ruangrupa & Ludwig Greven 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

„Die Fol­gen des Holo­caust wer­den unter­schied­lich erlebt“

ruan­grupa im Gespräch

Das indonesische Kuratoren-Kollektiv ruangrupa äußert sich im Interview mit Ludwig Greven ausführlich zum Antisemitismus-Skandal auf der documenta, zu den BDS-Vorwürfen gegen die Leitung und zu Forderungen, die Ausstellung abzubrechen.

Ludwig Greven: Ihre Idee war, das europäische Publikum mit einem künstlerischen und auch politischen Blick auf den „Globalen Süden“ zu konfrontieren. Ist dieses Konzept aufgegangen?ruangrupa: Wir folgen einfach der Art und Weise, die sich in mehr als 20 Jahren unserer Praxis bewährt hat. Ja, unser Ansatz ist anders – aber er unterscheidet sich von vielen Traditionen, auch von solchen außerhalb Europas. Er unterscheidet sich von kapitalistischen Systemen und Logiken. Aber er ist nicht unbedingt antagonistisch. Wir sind selten konfrontativ.

Wir stehen dem Begriff „Globaler Süden“ skeptisch gegenüber. Der globale Norden und der globale Süden sind keine getrennten geografischen Realitäten mehr. Sie sind seit der Kolonialzeit nicht mehr getrennt. Die documenta fifteen unterstreicht diese Tatsache und macht sie sichtbarer.

Schließlich geht es uns nicht darum, im herkömmlichen Sinne zu kuratieren. Deshalb sind wir sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie „lumbung“ aufgebaut ist, wie es funktioniert und arbeitet, mit der Gemeinschafts- und Solidaritätsbildung, die durch verschiedene Krisen, mit denen wir als Gemeinschaft konfrontiert waren, auf die Probe gestellt wurde.

Wie wichtig ist es, dass in der internationalen Kunstszene und auf dem globalen Kunstmarkt Künstlern und Künstlerkollektiven wie Ihrem mehr Aufmerksamkeit zuteilwird?
Viele Stimmen bleiben in den Mainstream-Kanälen, einschließlich Medien und Kunst, ungehört. Es wäre zu vereinfacht, dies nur auf das Geografische zu reduzieren. Das gilt auch für Stimmen von physisch- und neuro-diversen Menschen, auch von Kindern und Jugendlichen oder Menschen mit nichtbinären Geschlechtsidentitäten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie, oder vielmehr wir, sollten in den Vordergrund gerückt werden, aber nicht nur, indem Ausstellungen „inklusiv“ gemacht werden. Im Nachhinein betrachtet ist die documenta fifteen ein Versuch, die Plattform eines zeitgenössischen Kunstereignisses zu nutzen, um diese Möglichkeiten weiter voranzutreiben. Aber wir glauben, dass es viele Antworten gibt, dass wir immer noch von vielen anderen lernen können, die vor Ort, in ihren jeweiligen Kontexten und Lokalitäten praktizieren.

Waren Sie überrascht, dass es zu Auseinandersetzungen um einzelne Werke kam?
Wir haben offen über die möglichen Risiken gesprochen, die mit unserer Arbeitsweise verbunden sind. Überraschungen waren zu erwarten. Wir sehen die documenta fifteen als eine wichtige Station, die aber hoffentlich nicht die einzige auf unserer „lumbung-inter-lokal-Reise“ sein wird. Wir sind neugierig darauf, wie wir als Gemeinschaft aus diesen Überraschungen lernen. Bei einzelnen Werken ist jeder Fall anders.

War Ihnen bewusst, wie sensibel das Thema Antisemitismus in Deutschland aufgrund des Holocaust ist?
Viele von uns sind Fans von Graphic Novels. Ein Werk, das viele von uns als wegweisend betrachten, ist Art Spiegelmans „Maus“. Wir erzählen diese Anekdote nur, um darzustellen, wie die Populärkultur unserer Meinung nach erfolgreich dazu beigetragen hat, an die Tragweite des Holocaust zu erinnern, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Hinblick auf die Geschichte von Gewalt und Unterdrückung überall sonst. Die Folgen des Holocaust werden bis heute unterschiedlich und asymmetrisch erlebt. Deutschland spielt dabei natürlich eine große Rolle und trägt eine große Verantwortung für diese Tatsache.

