Helmut Hartung 4. Oktober 2021 Logo_Initiative_print.png

Nicht auf den ganz gro­ßen Wurf warten

Eine euro­päi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­platt­form ist gegen­wär­tig unrealistisch

Im Februar dieses Jahres hat das Benediktinerstift Admont in Österreich eine Kulturplattform mit dem Titel „Discover Culture“ gestartet. Die Online-Plattform zur Vernetzung und Vermarktung von Kultureinrichtungen discover-culture.com bündelt das digitalisierte Angebot namhafter Kulturinstitutionen Österreichs. Dazu gehört inzwischen auch das Kunsthistorische Museum Wien. Die erste Partnerschaft in Deutschland wurde mit dem Fürstenhaus Schaumburg-Lippe vereinbart. Museen und Galerien erhalten einen Teil der Einnahmen. Ob diese Plattform eine europäische Relevanz erreichen kann, wie geplant, sei dahingestellt, doch zwingt sich angesichts dieses Beispiels die Frage auf, warum in Deutschland keine Kulturplattform existiert, die die vielen digitalen Initiativen von Kultureinrichtungen bündelt und mit einem Klick die Nutzung der kulturellen Vielfalt ermöglicht. Muss man erst auf eine europäische Initiative warten, die noch dazu nur schwer zu realisieren ist, da die EU weder im Kultur- noch im Medienbereich die rechtliche Kompetenz besitzt? Die gleiche Frage betrifft auch den Medienbereich. Die Politik sieht sich anscheinend außerstande, ARD und ZDF zu einer gemeinsamen Mediathek zu veranlassen, wie soll das erst auf europäischer Ebene und auch noch unter Einbeziehung privater Medien funktionieren? Es wird Zeit, sich von dem Phantom einer europäischen Plattform zu verabschieden und stattdessen pragmatisch auf nationale Lösungen zu setzen, die die bereits vorhandenen Initiativen vernetzen und ausbauen.

Initiativen für eine europäische Medienplattform
Immer wieder tauchte in den vergangenen zwei bis drei Jahren die Forderung auf, eine gemeinnützige, quasi öffentlich-rechtliche europäische Medienplattform zu gründen, um den globalen Plattformen von Google oder Amazon inhaltlich etwas entgegenzusetzen. Die Plattform sollte sich aus Angeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, des privaten Rundfunks, von Verlagen, Blogs, Kultureinrichtungen speisen. Sie soll offen für humanistische Inhalte und weitgehend staatsfern sein. Das eine solche Plattform notwendig und überfällig ist, steht außer Frage, doch wer fühlt sich dafür zuständig, wie soll es finanziert werden? Als im September 2018 der damalige Intendant des bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, ein solches Netzwerk öffentlich anregte, gab es von Politikern, Medien und auch aus dem Kulturbereich viel Lob, doch außer weiteren Konzepten und Absichtserklärungen ist seitdem nicht viel geschehen: So sieht im deutsch-französischen Kooperationsabkommen, das 2019 unterzeichnet worden ist, Artikel 9 die Einrichtung einer digitalen deutsch-französischen Plattform vor. Im Juli 2020 stellte eine Projektgruppe der unter anderem acatech-Chef Henning Kagermann, Ulrich Wilhelm und Paul-Bernhard Kallen, CEO von Hubert Burda Media, angehörten, das Konzept für einen digitalen Datenraum für Europa vor – die „European Public Sphere“ (EPS). Hier sollten auch kulturelle und mediale Inhalte angesiedelt werden. Seitdem hat die Öffentlichkeit von dem Projekt EPS nichts mehr gehört.

Studie zweifelt an der Kompetenz der EU für eine Kultur- und Medienplattform
Zwar hat die EU-Kommission in einem Grundsatzpapier „Zur Gestaltung der digitalen Zukunft Europas“ 2020 betont: „Die technologische Unabhängigkeit Europas beginnt mit der Gewährleistung der Integrität und Widerstandsfähigkeit unserer Dateninfrastrukturen, -netze und -kommunikation. Sie setzt voraus, dass die richtigen Bedingungen geschaffen werden, damit Europa seine eigenen Schlüsselkapazitäten entwickeln und einsetzen und so seine Abhängigkeit von anderen Teilen der Welt bei den wichtigsten Technologien verringern kann.“ Unter den Schlüsselmaßnahmen wird auch die Unterstützung des digitalen Wandels und der Wettbewerbsfähigkeit des audiovisuellen Sektors und der Medien genannt, um den Zugang zu hochwertigen Inhalten und den Medienpluralismus zu fördern, ohne konkret auf Medienplattformen einzugehen.

