Anna-Lena von Hodenberg & Theresa Brüheim 4. Oktober 2021 Logo_Initiative_print.png

Sofort­hilfe bei digi­ta­ler Gewalt

Anna-Lena von Hoden­berg von Hate­Aid im Gespräch

Cybermobbing, Hatespeech, Online-Stalking … Digitale Gewalt ist vielfältig und geschieht überall dort, wo sich Menschen online treffen, austauschen und vernetzen. Die Beratungsstelle HateAid bietet Betroffenen digitaler Gewalt ein kostenloses Beratungsangebot sowie Prozesskostenfinanzierung. Die Geschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg gibt Einblick in ihre Arbeit und Tipps zum Schutz vor und Umgang mit digitaler Gewalt.

Theresa Brüheim: HateAid ist die erste bundesweite Beratungsstelle in Deutschland, die ausschließlich Betroffene von digitaler Gewalt unterstützt. Wie sieht diese Beratung aus?
Anna-Lena von Hodenberg: Wir unterstützen Menschen, die im digitalen Raum – oder mithilfe elektronischer Kommunikationsmittel wie dem Handy oder dem Computer – Gewalt erfahren. Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff, der ganz verschiedene Phänomene umfasst: die Veröffentlichung privater Daten wie beispielsweise der eigenen Adresse im Netz; Nachrichten und Kommentare, die Beleidigungen oder Vergewaltigungs- und Morddrohungen enthalten; Spyware, die auf das eigene Handy aufgespielt wurde.

Unsere Beratung besteht daher aus einem dreistufigen Angebot: Zunächst bieten wir Betroffenen eine emotional stabilisierende Erstberatung, geben ihnen also den Raum, über die gerade gemachte Gewalterfahrung zu sprechen. Unser Beratungsteam achtet dabei darauf, wie die Betroffenen emotional aufgestellt sind, und kann dabei auch den Kontakt zu spezialisierten Psychologinnen und Psychologen herstellen. Darüber hinaus bieten wir eine Sicherheitsberatung an. Denn wir sehen immer wieder, dass gerade bei konzertierten Angriffen verstärkt versucht wird, private Daten, wie Telefonnummer, Adresse, Name der Schule oder Kita der Kinder, herauszufinden. In einem Privatsphäre-Check helfen wir daher, so schnell wie möglich alle privaten Daten aus dem Netz entfernen zu lassen. Zudem unterstützen wir bei der Beweissicherung: Betroffene von digitaler Gewalt erhalten oft Hunderte von Hasskommentaren, an manchen Abenden stehen ihre Telefone kaum still, weil ständig neue Benachrichtigungen dazukommen. Ihnen kann man nicht mehr zumuten, diese selbst durchzugehen und rechtssichere Screenshots anzufertigen. Die aber braucht es, um Täterinnen und Täter zur Verantwortung ziehen zu können: Für diese sollte der Hass, den sie online verbreiten, spürbare Konsequenzen haben. Es ist daher wichtig, dass so viele Menschen wie möglich Anzeige erstatten. Nur so wird digitale Gewalt auch in den öffentlichen Statistiken sichtbar gemacht. Wir ermöglichen den Betroffenen, in Kooperation mit spezialisierten Kanzleien ohne eigenes Kostenrisiko gegen die Täterinnen und Täter oder die jeweilige Plattform vorzugehen. Neben der Erstattung einer Strafanzeige kommen auch zivilrechtliche Verfahren in Betracht. Diese kosten jedoch Zeit und Geld. In geeigneten Fällen bieten wir daher auch Prozesskostenfinanzierung an, denn: Die Möglichkeit, sein Recht durchzusetzen, sollte nicht vom eigenen Geldbeutel abhängen.

Wie oft wird dieser Rechtsbeistand in Anspruch genommen?
Ungefähr in der Hälfte der Fälle.