Hätten Sie vor diesem Hintergrund die ausgestellten Werke nicht vorher daraufhin überprüfen müssen, ob dort antisemitische Motive auftauchen?
Die Art und Weise, wie wir viele Systeme dezentralisieren – auch uns als künstlerische Leitung – setzt auf Vertrauen. Wir glauben immer noch, dass die Künstlerinnen und Künstler ihre Werke am besten kennen und im Austausch dazu sind, aber nicht, um von Leuten in unseren Positionen kontrolliert zu werden. Die Machtverhältnisse zwischen Institutionen, Leitung, Künstlerinnen und Künstlern, Publikum und allen anderen sind wichtige Elemente, die wir durch „lumbung“ infrage stellen.

Das am meisten kritisierte und dann entfernte Werk „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi enthält die hässliche Karikatur eines Juden mit SS-Runen und einer Figur mit einem Davidstern und der Aufschrift „Mossad“. Wofür stehen diese Figuren?
Taring Padi hat sich dazu ausführlich geäußert.

Sie haben sich dafür entschuldigt, diese Arbeit an einem zentralen Ort zu zeigen. Ist es Ihrer Meinung nach, wie die Zeichnungen eines algerischen Künstlers mit ähnlichen Karikaturen, judenfeindlich?
Das Kollektiv hat mit unserer vollen Unterstützung eine ausführliche Stellungnahme zu diesem Fall abgegeben. Unsere Ansichten unterscheiden sich nicht von ihren.

Hängt es vom jeweiligen Kontext ab, ob ein künstlerisches Werk antisemitisch ist oder wirkt?
Der Kontext ist wichtig, sollte aber nicht als Ausrede dienen. Wenn Menschen jedoch nicht mitbedenken, woher die Werke stammen und wo sie gezeigt werden, neigen sie dazu, gefährliche und irreführende Schlüsse zu ziehen.

Warum haben Sie keine jüdischen oder israelischen Künstler eingeladen? Auch Juden werden in vielen Ländern unterdrückt und diskriminiert, viele kommen aus Ländern des „Globalen Südens“ oder leben dort.
Obwohl wir es nicht als unsere Aufgabe ansehen, Checklisten über repräsentative Identitäten – Nationen, Staaten, politische Ansichten, Race, Geschlecht, Fähigkeiten usw. – zu erstellen, stimmen wir dem letzten Satz zu. Die Frage beruht auf einer falschen Information, wie wir bereits mehrfach richtiggestellt haben. Wir haben jüdische, israelische und jüdisch-israelische Beteiligte in der documenta fifteen. Wir respektieren ihren Wunsch, nicht auf der Grundlage dieser Identitäten in den Fokus gerückt zu werden, und nennen daher ihre Namen nicht.

Einigen aus Ihrer Gruppe wird vorgeworfen, der BDS-Kampagne nahezustehen. Wie stehen Sie zu dieser Bewegung, die auch zum Boykott israelischer Künstler aufruft?
Auch innerhalb von ruangrupa haben wir unterschiedliche Haltungen zu BDS. Diejenigen, die BDS in unserem Umfeld unterstützen, tun dies als gewaltfreies Mittel des Widerstands und der Solidarität. Es ist ein Boykott von Institutionen eines Staates, nicht von Menschen. Wir werden niemanden fragen, ob sie oder er einen Boykott unterstützt, und dies auch nicht zur Grundlage unserer Zusammenarbeit machen. Es ist nicht antisemitisch, sich friedlich für seine Rechte einzusetzen, und die Gleichsetzung von Antisemitismus und BDS ist nirgendwo Konsens, auch nicht in Deutschland, wie wir gelernt haben.

Welche Fehler haben Sie gemacht?
Viele. Man kann damit beginnen, sie in unserer Einleitung zum Handbuch nachzulesen. Fehler und Misserfolge haben immer eine wichtige Rolle in unserer Entwicklung gespielt. Wir werden die Erfahrung der documenta fifteen auf unserer weiteren „lumbung“-Reise immer wieder aufgreifen.