In ihrer Studie für die Bundesregierung „Kooperative Medienplattformen in einer künftigen Medienordnung“, die die Basis für den „Medien- und Kommunikationsbericht“ 2021 bildete, stellen die Autoren jedoch fest, dass es fraglich sei, ob EU-weit jenseits des Aufbaus technologieneutraler Datennetze die Kompetenz besteht, um eine Medienplattform zu errichten. Das gilt umso mehr, als die softwarebasierten Entscheidungen beim Aufbau einer Plattform in hohem Maße Auswirkungen auf die Mediennutzung besitzen. „Deswegen“, so die Autoren, müsste zumindest auch eine EU-Kompetenz hinsichtlich der Verbreitung von Medieninhalten bestehen. Aufgrund der Subsidiaritätsklausel besteht aber allein die Zuständigkeit dafür, ein Mindestmaß an Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Standards vorzunehmen, die auf Vollendung des Binnenmarkts zielt.

Anstelle einer Medienplattform ein „institutionelles Vermittlungsarrangement“
Die Studie stellt fest, dass in Europa zu beobachten sei, dass Medien vermehrt für den Aufbau solcher Medienplattformen kooperieren, nämlich beim Aufsetzen gemeinsamer Mediatheken (Subscription-Video-on-Demand) von an sich konkurrierenden Fernseh- und Radioanbietern oder bei der Setzung von Standards und Öffnung von Schnittstellen zur Vernetzung existierender Angebote, beispielsweise in Form sogenannter „Login-Allianzen“. Paradox sei hingegen, dass der Aufbau einer (europäischen) „Super-Plattform“ als Gegengewicht zu Netflix, Facebook und anderen nicht erkennbar verfolgt wird. Die praktisch-technischen und rechtlichen Probleme seien derzeit zu hoch, verbunden mit ökonomischen Risiken durch Investitionskosten. Die Autoren empfehlen deshalb, dass sich die Schaffung kooperativer Medienplattformen auf die Werte der liberalen Demokratie beziehen solle. Davon sollten die Erwartungen an gemeinwohlorientierte Medienplattformen und die dafür notwendigen regulatorischen Maßnahmen abgeleitet werden. Zu diesen Werten zählen: Informations- und Diskursqualität, Freiheit, Gleichheit, Vielfalt, Verteilung von Meinungsmacht, Kritik und Kontrolle, Integration und Sicherheit. Eine gemeinwohlorientierte und kooperative Medienplattform wäre ein institutionelles Vermittlungsarrangement, das dem Paradigmenwechsel und der Neukonzeption von Vermittlungsleistungen in besonderem Maße gerecht werden würde.

Es ist Aufgabe der Politik, Plattformen gemeinwohlverträgliche Pflichten aufzuerlegen
Die Bundesregierung folgt in ihrem aktuellen „Medien- und Kommunikationsbericht“ der Argumentation der Studie und stellt fest, dass den Plattformen Pflichten für die gemeinwohlverträgliche Ausgestaltung öffentlicher Kommunikationsräume aufzuerlegen seien. Ziel sollte bleiben, einen „fairen, offenen, wettbewerbsfreundlichen, digitalen Raum“ zu schaffen. Die Bundesregierung sieht vier Handlungsoptionen, die neue kooperative Medienplattformen, vor allem im nationalen Maßstab, ermöglichen könnten.

1. Anreize für neue kooperative Medienplattformen
Damit der Wettbewerbsnachteil, der bei neuen kooperativen Medienplattformen gegenüber großen etablierten Plattformen besteht, ausgeglichen wird, soll die Bereitstellung von vermeintlich kostenlosen Internetangeboten im Gegenzug gegen die Einwilligung in die Auswertung nutzerbezogener Daten der Umsatzsteuer unterworfen werden. Als ein weiterer Ansatz wird die Einführung einer Werbesteuer auf das Schalten digitaler Werbung diskutiert. Des Weiteren sollen die Einnahmen besteuert werden, die aus dem Verkauf gesammelter Nutzerdaten resultieren.

