Johann Hinrich Claussen 3. Februar 2023 Logo_Initiative_print.png

Orte der Mahnung

Anti­se­mi­ti­sche Bild­werke in christ­li­chen Kirchen

Die allermeisten, auch kulturpolitischen Debatten enden nicht mit einer sinnvollen Verständigung oder einem tragfähigen Kompromiss. Sie verebben und versanden in allseitiger Ermattung, laufen einfach in Langeweile aus oder werden von anderen Erregungswellen überrollt und von neuen Problemen ersetzt. So weit, so resigniert.

Doch manchmal kommt ein Gesprächsbeitrag, der eine eigentlich erschöpfte Debatte mit neuem Leben erfüllt. Genau dies ist nun dem Architekturkritiker, Kunsthistoriker und Journalisten Nikolaus Bernau gelungen. Er stellt die Diskussion über den Umgang mit judenfeindlichen Bildwerken an und in christlichen Kirchen auf eine bessere Grundlage und verleiht ihr mit überraschenden Einsichten einen neuen Schwung. Dabei hatte ich gerade den Eindruck gewonnen, in dieser hochaufgeregten Diskussion würde es nichts Interessantes mehr zu hören geben.

Für seinen profunden Aufsatz in der neuen Ausgabe der Zeitschrift „Kunst und Kirche“ hat Bernau eine mühselige Arbeit auf sich genommen, für die im Meinungsgetümmel niemand sonst die Zeit gefunden hat. Er hat zunächst umsichtig das Feld vermessen und untersucht, wo eigentlich die infamen „Judensauen“ heute noch zu finden sind. Manches, was er da zusammenträgt, war mir bekannt: die Stadtkirche zu Wittenberg, St. Sebaldus in Nürnberg, St. Nikolai in Zerbst. Anderes wusste ich nicht. Beispielsweise, dass solche Bildwerke auch an mittelalterlichen Privat- und Rathäusern angebracht waren.

Auch die geografische Streuung hat mich überrascht: von Deutschland ins Elsass, in die Schweiz, nach Österreich und Tschechien, zur Slowakei und nach Polen, im Westen nach Frankreich und Belgien, schließlich hoch in den Norden bis nach Dänemark und Schweden. Und sogar in Portugal findet sich eine dieser „Sauen“. Es ist also nicht allein ein deutsches, sondern eben auch ein europäisches Thema. Allerdings mit der Ausnahme von England, wo es keine solche Bildwerke geben soll – was der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann aber damit erklärt hat, dass die jüdische Bevölkerung schon vor Aufkommen dieses Motivs vertrieben worden war.

Bernau moniert jedoch, dass immer noch ein wirklich präziser Überblick über alle Exemplare dieses Motivs fehle. Das sei nicht nur ein statistisch-archivalisches Problem. Vielmehr ließe sich deshalb nicht genau sagen, ob diese „Sauen“ eigentlich „im Vergleich zu anderen antijüdischen Motiven tatsächlich von besonderer Wirkungsrelevanz waren oder letztlich eine Ausnahme, die erst in jüngster Zeit an Relevanz gewann“. Dann würde die Beschäftigung mit ihnen eher etwas über uns heute sagen als über die Menschen damals. Leider wissen wir fast nichts über die Motive der Auftraggeber, ausführenden Bildhauer und die Reaktionen der Menschen im Mittelalter sowie in der frühen Neuzeit.

Sehr verdienstvoll ist, dass Bernau 46 betroffene evangelische und katholische Kirchen angeschrieben und ihnen einen kurzen Fragebogen zugesandt hat. Denn er wollte herausfinden, welche unterschiedlichen Formen des Umgangs die jeweiligen Kirchengemeinden entwickelt und welche Erfahrungen sie dabei gemacht haben. Der Rücklauf war erstaunlich hoch. Drei Viertel haben ihm geantwortet. Das vierte Viertel hat er noch einmal angerufen. Einige erklärten ihr Schweigen mit Personalmangel oder mit der Angst vor Anfeindung.

Insgesamt fand Bernau in den Antworten Belege „einer oft tiefgehenden historischen, moralischen und religiösen Selbstbefragung“, die in den Medien zumeist nicht angemessen dargestellt wird. Die Debatten in den Kirchengemeinden und ihren jeweiligen Kontexten waren fast immer lang und intensiv. Die jeweiligen „Lösungen“ wurden durchweg als vorläufig bezeichnet. Die Allermeisten haben sich aber für einen Verbleib der problematischen Bildwerke entschieden, weil man sich nur „in situ“ mit diesen Zeugnissen von Verirrung und Schuld angemessen auseinandersetzen könne. Die Übergabe an ein Museum wurde von allen abgelehnt. Man würde so ein eigenes Problem an eine staatliche Institution delegieren: „Damit machen wir es uns zu einfach!“

Sinnvoller erschienen den Kirchengemeinden, über diese Bilder transparent zu informieren, sich öffentlich von ihnen zu distanzieren und sie als Orte der Mahnung zu nutzen. Einige setzen den alten Bildern des Hasses und der Verachtung heutige Kunstwerke entgegen. Über Gestalt und Wirkung dieser Gegenbilder würde ich gern noch mehr erfahren.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.

Copyright: Alle Rechte bei Initiative kulturelle Integration

Adresse: https://www.kulturelle-integration.de/2023/02/03/orte-der-mahnung/