Claudia Roth 4. Juli 2022 Logo_Initiative_print.png

In wel­chem Land wol­len wir leben?

Deutsch­land braucht mehr Teil­ha­be­ge­rech­tig­keit, eine kon­se­quente Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­po­li­tik und eine moderne Staatsbürgerschaftsregelung

Rassismus ist nicht ein Randproblem. Rassismus ist Realität, ist traurige, bittere, brutale Realität in unserem Land. Es gibt Ausgrenzung. Es gibt Mobbing. Es gibt Abwertung. Es gibt Bedrohungen. Es gibt Gewalt. Und es gibt Opfer von rassistischer Gewalt in unserer Gesellschaft. Vor drei Jahren, am 2. Juni 2019, ist Walter Lübcke ermordet worden. Ein konservativer Christdemokrat aus Hessen. Ein Mann mit einem ganz großen Herzen und mit einer großen christlichen Verantwortung gegenüber Menschen, die Hilfe brauchen und die Zuflucht suchen. Und ich werde nie vergessen, wie Walter Lübcke mich nach Kassel eingeladen hat, als er sein Regierungspräsidiumshaus geöffnet hat, um zu zeigen, was leistet die Stadt Kassel, was leisten die Universitäten, was leisten die Kirchen, was leisten die
Gewerkschaften, was leistet zivilgesellschaftliches Engagement bei der Aufnahme und Integration von Menschen, die 2015 zu uns gekommen sind. Und er war so überzeugt, dass wir noch sehr viel mehr tun können. Er war so klar, dass es vor allem nicht nur immer diesen Satz braucht: „Ihr, die ihr zu uns kommt, müsst euch integrieren“, sondern dass unsere Gesellschaft integrationsbereit sein muss. Wir müssen offen sein für Menschen, die zu uns kommen. Für diesen Geist, für diese Auffassung und für diese Haltung hat er mit seinem Leben bezahlt. Heute ist der dritte Todestag von Walter Lübcke.

Wir sind in den Landtagen, im Deutschen Bundestag, auf außerparlamentarischer Ebene konfrontiert mit Demokratiefeinden und Rechtsstaatsverächtern. Seit vielen Jahren warne ich auch davor, das als Einzelfälle abzuhandeln. Unsere Demokratie ist nicht immun. Deswegen müssen wir uns viel intensiver auseinandersetzen mit einer entgrenzten Sprache, die versucht, Ausgrenzung und Rassismus systematisch zu befördern. Ich habe mich mit Victor Klemperer beschäftigt. Klemperer wurde von den Nazis verfolgt, hat den Holocaust überlebt und hat dann ein Buch über die Sprache des Dritten Reiches geschrieben. Er hat genau beschrieben, wie Sprache Ausgrenzung vorbereitet und der Vorlauf zur Vernichtung ist. Sie wollen bestimmen, wer dazugehört und wer nicht. Das tun auch Abgeordnete der AfD im Deutschen Bundestag, wenn sie zu anderen Abgeordneten sagen, sie sollen doch zurückgehen, wo sie herkommen. Wenn man das zu Cem Özdemir sagt, ist er so selbstbewusst und sagt: „Ja, ich gehe wieder nach Bad Urach am Wochenende.“ Aber es gibt andere Kolleginnen und Kollegen, mit denen das etwas macht, wenn man ihnen sagt, sie sollen zurückgebracht werden nach Anatolien, obwohl sie aus Hamburg oder aus München sind. Diese offensive Ausbürgerung ist eine Form von rassistischer Ausgrenzung, die im Deutschen Bundestag stattfindet, mit der unsere Geschichte und unsere historische Verantwortung relativiert wird.

Menschen haben Angst. Menschen fragen: „Bin ich in diesem Land noch sicher und willkommen?“ Meine enge Freundin Kübra, eine muslimische Feministin, hat zu mir mal gesagt: „Claudia, wo ist eigentlich deine Solidarität, wo ist eigentlich eure Solidarität mit uns? Wo ist eure Solidarität mit uns, wenn ich angespuckt werde, weil ich ein Kopftuch trage? Wenn mir ein Kopftuch runtergerissen wird. Wenn man mir erklärt: Ach, du arme Frau, du bist ja so unterdrückt.“ Da habe ich angefangen, mich sehr systematisch mit antimuslimischem Rassismus auseinanderzusetzen, und mich selbst gefragt: Habe ich das eigentlich ernst genommen bis dahin? Wenn Menschen Angst haben, dann muss uns das alle etwas angehen. Ich als Nichtmuslima, als Nichtjüdin, als weiße Frau, als Bio-Süddeutsche, ich muss das zu meinem Problem machen. Ich kann nicht sagen, es ist Problem und Aufgabe von den Muslimen, in unserem Land mit antimuslimischem Rassismus umzugehen. Oder mit Antisemitismus, damit haben sich die Jüdinnen und Juden auseinanderzusetzen. Oder mit Antiziganismus, damit haben sich Sinti und Roma auseinanderzusetzen. Das ist doch mein Problem, es muss doch mein Problem sein.