2. Schaffung wettbewerblicher Chancengleichheit
Fairer Wettbewerb sollte auch das Ziel einer zukunftsorientierten Medienordnung sein. Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, wird darin gesehen, die Parameter des Wettbewerbs gesetzlich durch eine Standardisierung werte­orientierter Grundsätze zu bestimmen und so ein Level-Playing-Field für alle Plattformen zu schaffen. Aus Sicht der Bundesregierung ist es wichtig, einen Rechtsrahmen zu setzen, der unter Achtung der unternehmerischen Freiheit gegebenenfalls neuen kooperativen Medienplattformen fairen Wettbewerb gewährleistet und darüber hinaus auch gemeinwohlverträgliche öffentliche Kommunikationsräume ermöglicht. Es sollten beim Einsatz von Empfehlungsalgorithmen für Medieninhalte unter bestimmten Voraussetzungen auch solche Grundsätze beachtet werden, wie sie für die klassischen Medien seit Langem gelten.

3. Umverteilung
Ein kooperatives Plattformmodell in Gestalt einer „Flatrate-Journalismus-Plattform“ kommt nicht ohne ein passend gestaffeltes Preissubventionierungssystem aus. Grundsätzlich ist es denkbar, einen entsprechenden Finanzbedarf mit Steuermitteln zu decken. Allerdings müsste im Hinblick auf die Medienfinanzierung eine staatsferne Verteilung sichergestellt werden. Zur Ermöglichung neuer kooperativer Medienplattformen und im Interesse einer staatsfernen Ausgestaltung der Finanzierung ist eine Finanzierung auch aus Mitteln des Rundfunkbeitrags denkbar.

4. Anpassung des Auftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht, dass angesichts der Gefahren von Desinformation und dem steigenden Misstrauen gegenüber Medien die Bedeutung des beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks wachse, seiner Aufgabe nachzukommen, „ein vielfaltsicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden“. Ein solches Gegengewicht zu einer rein ökonomischen Entscheidungsrationalität der Plattformen könnte auch durch eine Erweiterung des Auftrages des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf neue kooperative Medienplattformen erreicht werden.

Dies geht über die aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk stammende Forderung nach einer Weiterentwicklung hin zu einem gemeinwohlverpflichteten Kommunikationsnetzwerk hinaus.

Eine europäische Medienplattform als Bottom-up-Prozess
Für Barbara Pfetsch vom Weizenbaum-Institut der Freien Universität Berlin ist das Schaffen einer europäischen Öffentlichkeit nicht als ein Top-down-Prozess zu verstehen. Europäisierung werde in der Forschung als gegenseitige Wahrnehmung und horizontale Vernetzung von verschiedenen Akteuren in unterschiedlichen Ländern gedacht, als ein Bottom-up-Prozess, der von unten komme.

Solche speziellen Kommunikationsplattformen entstehen zunehmend, auch europaübergreifend. So haben sich im April ARD, ZDF und Arte bei dem Projekt „The European Collection“ mit France Télévisions sowie der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR zusammengeschlossen. Dabei geht es erstmals um eine gemeinsame Programmauswahl in den jeweiligen Mediatheken.

Ein weiteres Projekt ist „ENTR“, das von den beiden Auslandsrundfunkanstalten Deutsche Welle und France Médias Monde entwickelt wurde und sich mit aktuellen europäischen Themen vor allem an junge Menschen in Europa wenden will. Die EU-Kommission will im Rahmen eines Pilotprojekts Jugendmediennetzwerke unterstützen, die mithilfe von Social-Media-Formaten und -Veranstaltungen Inhalte zu aktuellen Themen produzieren. Außerdem soll eine vorbereitende Maßnahme für Medienplattformen den Zugang der Bürger zu vertrauenswürdigen Informationen verbessern, an der Rundfunkanstalten und Verlage beteiligt sind.

Eine regionale Medienplattform für lokale Inhalte fördert seit Kurzem als erstes Bundesland Bayern. „Eine solche lokale Medienplattform kann ein wirksamer Hebel sein – wenn sie als Grundlage genutzt wird, ein Ökosystem aufzubauen, das bei technischen und gesellschaftlichen Standards neue Wege geht“, erläutert der scheidende Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), Siegfried Schneider, diese Initiative.

Weiter gedacht lassen sich solche Prototypen auch in eine unabhängige europäische Plattform-Infrastruktur andocken. „Man brauche den Mut, einfach einmal anzufangen, und selbstverständlich auch den politischen Willen. Dazu gehört aber auch eine entsprechende Anschubfinanzierung. Wer immer auf den ganz großen Wurf wartet, wird nie loslegen.“ „Aus kleinem Anfang entstehen alle Dinge“ – diese Erkenntnis des großen Cicero habe sich in seiner beruflichen Laufbahn immer wieder bestätigt, sagt Schneider.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2021.

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