Die Fälle digitaler Gewalt sind sehr unterschiedlich. Sie müssen von Fall zu Fall schauen. Können Sie dennoch ein paar Faustregeln bzw. Tipps geben, wie man mit digitaler Gewalt umgehen sollte?
Wichtig ist zunächst einmal Prävention: Wir raten dazu, die Privatsphäre-Einstellungen der eigenen Profile bei Social-Media-Plattformen regelmäßig zu kontrollieren und zu überprüfen, welche persönlichen Daten sich bereits im Netz zur eigenen Person finden. Gibt es da z. B. einen Google-Eintrag, der zeigt, dass ich im Vorstand der Schule meiner Kinder bin – und dazu sogar noch ein Foto? So könnte man leicht herausfinden, welche Schule die Kinder besuchen. Oder wird unter einer Publikation oder einem Bild noch meine Privatadresse angegeben? Vielleicht auch in meinem Blog? Wir raten dazu, solche privaten Daten aus dem Netz zu löschen. Dazu gehört auch, Social-Media-Accounts zu überprüfen: Wer kann meine Daten sehen? Können alle Leute meine Urlaubsfotos sehen oder eben nur ein begrenzter Personenkreis? Je weniger Daten über die eigene Person im Netz kursieren, desto weniger Angriffsfläche haben potenzielle Täterinnen und Täter. Ein zweiter Tipp sind sichere Passwörter. Es zeigt sich immer wieder, dass viele Leute sehr simple Passwörter benutzen, die schnell herausgefunden werden können.

Betroffenen raten wir, mit der Gewalt, mit dem Hass nicht allein zu bleiben, sondern sich Unterstützung zu suchen. Insbesondere während der Pandemie haben sich öffentliche Debatten immer mehr in den digitalen Raum verlagert, soziale Teilhabe ist ohne das Internet kaum noch denkbar. Umso wichtiger ist es, dass sich alle Menschen ohne Angst um ihre Sicherheit im Netz äußern können. Viele Betroffene ziehen sich jedoch ab einem bestimmten Punkt – meist wenn die eigene Familie bedroht wird – zurück. Genau das wollen die Täterinnen und die Täter: Sie schüchtern Menschen so lange ein, bis sie ihr Ziel erreichen, bis diese sich nicht mehr äußern oder bei bestimmten Themen selbst zensieren. Wir laufen Gefahr, dass bestimmte Stimmen aus unseren öffentlichen Debatten verschwinden. Das aber kann und sollte sich eine liberale Demokratie nicht leisten.

Jede und jeder kann im Netz digitale Gewalt erfahren, besonders sind aber auch Aktivistinnen, Politiker und im gemeinnützigen Bereich Tätige von Hassrede betroffen. So z. B. die Politikerin Renate Künast von Bündnis 90/Die Grünen. Gemeinsam mit HateAid hat sie einen Grundsatzprozess gegen Facebook angestrengt. Um was geht es dabei?
Digitale Gewalt kann von allen Seiten, auch aus der Mitte der Gesellschaft, kommen. Wir beobachten aber, dass gerade Täterinnen und Täter aus einem rechten bis rechtsextremen Spektrum besonders gut organisiert sind. Vor allem diese Gruppen greifen Politikerinnen, Aktivisten, Journalistinnen an – also Menschen, die das Rückgrat unserer Demokratie sind. Besonders oft trifft es Menschen, die bereits im analogen Leben Diskriminierung erfahren: Frauen, People of Color oder die LGBTIQ+-Community. Auch hier ist das Ziel, sie aus dem öffentlichen Diskurs zu drängen und im Internet mundtot zu machen.

Renate Künast ist das schon mehrere Male passiert: Es gibt massive Hasskampagnen gegen sie, unter anderem werden Falschzitate veröffentlicht. Ein Beispiel: Ein Foto zeigt ihr Gesicht und daneben steht ein Falschzitat, in dem es um etwas geht, das sie in einer Talkshow gesagt haben soll. Nur: Das Zitat entspricht nicht der Wahrheit. Man kann die Talkshow online ansehen und es selbst überprüfen. Dennoch wird das Falschzitat immer und immer wieder auf Facebook geteilt – heruntergeladen, erneut hochgeladen, sodass es sich zuhauf auf dieser Plattform befindet.

Facebook hat sogar einen Faktencheck bei diesem Zitat gemacht und bestätigt, dass sie das so nicht gesagt hat. Dennoch wird das Foto nicht von der Plattform gelöscht, obwohl es ganz klar als Falschzitat identifiziert wurde. Frau Künast müsste als Betroffene alle diese Bilder bei Facebook suchen und einzeln anzeigen, damit sie gelöscht werden. Sie ist damit ein Beispiel für viele Menschen, die wir beraten.

