Josef Schuster & Hans Jessen 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

„Orga­ni­sa­ti­ons- und Ver­ant­wor­tungs­ver­sa­gen in gro­ßem Ausmaß“

Josef Schus­ter im Gespräch

Monate bevor die documenta fifteen überhaupt eröffnete, regte sich bereits Kritik und Bedenken: Werde es Antisemitismus auf der Kunstschau geben? Für seine Warnungen wurde der Zentralrat der Juden vorab von vielen Seiten kritisiert. Im Juni haben sich diese bestätigt: Antisemitische Motive wurden ausgestellt. Hans Jessen spricht mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden Josef Schuster.

Hans Jessen: Herr Schuster, wir führen dieses Interview wenige Stunden, nachdem Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas bei einer Pressekonferenz im Kanzleramt Israel „50 Holocausts an den Palästinensern“ vorgeworfen hatte. Bundeskanzler Olaf Scholz reagierte mit Empörung – aber erst nach der Pressekonferenz. Was war das für ein Moment?
Josef Schuster: Das waren Holocaust-Relativierung und Antisemitismus auf der Bühne des Kanzleramts. Ich bin ehrlicherweise schockiert, dass in Deutschland, im Jahr 2022, im Bundeskanzleramt, solche Äußerungen zunächst unwidersprochen gemacht werden können. Offensichtlich war es so, dass Bundeskanzler Scholz in dem Moment nicht der Gedanke gekommen ist, dass er darauf sofort etwas sagen müsse, auch wenn es die letzte Frage der Pressekonferenz war. Ich bin auch irritiert über den nachfolgenden Handschlag mit Abbas.

Unser eigentliches Thema ist die documenta fifteen. Sind Sie froh, wenn sie am 25. September schließt?
Wir erleben, wie immer neue Ausstellungsstücke mit antisemitischen Motiven entdeckt werden und von einem darunterliegenden antisemitischen Narrativ zeugen. Die documenta dauert, in dieser Form, viel zu lange.

Wie ist Ihr Befund nach gut einem halben Jahr heftiger Auseinandersetzung um die documenta fifteen: Zeigt sich hier Antisemitismus als Strukturelement der Kunst- und Kulturszene – oder haben wir es eher mit einem Organisations- und Verantwortungsversagen zu tun?
Ich neige nicht zu Verallgemeinerungen. Ich halte es für wichtig, dass sich die Kunst- und Kulturszene offen und ehrlich mit dem Antisemitismus in der eigenen Branche befasst, insbesondere mit dem israelbezogenen Antisemitismus. Bei der documenta fifteen gab es ein Organisations- und Verantwortungsversagen in großem Ausmaß. Institutionell sind es die Veranstalter der documenta. Dem Aufsichtsrat ist es zwar gelungen, mit der Abberufung der Geschäftsführung ein Zeichen zu setzen – aber wie wenig dieses Zeichen bewirkt, sieht man an der Berufung des neuen Geschäftsführers und auch daran, dass es nicht gelungen ist, eine documenta ohne Antisemitismus zu präsentieren.

Sie haben früh, seit Januar, auf das Risiko antisemitischer Tendenzen im Kontext der documenta fifteen hingewiesen – warum sind Sie damit nicht durchgedrungen?
Zunächst muss man sagen, dass wir auf die Sorge um israelbezogenen Antisemitismus hingewiesen haben. Das, was wir jetzt sehen, habe ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können. Warum wir nicht durchgedrungen sind? Uns wurde immer wieder von verschiedenen Stellen erklärt, man habe sich rückgekoppelt und es wurde versichert, dass es keinen Antisemitismus auf der documenta geben werde.

Frau Roth sagt, sie bzw. ihre Behörde habe sehr früh versucht, ein Expertengremium einzusetzen, um im Vorfeld der documenta fifteen die Antisemitismusgefahr wissenschaftlich fundiert zu thematisieren – der Vorschlag sei auch daran gescheitert, dass die BKM in den documenta-Gremien nichts zu sagen habe. Hat sie recht?
Das kann ich nicht beurteilen. Selbst wenn Frau Roth in den Gremien kein Stimmrecht besitzt, so gehe ich doch davon aus, dass die Staatsministerin für Kultur und Medien in diesen Gremien Einfluss haben muss und haben sollte – wenn nicht, läge etwas mit der Struktur im Argen. Unabhängig davon: Auch das Land Hessen sitzt im Aufsichtsrat, der Oberbürgermeister von Kassel ist Aufsichtsratsvorsitzender. Dass es auch ihnen nicht gelungen ist, das zu verhindern, was jetzt eingetreten ist, wirft ein problematisches Licht auf sie.

Selbstkritisch war aus der BKM-Behörde zu hören, man habe unterschätzt, dass unter dem Narrativ antikapitalistischer und antikolonialistischer Kunstaussagen sich auch Antisemitismus verbergen könne.
Als Selbstkritik ist das richtig. Es ist aber genau das, was wir von Anfang an als Sorge vorgetragen haben. Das wurde jedoch immer vom Tisch gewischt mit dem Hinweis auf die „Freiheit der Kunst“. – Aber Kunstfreiheit hat dort ihre Grenzen, wo Menschenfeindlichkeit beginnt.

