Ludwig Greven 5. November 2021 Logo_Initiative_print.png

Die ewige Angst vor den Juden

Warum schla­gen Jüdin­nen und Juden so viele Ste­reo­type, Hass und Gewalt entgegen?

Was ist ein Jude? Wenn man einen jahrzehntealten antisemitischen Nazi-Film zu den Rothschilds sieht, von dem Ausschnitte auf dem Thementag „Medienbild im Wandel: Jüdinnen und Juden in Deutschland“ in Berlin gezeigt wurden, und ähnliche Machwerke und Verschwörungsfantasien, die im Internet gerade während der Coronapandemie verbreitet werden, ist die Antwort klar: Ein Mann mit dunklen Locken und stechendem Blick, der finstere Pläne verfolgt und mit seinen jüdischen Brüdern und Schwestern die Welt beherrschen will – die es deshalb zu bekämpfen und zu vernichten gilt.

Wenn man sich jedoch in der Realität umschaut und auf der Konferenz zuhörte, zu der die Initiative kulturelle Integration, der Zentralrat der Juden in Deutschland, Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters und der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus Felix Klein Expertinnen und Experten geladen hatten, sind Jüdinnen und Juden genauso vielfältig wie alle Menschen: Ältere und Junge, Gläubige und Säkulare, Traditionelle und Diverse, Resigniert-Ängstliche und Forsche, die genau diese Vielfalt leben. Das Verrückte: Man erkennt sie gar nicht, wenn sie sich nicht outen, eine Kippa oder einen Davidstern tragen oder ein offizielles Amt bekleiden. Warum auch? Kann nicht heute jede, jeder so sein, was und wie er oder sie möchte?

Weshalb aber begegnet ausgerechnet Jüdinnen und Juden, einer in Deutschland wie in der Welt verschwindend kleinen, meist gar nicht sichtbaren Minderheit, heute genauso wie in vergangenen Zeiten ein solches Ausmaß an Ablehnung, Abwertung, Anfeindung bis zu offenem Hass und Gewalt aus allen möglichen Ecken – keineswegs nur von Rechten und unverbesserlichen Nazis?

Womöglich liegt eine erste Antwort schon darin, was immer wieder auch auf der Tagung thematisiert wurde: Dass gar nicht klar ist, wer genau ein Jude oder eine Jüdin ist. Nur jemand, der oder die von einer jüdischen Mutter geboren wurde, wie es das strenge jüdische Gesetz verlangt? Oder jede, jeder, die bzw. der sich zum Judentum in all seinen Ausprägungen bekennt, wie es gerade in einer Feuilletondebatte zum Streit zwischen den Autoren Max Czollek und Maxim Biller wieder einmal verhandelt wird? Eine Kontroverse, die in Israel seit jeher ebenfalls beständig ausgetragen wird.

Daraus folgt zweitens, dass Antisemitismus eben nicht nur eine Ausprägung des Rassismus wie andere ist, weil Juden sowohl eine religiöse als auch weltliche, ethnische Gruppe bilden, sondern eine Urform der Angst vor dem Fremden, dem Unheimlichen, dem Uneindeutigen. Weshalb viele, allzu viele Zuflucht in Klischees, Vorurteilen und pauschaler Verfemung suchen: des „ewigen Juden“, wie es bei den Nazis hieß und die Kulturgeschichte des Christentums seit seinen Anfängen durchzieht; von „Kindermördern“ und „Blutsaugern“, wie auch junge Muslime und Linke während der Terrorangriffe der Hamas auf Israel vor Synagogen und jüdischen

Einrichtungen hetzten. Von „Apartheid-Besatzern“, wie Postkolonia-listen und BDS-Fanatiker formulieren.

Das Kuriose dabei: Offensichtlich stellt die Ambiguität des Judentums sowohl für Anhänger eines traditionellen Gesellschaftsbildes als auch für die Verfechter einer diversen Moderne eine Herausforderung dar. Da ist eine Gemeinschaft, die sich auf eine jahrtausendealte Geschichte und Kultur beruft und wie selbstverständlich einen Platz auch im Heute beansprucht, die aber auf eine Mehrheit stößt, die sich ganz anders begreift: christlich-abendländisch oder multikulturell-areligiös. Vereint in der Gegnerschaft gegen diesen „Fremdkörper“.

Der Soziologe Natan Sznaider vom Academic College Tel Aviv-Yafo brachte es zum Abschluss des Thementages auf einen verstörenden Punkt: Sowohl der Antisemitismus als auch der Anti-Antisemitismus sind Kinder der Aufklärung. Deshalb müsse man die Grundfrage stellen: Sollen Juden sich „unsichtbar“ machen und werden „wie alle anderen“, also ihre spezielle Identität aufgeben? Oder bleiben sie mit ihrer Andersartigkeit ein ewiger Stachel im Fleisch?

Die Frage weist auf die Mehrheitsgesellschaft zurück und darauf, welches Bild sie von sich selbst schafft: Dürfen Jüdinnen und Juden so sein, wie sie wollen, selbstbewusst, eigensinnig, ohne angefeindet, angegriffen, gar umgebracht zu werden, wie es nicht nur der Attentäter von Halle wollte, anlässlich dessen Anschlags vor zwei Jahren die Tagung statt-fand. Man möchte es zu träumen wagen.

Das Erfreuliche, auch das zeigte die Tagung: Es gibt eine junge muntere Generation von Jüdinnen und Juden, die sich nicht mehr verstecken will und die ihren Altersgenossen völlig ähnlich ist. Außer darin, dass sie ohne Scheu stolz zu ihrem Jüdischsein steht. So wie es früher in Deutschland einmal war. Und wie es auch heute sein sollte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.

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