Taher Ameer 3. Juni 2022 Logo_Initiative_print.png

„Anti­se­mi­tis­mus ist das Betriebs­sys­tem, auf dem viele Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen laufen“

Vier Fra­gen an Tahera Ameer

Die Amadeu Antonio Stiftung schafft durch ihre Arbeit ein Bewusstsein für Verschwörungserzählungen und Antisemitismus in allen Erscheinungsformen. Tahera Ameer gibt Politik & Kultur einen Einblick in die Arbeit der Stiftung.

In der Pandemie haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Welche Rolle spielt Antisemitismus in diesem Kontext?
Antisemitismus ist das Betriebssystem, auf dem viele Verschwörungserzählungen laufen. Antisemitismus selbst ist ja ein integrierender Verschwörungsglaube, der verschiedenste Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unter einen Hut bringt. Verschwörungserzählungen haben die Funktion, die Weltgeschehnisse, ob im Nahfeld oder global, zu ordnen. Ambivalenzen, das Aushalten von Widersprüchen, das immer das Leben aller Menschen und Gesellschaften prägt, werden hier durch einfache Antworten ausgelöscht. Ob das die im Mittelalter unerklärlich auftretende Pestepidemie war, oder die Krisensituationen der heutigen Welt: Antisemitismus war immer schon eine bequeme Welterklärung, die eine Antwort bietet, die über die Auseinandersetzung mit der Realität hinwegspringen kann, die nicht nach der persönlichen oder gesellschaftlichen Verantwortung fragt, sondern konkrete Schuldige meint benennen zu können. Hierfür wird immer wieder auf tradierte antisemitische Stereotype und Erklärungsmuster zurückgegriffen. Deshalb haben so viele Verschwörungserzählungen einen antisemitischen Kern. Egal ob es sich dabei jetzt um Desinformationen zur Impfung, den „großen Austausch“ oder die „wahren Gründe“ für den Erfolg der israelischen Impfkampagne handelt. Die letzten Jahre haben noch einmal gezeigt, wie extrem dynamisch das Feld ist. Das macht antisemitische Verschwörungserzählungen so gefährlich: Werden sie an dem einen Tag noch von Querdenkern genutzt, um gegen die Impfkampagne zu mobilisieren, finden sie sich wenige Wochen später auf prorussischen Demonstrationen oder in Reihen der extremen Rechten wieder, um den Angriffskrieg auf die Ukraine zu verherrlichen. Das Problem ist, dass selbst oftmals harmlos daherkommende Verschwörungserzählungen der Einstieg in einen längeren Radikalisierungsverlauf bilden können, die im schlimmsten Fall wie jüngst in Hanau oder Buffalo in rechtsterroristische Gewalt münden können.

Was tut die Amadeu Antonio Stiftung konkret gegen Verschwörungstheorien und Antisemitismus?
In erster Linie schaffen wir durch unsere Arbeit ein Bewusstsein für Verschwörungserzählungen und Antisemitismus in allen Erscheinungsformen. Es geht darum, beides früh zu erkennen, klar zu benennen und dann auch zu ächten. Nur so kann man das Problem langfristig bearbeiten und eben auch pädagogische Antworten finden. Zum einen analysieren wir mittels unseres Monitorings verschwörungsideologische Trends: Welche Verschwörungserzählungen kursieren gerade? Wer bringt sie mit welcher Absicht in Umlauf? Zum anderen versuchen wir durch unsere Handreichungen, Workshops und Schulungen Betroffenen konkrete Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Verschwörungsgläubigen an die Hand zu geben. Hier fließt die gesamte Expertise der Stiftung zusammen.

Welche Reaktion auf diese Verschwörungstheorien und -mythen ist angebracht?
Verschwörungserzählungen dürfen nicht unterschätzt oder verharmlost werden. Es gilt ihren demokratiefeindlichen und oftmals auch antisemitischen Kern zu benennen und herauszuarbeiten. Gegenrede, ob im persönlichen Nahfeld oder in den Kommentarspalten, kann da natürlich ein Anfang sein, hilft aber nur, wenn das Gegenüber noch kein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild vertritt. Verschwörungserzählungen und der darin transportierte Antisemitismus müssen so früh als möglich als solche benannt werden. Wenn sich Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, erst im „Rabbit Hole“ befinden, wird es immer schwieriger, sie mit Argumenten zu überzeugen. Schnell wittern sie hinter jeder Verschwörung dann gleich eine neue und werden sprichwörtlich immun gegen Fakten. Genau so entstehen demokratiefeindliche Milieus. Auch wenn die Pandemie vorbei sein sollte: der Verschwörungsglaube bleibt.

Und wie widerspricht man deutlich Menschen, die antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten?
In erster Linie muss man sich gut mit den Funktionsweisen von Antisemitismus und Verschwörungsmythen auskennen. Nur, wer sich wirklich gut auskennt, kann differenziert entlarven. Wer lediglich versucht, mit Fakten zu kontern, läuft Gefahr das dualistische Weltbild des Gegenübers nur noch zu verstärken. Anstatt auf reine Gegenbehauptungen zu setzen, hilft es, wissenschaftlich anerkannte Fakten in eine größere valide Gegenerzählung einzubetten.

Manchmal kann es helfen, kritische Gegenfragen zu stellen, doch auch dabei sollten die Grenzen des Sagbaren klar eingegrenzt werden: Antisemitische oder anders geartete menschenfeindliche Aussagen dürfen niemals unwidersprochen bleiben! Man darf sich gar nicht erst auf Detailfragen einlassen und damit den selbstverstärkenden Effekt – „das sagst du nur, weil du noch nicht verstanden hast, wie es wirklich läuft“ – noch fördern.

Daher geht es immer darum, die autoritären und antisemitischen Elemente von Verschwörungserzählungen zu benennen und deutlich zu machen, dass sie eine individuell sehr entlastende und damit eine gesellschaftlich enorm gefährliche Funktion haben. Demokratie lebt vom Konflikt, von Aushandlung und vom Aushalten von Widersprüchen – gerade dann, wenn etwas sehr schmerz- und krisenhaft ist. Dieses Bewusstsein gilt es zu stärken.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.

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