Susanne Keuchel 4. Februar 2022 Logo_Initiative_print.png

Die Kunst der Unwissenheit

Von gesi­cher­ten Erkennt­nis­sen und bestehen­den Unwägbarkeiten

„Unwissenheit ist ein Segen“ heißt es im Film „Matrix“: Gemeint ist die Unwissenheit des Protagonisten, nicht zu wissen, dass er in einer Matrix gefangen ist und ihn dort Maschinen ausbeuten.

Diese Haltung scheint im heutigen Informationszeitalter fragwürdig. Ratgeber und Expertise liegen im Trend im Sinne der Aufklärung, dass eine vernunftorientierte Gesellschaft die Hauptprobleme menschlichen Zusammenlebens schrittweise lösen könne.

Auch in der Politik wächst die Rolle der Technokratie: Experten werden immer stärker in politische Entscheidungsprozesse eingebunden. Dabei entstehen „alternativlose“ Entscheidungen, die grundsätzliche Prinzipien der Demokratie infrage stellen. Und in der Tat mobilisiert sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung gegen diese „alternativlosen“ Entscheidungen, aktuell bezogen auf die Pandemiebekämpfung, aber auch auf grundsätzliche Fragen der Globalisierung mit „Fakten“, die wiederum der andere Teil der Gesellschaft als absurd bezeichnet. Es wird vom „postfaktischen Zeitalter“ gesprochen. Könnte die Demokratie so zu einer Gefährdung der Prinzipien der Aufklärung werden?

Es gibt Stimmen, die die bestehende Demokratie auf den Prüfstand stellen, beispielsweise Parag Khanna, CNN-Experte für Globalisierung. Er tritt für eine „direkte Technokratie“ als „ideale Regierungsform für das komplexe 21. Jahrhundert“ ein, die „von Experten geführt wird, die wiederum ständig die Menschen durch eine Kombination aus Demokratie und Daten konsultiert“. Nicht ideologische Haltungen, sondern „Logik, Pragmatismus oder objektive Wahrheiten“ sollten Regierende leiten. Eine schöne neue Welt? Oder leben wir schon in einer „direkten Technokratie“? Eine, in der Virologen und erhobene Daten, wie der Inzidenzwert oder die Hospitalisierungsrate, unser politisches Handeln leiten?

Was sind objektive Wahrheiten? Und vor allem: Was ist Wissenschaft? Laut Duden „eine begründete, geordnete, für gesichert erachtetes Wissen hervorbringende forschende Tätigkeit“. Dabei existieren Methoden und Regeln, beispielsweise eigene Erkenntnisse in einen Gesamtzusammenhang bestehenden Wissens zu setzen oder die eigene Wissensgenerierung transparent zu machen. Dabei ist es ein Unterschied, ob von „gesicherten“ Erkenntnissen oder von „Wahrheiten“ gesprochen wird. Denn gesicherte Erkenntnisse verweisen auf den Rahmen des Machbaren: Welche Möglichkeiten haben wir aktuell, „gesicherte“ Erkenntnisse zu generieren? Denn die Geschichte belegt: Diese wandeln sich stetig, von einer Erde als Scheibe, hin zu einer Kugel, um die sich alles dreht.

Liegt die Kunst des Wissens dann nicht zugleich in der Notwendigkeit, sich mit dem Nichtwissen auseinanderzusetzen? Denn auch das Wissen über die eigene Unwissenheit ist ein Erkenntnisgewinn. Und vielleicht bietet die Kunst der Unwissenheit nicht nur eine Chance, Demokratie gegenüber Modellen, wie eine „direkte Technokratie“, zu stärken, sondern zugleich Bürgern das Vertrauen in Politik (wieder) zu geben, da wo sie es verloren haben. Wäre es in der politischen Kommunikation nicht vorteilhafter, statt von „objektiver Wahrheit“ von derzeit gesicherten Erkenntnissen zu sprechen und zugleich die Unwägbarkeiten, fehlende Kenntnisse beispielsweise in der Pandemie mit zu thematisieren? Dies stärkt letztlich die Glaubwürdigkeit der Politik, die sich damit zugleich dem unauflösbaren Kampf um postfaktische Wahrheiten entzieht. Und Politik, die sich neben dem Wissen auch ihrer Unwissenheit bewusst ist, kann letztlich mehr leisten als eine „direkte Technokratie“, die nur an vorhandenes Wissen anknüpft. Denn das Wissen, in einer Matrix zu leben, kann auch einfacher ertragen werden, wenn die bewusste Erkenntnis wächst, dass die Länge des Verbleibs in der Matrix ungewiss ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.

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