Warum haben Sie sich nicht stärker an der Debatte beteiligt?
Als Gastgebende dieser öffentlichen Feier, auch bekannt als documenta fifteen, wenden wir uns täglich an unterschiedlichste Öffentlichkeiten. Wir sind der Meinung, dass dieser Plan nicht durch Skandale und Krisen beeinträchtigt werden darf. Wir waren nicht sehr erpicht darauf, das Feuer in der deutschen Presse und Politik zu schüren, denn die Risiken eines solchen Vorgehens sind größer als ein möglicher Nutzen. Und schließlich sehen wir uns nicht als die dominierende Stimme der documenta. Wir hören zuerst zu und handeln entsprechend danach.

Wurden Sie von Sabine Schormann und der documenta-Leitung ausreichend auf die Bedingungen in diesem für Sie fremden Land vorbereitet? Wurden Sie von ihnen in der Debatte ausreichend unterstützt und begleitet?
Wir werden Sabine Schormann und der Leitung nie den Vorwurf machen, dass sie uns nicht ausreichend vorbereitet haben. Das ist ein wichtiger Punkt: Wir müssen gegen diese Tendenz der ständigen Schuldzuweisungen ankämpfen, um „lumbung“ in der Praxis möglich und nachhaltig zu machen.

Wir haben schon früh mit der Geschäftsführung Gespräche über den deutschen Kontext geführt, nicht nur über Antisemitismusvorwürfe, wie sie im Januar aufkamen, sondern vor allem auch über Bürokratien, Traditionen, Erwartungen und unterschiedliche Handlungsweisen, die aus unterschiedlichen Kosmologien und Weltanschauungen resultieren. Dieser Prozess geriet ins Stocken, als aufgrund von Medienanfragen, die schnelle Reaktionen verlangen, unsere internen Gespräche zum Erliegen kamen. Wir wurden im Unklaren gelassen oder erfuhren von den Dingen erst, als sie öffentlich bekannt gegeben oder in den Medien zitiert wurden.

In diesem Sinne gab es eine Menge Vertrauensbrüche. Wir haben erkannt, dass dieses Vertrauen in mehrere Richtungen wiederhergestellt werden muss. Das versuchen wir derzeit.

Einige fordern, die documenta fifteen abzubrechen oder zumindest auszusetzen, bis alle Werke auf mögliche antisemitische Inhalte überprüft worden sind. Was halten Sie davon?
Das scheint uns eine mögliche Lehrbuchdefinition von Zensur zu sein.

Wollen Sie unbedingt bis zum Ende im September weitermachen?
Dazu gibt es erwartungsgemäß unterschiedliche Meinungen, auch innerhalb von ruangrupa. So wie wir diese Frage nach der Präsenz der documenta fifteen in Kassel verstehen, glauben wir, dass Kassel uns sagen sollte, ob wir bleiben oder gehen sollten.

Würden Sie nach dieser Erfahrung erneut die Einladung annehmen, eine so große Kunstausstellung in einem europäischen oder westlichen Land zu organisieren?
Was wir aus dieser Erfahrung mit der documenta fifteen gelernt haben, ist, dass wir uns nicht ausklinken sollten. Nach einer dringend benötigten Ruhepause stellen wir uns vor, dass die „lumbung“-Gemeinschaft – zu der auch Menschen aus Europa und darüber hinaus gehören – weitermacht. Zum Tango gehören immer zwei: Werden große Kunstausstellungen in Europa und/oder im westlichen Kontext an der Auseinandersetzung mit uns interessiert sein?

Wie sehr schmerzt und ärgert es Sie, dass sich die Beschäftigung mit der documenta fifteen in Medien und Politik auf die Debatte um antisemitische Inhalte konzentriert?
Sie hat eindeutig viele andere Themen, die diese documenta hervorgebracht hat, überschattet. Das ist unfair gegenüber den Künstlern, Kollektiven, Mitarbeitern und anderen Stimmen, die unermüdlich für sie gearbeitet haben.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.
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