Im Kulturausschuss des Deutschen Bundestags sprach der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, Daniel Botmann, von „Selbstreinigungskräften“ zur Antisemitismus-Bekämpfung. War das eine glückliche Wortwahl? „Selbstreinigungskräfte“ haben in Deutschland einen dunklen Klang …
Die Wortwahl ist sicher nicht glücklich, aber es war wichtig aufzuzeigen, dass der Kulturbereich in Teilen offensichtlich ein Antisemitismus-Problem hat.

Die harte Linie des Zentralrats ist: Künstler, die in irgendeiner Weise die Boykottinitiative BDS unterstützen, sollen nicht gezeigt werden. Kann man das wirklich so schlicht sagen?
Der Deutsche Bundestag hat in einer wegweisenden Resolution 2019 die Methoden und Argumentationsmuster von BDS als antisemitisch benannt. Darin heißt es auch, dass BDS-Unterstützer nicht mit öffentlichen Mitteln gefördert werden sollen. Das unterschreibe ich.

Sollte demzufolge der israelisch-britische Architekt Eyal Weizmann, ein BDS-Unterstützer, keine öffentliche Förderung erhalten für sein künstlerisch hochgelobtes Projekt, das den Anschlag von Hanau als rechtsradikalen Terror bewusst macht?
Es geht nicht, in Deutschland öffentlich BDS zu propagieren. Wenn er das mal gemacht hat, aber gleichzeitig ein künstlerisch interessantes Werk über den Anschlag in Hanau schafft, was mit BDS nichts zu tun hat, ist das für mich kein Grund, ihn von einer Förderung auszuschließen.

Es ist aber auch eine Erfahrung und Sorge jüdischer und nichtjüdischer Künstler, dass BDS-Aktivisten versuchen, ihre Auftrittsmöglichkeiten einzuschränken. Tatsächlich ist es doch die BDS-Kampagne, welche die Kunstfreiheit massiv bedroht. Die Befürworter kehren das infamerweise einfach um.

Welche Konsequenzen sind aus der documenta fifteen zu ziehen? War der Ansatz, Kunst aus der Perspektive des „Globalen Südens“ zu zeigen, und die Ausstellung von einem Kollektiv kuratieren zu lassen, falsch?
Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist sehr wichtig und spannend, andere Perspektiven zu zeigen, aber es muss für jeden Künstler oder auch Schriftsteller klar sein, dass Antisemitismus und jegliche Menschenfeindlichkeit in der Kunst per se keinen Platz haben dürfen. In Deutschland, vor dem Hintergrund der Shoah, gilt das ganz besonders. Daraus resultiert für jeden, auch für jeden Künstler eine besondere Verantwortung für das, was sie tun oder auch nicht tun.

Das Kuratorenkollektiv ruangrupa erklärte, ihnen sei erst im Verlauf der Auseinandersetzungen bewusst geworden, dass Antisemitismus in Deutschland eine andere Bedeutung hat als in anderen Kulturen. Ist es auch Organisationsversagen, wenn den Kuratoren dies von den documenta-Verantwortlichen nicht vermittelt wurde?
Definitiv ja! Vor allem, weil die documenta-Geschäftsführung ja selbst darauf hingewiesen worden war – aber nicht reagiert hat. Nach unseren Warnungen Anfang des Jahres wäre noch genug Zeit gewesen, dies auch mit den Kuratoren intensiv zu besprechen. Im Übrigen bedeutet Antisemitismus immer eine Bedrohung, egal wo.

Wie kann für die Zukunft der documenta gewährleistet werden, dass die Kunstfreiheit gesichert ist, aber die Kunst auch frei von Antisemitismus ist?
Es beginnt mit der Auswahl der Kuratoren. Dabei muss für alle Kuratoren sichergestellt sein, dass es keinerlei Platz für antisemitische Narrative gibt – null Toleranz. Ich glaube, man war bei der Auswahl der Kuratoren und bei der Umsetzung des Konzepts zu blauäugig.

Sollte es explizit verbindlich sein, dass Kunstfreiheit dort endet, wo die Menschenwürde verletzt wird – und dass Antisemitismus die Verletzung der Menschenwürde bedeutet? Das Grundgesetz als Grenzmarke?
Ich denke, das wäre ein richtiger Ansatz. Nicht umsonst steht die Menschenwürde ganz oben in der Verfassung. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, dass das die oberste Maxime ist. Ich habe immer gedacht, dass das eigentlich automatisch ganz klar ist – aber vielleicht muss man es doch vor einer solch großen, weltbedeutenden Kunstschau noch einmal explizit darlegen.

Kann die heftige Antisemitismus-Debatte dieser documenta eigentlich auch eine aufklärerische, positive Wirkung haben?
Das hoffe ich zwar, bin aber nicht sehr davon überzeugt, dass das passieren wird. Eher sehe ich dies als Teil einer zunehmenden Tendenz antisemitischer Vorfälle und Äußerungen, die nach meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren eher gestiegen ist.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.
Copyright: Alle Rechte bei Initiative kulturelle Integration

Adresse: https://www.kulturelle-integration.de/2022/09/05/organisations-und-verantwortungsversagen-in-grossem-ausmass/