Wir finden, dass es Betroffenen, die bewiesen haben, dass unwahre Zitate über sie im Netz in Umlauf sind und von denen auch ein deutsches Gericht ganz klar sagen würde: „Das ist Verleumdung!“, nicht zugemutet werden kann, diese immer wieder selbst auf der Plattform zu suchen, zu melden und anzuzeigen. Stattdessen müssen die Plattformen in die Pflicht genommen werden: Der Europäische Gerichtshof urteilte bereits 2019, dass Gerichte die Plattformen durchaus dazu verpflichten können, ähnliche oder wortgleiche Inhalte zu löschen. Doch dieses Urteil allein ändert leider noch nicht die Praxis, denn in jedem europäischen Land muss das noch mal neu eingeklagt werden.

Renate Künast hat sich entschlossen, für ihr Recht vor Gericht und, wenn nötig, durch alle Instanzen zu gehen, um für sich und andere Betroffene ein Grundsatzurteil zu erwirken. Wenn Facebook dazu verpflichtet wird, diese wortgleichen Falschzitate zu löschen, wäre das ein großartiges Signal für zahlreiche Betroffene.

Bleiben wir bei den Plattformanbietern wie z. B. Facebook. Im Januar 2021 ist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Kraft getreten, wie positioniert sich HateAid dazu?
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ist aus unserer Sicht ein insgesamt sinnvoller Regulierungsansatz, der Betroffene von digitaler Gewalt wirksam schützen kann. Es ist jedoch an einigen Stellen verbesserungsfähig, insbesondere in der praktischen Umsetzung: Allzu oft entziehen sich die Plattformen unter Berufung auf ihre AGB der Anwendung des Gesetzes. Insgesamt kommen die Plattformen der Löschpflicht auch zu selten nach und lassen selbst offensichtlich rechtswidrige Kommentare stehen – und verdienen so als Wirtschaftsunternehmen weiter an den Inhalten. Die Befürchtung, dass es nach Einführung des NetzDG zum sogenannten Overblocking – also dazu, dass die Plattformen zu viele Inhalte löschen – kommt, haben sich also nach bisherigem Kenntnisstand nicht bestätigt.

Was wir aber sehen: Seit der Einführung des NetzDG scheinen die Plattformen mehr Anstrengungen zu unternehmen, um den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir begrüßen außerdem, dass soziale Netzwerke in Deutschland gemäß NetzDG jeweils einen Zustellungsbevollmächtigten benennen müssen, an den Schriftstücke in Deutschland rechtssicher zugestellt werden können.

Aber nur löschen reicht eben nicht, Täterinnen und Täter müssen auch zur Verantwortung gezogen werden. Das Löschen von Beleidigungen im Netz ist wie ein Trostpflaster, das man auf eine Wunde klebt. Das Problem ist damit nicht weg. Die Täterin oder der Täter spüren keine Konsequenzen und machen einfach weiter.

Wir sind daher überzeugt, dass es auch mehr Strafverfolgung braucht, um Täterinnen und Täter abzuschrecken. Der Gesetzgeber versucht dies nun über eine Meldepflicht zu lösen, die ab Anfang 2022 gelten soll. Soziale Netzwerke sollen verpflichtet werden, Meldungen, die bestimmte schwere Straftatbestände erfüllen, an das Bundeskriminalamt (BKA) auszuleiten. Eine solche Meldepflicht halten wir für sinnvoll, auch wenn wir uns eine datensparsamere Ausgestaltung gewünscht hätten.

Insgesamt wünschen wir uns, dass Hasskriminalität im Netz auch durch die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz flächendeckend ernst genommen und verfolgt wird. Häufig wird bisher leider verkannt, dass deren Wirkung weit über den Einzelfall hinausgeht und uns letztlich alle betrifft.

Der digitale Raum hat in der Coronapandemie nochmals an Bedeutung als öffentlicher Treffpunkt gewonnen. Konnten Sie feststellen, dass während der Pandemie auch die Hassrede im Netz angestiegen ist?
Ja, das zeigen unsere Beratungszahlen deutlich. Wir haben einen massiven Anstieg an Beratungsfällen während der Coronapandemie verzeichnet. Aggression und Hass entladen sich vor allem, wenn Menschen verunsichert sind und unter Stress stehen. In solchen Zeiten treffen Hass und Gewalt die Betroffenen psychisch besonders hart. Denn während der Coronapandemie haben sich das öffentliche und private Leben sowie ganze Debatten fast vollständig in den digitalen Raum verlagert. Leider erleben wir aktuell trotz der erfolgten Lockerungen in der Beratung noch keine Entspannung. Wir sehen weiterhin massive Angriffe, vor allem gegen Politikerinnen und Aktivistinnen.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2021.

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