weg von den Erlebnissen, die Spielerinnen und Spieler von „Fortnite“ erwarten.

Und damit nun zum Museum selbst. Wer die Insel besucht, startet auf einem großen Vorplatz mit Blick auf das rechteckige, weiße Museumsgebäude. Zur Linken wurde Anfang September noch ein zweites, kleineres Gebäude hinzugefügt, das sich der Lebensgeschichte des Holocaust-Überlebenden Gidon Lev widmet. Wir können uns völlig frei durch die Museumsgebäude bewegen, einen vorbestimmten Weg oder eine Art Führung gibt es nicht.

Fast alle Aktionen, die sonst in der Welt von „Fortnite“ möglich sind, sind deaktiviert. Schießen ist nicht möglich, denn es gibt keine Waffen. Das Bauen von Türmen und Plattformen, das Bestandteil des Battle-Royale-Modus ist, ist ebenfalls nicht möglich. Auch die Nutzung von „Emotes“ (also die Möglichkeit, eine Stimmung über die Spielfigur auszudrücken, z. B. durch Lachen oder Winken) oder von „Fortnite“-typischen Tänzen ist deaktiviert. Es ist dementsprechend nur möglich, durch das Museum zu laufen und zu sprinten, umherzuspringen und sich zu ducken.

Dass all die genannten Funktionen deaktiviert wurden, ist gewiss kein Zufall: Das Ziel ist hier, eine missbräuchliche Nutzung des Museums zu verhindern. Luc Bernard wurde nach Bekanntgabe seines Plans, ein Holocaust-Museum in „Fortnite“ zu veröffentlichen, auf der Plattform X von Antisemiten aufs Schärfste attackiert, vor allem von Anhängern des US-amerikanischen Rechtsextremisten Nick Fuentes. Man möchte sich die Hassverbrechen nicht vorstellen, die diese Menschen im virtuellen Museum verüben würden, wenn sie die Möglichkeit hätten. Doch: In dieser Hinsicht ist das Museum abgesichert.

Aber was zeigt dieses Museum und wie? Thematisch ist das Hauptgebäude hallenweise in Bereiche wie „Historical Figures“, „Vichy Tunisia“, „The Porajmos“ und „After the Holocaust“ unterteilt. Einige dieser Bereiche, wie auch das separate Gebäude, das Gidon Lev gewidmet ist, hat Bernard erst nach Erscheinen des Museums nachträglich ergänzt. Gerade die flexible Erweiter- und Anpassbarkeit ist sicherlich ein Vorteil eines virtuellen Museums, wirft allerdings gleichsam die Frage danach auf, wer die Macht hat, diese Anpassungen vorzunehmen und inwiefern inhaltliche Kontrollinstanzen existieren. Denn andererseits ließe sich fragen, ob nicht gerade auch eine gewisse Konstanz und Verlässlichkeit wichtig für ein gelungenes Museum sind.

Insgesamt auffällig im Museum ist die Fokussierung auf historische Persönlichkeiten. Es fällt hier schwer, einen roten Faden zu identifizieren. Am ehesten liegt dem in Frankreich aufgewachsenen und mittlerweile in den USA wohnhaften Luc Bernard, der als Jugendlicher begann, sich intensiver mit seiner jüdischen Familiengeschichte auseinanderzusetzen, daran, die Rolle der französischen Vichy-Regierung während des Zweiten Weltkriegs aufzuarbeiten. Besonders wichtig ist es ihm, aufzuzeigen, dass die Vichy-Regierung mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaborierte und sich aktiv an Judenverfolgung und Holocaust beteiligte, und das nicht nur in Frankreich, sondern auch in Ländern wie Marokko, Tunesien oder Algerien.

Positiv hervorzuheben ist, dass es Bernard gelingt, heterogene Opfergruppen darzustellen und sich in diesem Sinne an Lücken einer (populären) Erinnerungskultur abzuarbeiten. So wird bei einem Rundgang durch das Museum deutlich, dass neben Jüdinnen und Juden beispielsweise auch queere Personen sowie Sinti und Roma den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Den historisch-politischen Kontext der gezeigten Personen müssen Besucherinnen und Besucher des Museums aber weitestgehend selbst herstellen, da die überwiegende Mehrheit der Ausstellungsstücke zwar Einzelpersonen in wenigen Sätzen vorstellt, darüber hinaus allerdings kaum Einordnung liefert.

Über diese kuratorischen Schwächen hinaus weiß auch die konkrete Gestaltung der Ausstellungsstücke nicht zu überzeugen. So gibt es im Hauptgebäude des Museums ausschließlich ein Darstellungsformat: ein großformatiges Bild, in der Regel einer Person zur Linken und rechts daneben eine Texttafel mit weißem Text auf schwarzem Grund. Auch im Gebäudekomplex, der sich Gidon Lev widmet, wird diese grundlegende Inszenierungsform nicht aufgebrochen, doch lässt sich hier bereits eine Weiterentwicklung feststellen: Die elf Stationen, die sich Levs Leben widmen, sind voll vertont – und zwar von Gidon Lev selbst. Sobald wir uns einem der Bild-Text-Arrangements nähern, liest Lev die Bildbeschreibung vor.

