Dagmar Schmidt 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

Auf meh­re­ren Stühlen

docu­menta zwi­schen Markt, Poli­tik und Kunst

In verlässlichem Rhythmus findet in Kassel eine Ausstellung statt. Nach einem bis dato unvorstellbar brutalen Angriffskrieg, der von deutschem Boden ausging und hier perfide durch Gleichschaltung, Verfolgung und Holocaust vorbereitet wurde, trat Nachkriegsdeutschland mit Bildender Kunst wieder auf die Weltbühne. Der selbstbewusste Auftritt verschaffte der documenta kunstweltweite Bedeutung und machte Deutschland wieder salonfähig. Der Stadt Kassel brachte es den Beinamen documenta-Stadt ein und irgendwann später wurde es üblich, die ausstellenden Künstler, inzwischen auch Künstlerinnen, auch Jahre nach ihrer Teilnahme als „documenta-Künstler“ zu bezeichnen, ja, zu adeln – mit spürbarer Auswirkung auf Verkaufspreise ihrer Kunstwerke und Folgeausstellungen. Was Kunst ist, wird seitdem alle fünf Jahre in Kassel verhandelt. Was als Kunst gehandelt werden sollte, ebenso. Die Liaison, die Wechselwirkungen mit dem Kunstmarkt sind entsprechend eng.

Die documenta ist auch immer politisch. Documenta-Macher sowie Künstler und -Künstlerinnen reiben sich an der aktuellen politischen Situation und präsentieren heftig umstrittene, gehasste, bekämpfte Werke, wie Joseph Beuys „7000 Eichen“, die heute zum nachhaltig sichtbarsten Erbe der documenta heranwachsen: Stadtverwaldung prophetisch anmutend gerade in der Klimakrise.

Der Anspruch der documenta-Macher ist kritische Zeitgenossenschaft, zu zeigen, was derzeit auf dem Vernissagenparkett und in der Kunstproduktion en vogue ist. Vor diesem Hintergrund ist die documenta fifteen schlüssig und überfällig, werden doch in der Bildenden Kunst lebendige Projekte an ungewöhnlichen Orten seit Jahrzehnten praktiziert, Prozesse partizipativ entwickelt, die sich den Regeln des weiterhin virulent agierenden Kunstmarktes weitestgehend entziehen. Im Erleben der Ausstellung in 2022 scheint immer wieder der Versuch auf, zu zeigen, zu beschreiben, zu erfassen, wie Kunst entsteht, welches Wunder, welcher Genuss, welche Kraft, welche menschliche Selbstvergewisserung sich in diesem Prozess für das schaffende Individuum, für die gemeinsam gestaltende Gruppe entfaltet. Die documenta fifteen stellt das künstlerische Schaffen aus, „Kunstprodukte“ dienen höchstens als Vehikel der Kommunikation.

Es scheint aber auch, dass die documenta fifteen die richtige kuratorische Form nicht gefunden hat. Anspruch zu steter Kommunikation und zu Austausch und Wirklichkeit der Ausstellung kommen nicht zueinander, die Fülle und Ähnlichkeit der Exponate machen die Kunstprojekte zu einer Aneinanderreihung von Material, die nahezu unlesbare, lückenhafte Beschilderung ärgert einfach nur. Wie soll ein revolutionäres, alle vorherigen Ausstellungen grundsätzlich infrage stellendes Konzept ankommen, wenn es ausstellungshandwerklich gesehen nicht gut gemacht ist? Es müsste von dieser Seite her besser ausgeführt sein als jede Ausgabe zuvor. Es ist irritierend und enttäuschend, dass gerade das Kuratorenteam, das für Diskurs und Andersmachen angetreten ist, es nicht verstand, den heftigen Diskurs um die Antisemitismusdarstellungen aufzunehmen. Die notwendige politische Auseinandersetzung wurde zu lange aufgeschoben. Es entstand fast der Eindruck, die Diskussion wurde vermieden.

Das Kuratorenteam wiederholt leider auch die koloniale Praxis des „Nordens“, belastete Bildmotive unreflektiert für Kunstwerke zu adaptieren und wiederum in einem anderen kulturellen Zusammenhang ungefiltert zu zeigen. Sollte nicht gerade diese documenta die Perspektive des Südens auf den Norden spiegeln und dem „Norden“ zu einem Perspektivwechsel verhelfen, und war nicht gerade deshalb ruangrupa eingeladen worden? Sie scheinen überfordert von der Intensität der Debatte. Dabei hat der „Norden“ keinen Grund, sich als moralisch überlegen darzustellen. Wie lange durften im Norden z. B. Menschen in Zoos oder menschliche Überreste und Kultobjekte vom „schwarzen Kontinent“ oder aus dem „vorkolumbianischen Amerika“ auf Jahrmärkten und später in Museen zur Schau gestellt werden? Heute erst beginnt der „Norden“, sich Achtung und Respekt vor anderer Kultur zu erarbeiten, sich von Fall zu Fall tastend zu entschuldigen für anderswo zugefügtes Leid, Tod und Vernichtung.

Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, hatte moderierend formuliert, es gehe um den unterschiedlichen Blick des „Südens“ darauf, ohne die besondere Verantwortung Deutschlands für den Holocaust zu negieren. Der Ruf nach Schließung dieser documenta verhallte, eine Expertenkommission, in der kein einziger Künstler mitwirken darf, soll nun die documenta beraten, auch die Grenzen der Kunstfreiheit definieren und bei Verstößen ahnden – ein noch nie in der Nachkriegszeit gewagtes Modell, grundgesetzwidrig. Die über die erhitzte, verschwommene Debatte hinausgehenden Gespräche stehen jedoch immer noch aus.

Kehren wir zurück zu den Kunstfragen. Was heißt es für das Urheberrecht, für den Verkauf und die Präsentation von Werken, wenn bei einer Ausstellung nicht mehr das Werk einzelner Künstler im Mittelpunkt steht, sondern eine kollektive Leistung? Spannend wird es sein, welche Auswirkungen das auf den Kunstmarkt insgesamt haben wird. Geht es in der Bildenden Kunst künftig vor allem darum, öffentliche Mittel für Ausstellungen und Projekte zu akquirieren oder geht es auch darum, Kunst zu verkaufen und zu kaufen? „Das sind wichtige Zukunftsfragen der Kunst“, notierte Wolfgang Suttner, Sprecher des Deutschen Kunstrates, und fährt fort: „und ja, vieles von dem, was ich in den letzten Monaten gesehen habe – ob im Kollektiv, wie bei mir im Kunstverein Siegen mit Raumlabor Berlin, oder anderes. Da geht es nicht mehr um Verkäufe, sondern um Honorare für künstlerische Leistungen. Und da geht nur was, wenn die öffentliche Hand etwas zur Verfügung stellt. Aber den Kunstmarkt, der attraktive Objekte zur Verfügung hat, wird es trotzdem weitergeben. Und ich erlebe hier zurzeit, dass die BBK-Künstler in meiner Region recht kreativ mit diesen Zeitläufen umgehen. Vor allen Dingen ist es wichtig, dass die Künstler sich organisieren und sehr viel dafür tun, dass die Selbstvermarktung funktioniert.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.
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