Wir müssen uns fragen, in welchem Land und in welcher Demokratie wollen wir leben und leben wir? Müssen wir nicht alles dafür tun, dass niemand Angst haben muss? Dass die Heimat Deutschland endlich so begriffen wird, dass die Menschen, die hier leben, egal, woher sie kommen, welche Religion, welche Hautfarbe, welche sexuelle Identität sie haben, dass sie sagen können: Deutschland ist unsere Heimat, hier gehöre ich dazu, auch weil ich hier in diesem Deutschland gebraucht werde. Der Wert eines Menschen darf sich doch nicht an der Religion oder an der Hautfarbe bemessen. Einer der schönsten Sätze, den es für mich in deutscher Sprache gibt, ist der Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Da steht nicht drin: Die Würde des deutschen, des christlichen, des männlichen, des heterosexuellen, des nichtbehinderten oder des weißen Menschen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das muss endlich sehr viel mehr der moralische Imperativ in unserer Gesellschaft sein. Der moralische Imperativ, der auch verstanden wird und für den ich eine Empathie empfinde. Dieser Satz darf nicht immer in Sonntagsreden genannt werden, sondern er muss sich bei uns im Herzen und im Verstand eingegraben haben.

Dass die Situation sich verschärft hat in unserem Land, dass der Rassismus ein größeres Problem geworden ist, das habe ich bei vielen Auftritten erlebt. Diese Würde, sie wird also sehr wohl angetastet in unserem Land. Und wie stark, jenseits aller Zahlen, habe ich erlebt am ersten Tag, an dem ich Staatsministerin für Kultur und Medien geworden bin. Ich bin morgens zum Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma gegangen, das Dani Karavan geschaffen hat, weil ich deutlich machen wollte, dass die Frage der Erinnerungskultur ganz entscheidend sein wird. Abends war ich im Maxim-Gorki-Theater. Und die Intendantin Shermin Langhoff hat mich anschließend in eine Ausstellung über den NSU-Terror mitgenommen – kuratiert von Migrantinnen und Migranten. Dort gab es auch einen Raum, der sich dem Mord an dem jungen Mann Halit Yozga in Kassel widmete, der in einem Internetcafé getötet worden war. Man hat die Bilder gesehen von den Angehörigen und von den Menschen, die demonstriert und protestiert haben, die getrauert haben. Es gab ein Plakat, da stand drauf: „Kein Schlussstrich.“ Da ist bei mir was passiert, weil „Kein Schlussstrich“ habe ich bisher immer nur mit nationalsozialistischem Terror zusammengebracht. Plötzlich ist mir so klar geworden, was es heißt, dass dieser Schmerz so präsent ist. Dieser Schmerz, der in Mölln, in Solingen, in Rostock, an anderen Orten entstanden ist. Dieser Schmerz, der durch die Blutspur entstanden ist, die der NSU-Terror in unser Land gelegt hat, der in Halle und zuletzt in Hanau entstanden ist. Aber dieser Schmerz und diese offenen Wunden sind in der Mehrheitsgesellschaft überhaupt nicht angekommen. Es muss doch auch mein Schmerz sein. Diese Morde sind doch auch Anschläge auf unsere Gesellschaft.

Ich habe mir deshalb vorgenommen, Erinnerungskultur deutlich weiter zu definieren. Erinnerungskultur muss in einer Einwanderungsgesellschaft eine entscheidende Rolle spielen. Das, was passiert ist an rassistischem, mörderischem Terror, das muss uns alle angehen.

Es gibt eine Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor. Fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung gibt an, selbst schon einmal Rassismus erfahren zu haben. Die rassistischen Vorstellungen sind tief verankert. Fast die Hälfte der Bevölkerung glaubt an die Existenz menschlicher Rassen, die eine ungleiche Behandlung legitimiert. Insofern ist es höchste Zeit, dass wir am Grundgesetz feilen und den Rassebegriff rausnehmen. Es gibt rassistische Diskriminierung, es gibt rassistische Ausgrenzung, es gibt rassistische Privilegierung – aber der Rassebegriff, der muss raus. Leider ist das in der letzten Legislaturperiode nicht möglich gewesen, dafür braucht man eine Zweidrittelmehrheit. Ich hoffe, dass wir diese Mehrheit jetzt endlich bekommen.

Umso wichtiger ist die Initiative kulturelle Integration, umso wichtiger sind die 15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt.

Von der neuen Regierung erwarte ich einen echten Aufbruch in die Wirklichkeit. Ich erwarte endlich die Anerkennung unserer Realität einer Einwanderungsgesellschaft, einer bunten, diversen, vielfältigen Gesellschaft – und diese Realität muss demokratisch gestaltet werden. Wir wollen in einer Demokratie gleiche Rechte, und zwar auf allen Ebenen. Wir wollen Teilhabegerechtigkeit. Denn wir haben keine Teilhabegerechtigkeit in unserem Land. Und dadurch auch viel zu wenig Sichtbarkeit. Also braucht es in der Frage von Partizipation deutliche Verbesserung. Es braucht eine konsequente Antidiskriminierungspolitik mit einem Antidiskriminierungsgesetz. Wir wollen die Einbürgerung erleichtern. Wir wollen die Staatsbürgerschaft endlich moderner machen.

Der Beitrag ist das gekürzte Grußwort der Staatsministerin zur Jahrestagung „Zusammenhalt gegen Rassismus“ der Initiative kulturelle Integration

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.

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