Die Qualität der ausschließlich englischsprachigen Texte schwankt allerdings museumsübergreifend stark, weist oft Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler auf und ist von der inhaltlichen Tiefe am ehesten mit schlechteren Wikipedia-Einträgen zu vergleichen. Meist werden Geburtsjahr, einige Informationen zum Handeln der Person und ein Todesdatum genannt. Woher die Informationen und Bilder stammen, ist unklar. Es ist wahrscheinlich, dass dieses Museum nicht nur bei Holocaust-Forscherinnen und -Forschern, sondern auch bei Museumpädagoginnen und -pädagogen Irritationen hervorrufen dürfte.

Gleichzeitig wäre es zu kurz gegriffen, das „Voices of the Forgotten Museum“ als ein gescheitertes Unterfangen zu bezeichnen. Die Mängel sind offensichtlich, doch ist die Bewertung des Museums komplex. Luc Bernard hatte bereits 2008 einen ersten Versuch unternommen, Computerspiele als Medium der Holocaust-Erinnerung einzusetzen. Damals war die Zeit noch nicht reif dafür, Computerspiele derart einzusetzen. Sein Versuch, das Spiel „Imagination Is The Only Escape« umzusetzen, scheiterte. Es war in dieser Zeit, als die Anti-Defamation League ihr in Forschungskreisen viel zitiertes Diktum formulierte: „The Holocaust should be off-limits for video games.“

In den letzten 15 Jahren hat sich viel getan. Schwindendes Wissen, nicht nur in jüngeren Generationen über den Holocaust, das nahende Ende der Ära der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und das Wiedererstarken des Rechtsextremismus weltweit haben auch für alteingesessene Institutionen der Holocaust-Erinnerung wie beispielsweise Gedenkstätten mehr als deutlich gemacht, dass neue Wege gefunden werden müssen, um die Erinnerung an den Holocaust lebendig zu halten und gegen Antisemitismus vorzugehen.

Nicht zuletzt deswegen lässt sich im Moment eine Art „Serious-Game-Boom“ beobachten. Titel wie „Through the Darkest of Times“ oder „Attentat 1942“ waren sicherlich wegweisend und in den späten 2010er-Jahren noch Ausnahmeerscheinungen, doch mittlerweile scheint jedes Museum, jede Gedenkstätte ein Serious Game zu entwickeln bzw. entwickeln zu lassen oder zumindest darüber nachzudenken. Jeder möchte ein Stück abhaben vom Kuchen, möchte mit Computerspielen endlich die viel zitierten „jungen Zielgruppen“ erreichen, die klassischen Bildungsformaten zu entschwinden drohen. Entsprechend werden Potenziale und Grenzen von Serious Games aktuell wieder intensiv diskutiert.

Auch Luc Bernard konnte Anfang des Jahres und damit tatsächlich 15 Jahre nach seinem ersten Versuch mit „Imagination Is The Only Escape“ seinen Traum verwirklichen und ein Serious Game zum Holocaust veröffentlichen. „The Light in the Darkness“ behandelt die Themen, die Bernard auch in seinem Museum betont: Wir folgen einer jüdischen Familie im Frankreich der Vichy-Regierung und sind machtlos, als sie deportiert wird.

Mit „The Light in the Darkness“, aber ganz besonders mit dem „Voices of the Forgotten Museum“ hat sich Luc Bernard an die Spitze einer computerspielbasierten Holocaust-Erinnerung katapultiert, vor allem auch, weil im US-amerikanischen Erinnerungskulturdiskurs die Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland in diesem Bereich wie z. B. das Projekt „Erinnern mit Games“ der Stiftung Digitale Spielekultur nicht rezipiert worden scheinen. So scheint Bernard mit seinem Vorstoß in das Feld der Computerspiele wie aus dem Nichts zu kommen. Er wurde, so schreibt er es selbst auf X, mittlerweile „from the biggest orgs that fight hate“ kontaktiert.

Die konkrete Umsetzung des Museums ist sicherlich kritikwürdig, auch Bernards Selbstinszenierung als Retter der Holocaust-Erinnerung, der all das besser macht, was die existierenden Organisationen jahrelang versäumt hätten, muss irritieren. Doch es ist unbestreitbar, dass Bernard etwas in Bewegung gebracht hat. Die weltweite Aufregung über das „Fortnite“-Museum ist zu groß, als dass es auch von etablierten Playern der Holocaust-Erinnerung noch ignoriert werden könnte. Diese müssen sich jetzt dringend die notwendige Expertise in ihre Organisationen holen, um produktiv mit dem Medium Computerspiele umgehen und fundierte Kritik – auch am „Fortnite“-Museum – üben zu können. Denn dieses Museum kann nur der Anfang sein, dafür weist es zu viele geschichtswissenschaftliche und museumspädagogische Schwächen auf und nutzt zu wenig die Potenziale spielerischer Weltaneignung, die Computerspiele eigentlich so interessant aus erinnerungskultureller Perspektive machen. Aber es ist ein Vorstoß in die Welt der Milliarden Dollar schweren Blockbuster, eine Welt, die wir – neben all den Serious Games, die im Moment entstehen – nicht aus den Augen verlieren dürfen.

Der Verfasser dankt Carolin Puckhaber (Universität Oldenburg) für Einschätzungen und Ergänzungsvorschläge zu diesem Beitrag.

Dieser Test ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.

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