Johann Hinrich Claussen, Olaf Zimmermann & Theresa Brüheim 2. September 2021 Logo_Initiative_print.png

Stot­tern, Geduld und reli­giöse Erlebnisse

Johann Hin­rich Claus­sen und Olaf Zim­mer­mann im Gespräch

In Deutschland stottern Stand 2020 mehr als 800.000 Menschen, rund ein Prozent der Bevölkerung. Auch der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, und der Herausgeber von Politik & Kultur, Olaf Zimmermann, haben bis ins Jugendalter gestottert. Heute ist das freie Sprechen essenzieller Kern ihrer Berufe. Für beide war es eine Aufgabe, an der sie nicht nur wuchsen, sondern die sie auch fernab klassischer Wege führte. Im Gespräch mit Theresa Brüheim berichten sie von sprachlichen Herausforderungen, Rhetorikkursen und dem religiösen Erlebnis des fließenden Atems.

Theresa Brüheim: Sie haben beide im Kindesalter gestottert. Wie haben Sie dies als Kind empfunden?
Johann Hinrich Claussen: Das Stottern hat mich geprägt, neben anderen Erfahrungen. Ein Glück war, dass ich deshalb nie geärgert wurde. Vor Kurzem sagte mir ein Schulfreund den Grund: Unsere Grundschullehrerin hatte in meiner Abwesenheit die Klasse eindrücklich ermahnt, mich nie wegen des Stotterns zu hänseln.
Eine unschöne Begebenheit kann ich aber nicht vergessen: Ich musste bei einer Sonderschule zur Beratung vorsprechen. Der Direktor wollte mich sofort umschulen. Das hat mir Angst gemacht. Zum Glück haben meine Eltern und meine wunderbare Logopädin mich beschützt. Ich habe oft mit mir gehadert, wenn ich die Worte nicht rausbekam. Deshalb wurde ich aber nie aus der Gemeinschaft der Freunde, der Klassenkameraden, der Familie ausgeschlossen.

Olaf Zimmermann: Ich habe erst mit sechs Jahren angefangen zu stottern, nachdem ich meine Mutter nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus gesehen habe. Von dem Moment an konnte ich nicht mehr vernünftig sprechen. Es war traumatisch, so die Sprache zu verlieren. Ich bin auf dem Land groß geworden. Da ist man nicht immer nett miteinander umgegangen. Durch das Stottern wurde ich zum Außenseiter. Ich habe mich sehr zurückgezogen und hatte das Gefühl, nur meine Familie kann mich verstehen. Aber ich war gern allein. Das war für mich keine Strafe, sondern vollkommen in Ordnung. Wenn ich mit niemandem reden musste, gab es auch keinen Stress.
Ich bin damals auf einer Zwergschule – mit vier Klassen in einem Raum – gewesen, was eine pädagogische Katastrophe war. Auch ich sollte dann auf eine Sonderschule. Man wollte mich einfach loswerden. Meine Mutter hat sich aber mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Bis heute bin ich ihr sehr, sehr dankbar, dass sie das verhindert hat.

Claussen: Auch meine Mutter hat für mich gekämpft, dass ich nicht auf die Sonderschule musste. Sonst wäre mein Leben ganz anders verlaufen.

Zimmermann: Damals war die Sonderschule eine Resteschule, das ist glücklicherweise heute in der Förderschule nicht mehr so.

Welche Auswirkungen hatte das Stottern physisch und auch
psychisch auf Sie? Was hat das mit Ihnen gemacht?
Claussen: Körperlich gar nichts. Aber es gab Phasen, da war ich sehr aufgeregt in großen Kindergruppen. Auch habe ich mitteilungsfreudige Geschwister. Der Slot, etwas zu sagen, war immer eng. Oft habe ich dann nichts rausgekriegt. Das hat mich wahnsinnig frustriert. Durch die Logopädie habe ich gelernt, damit umzugehen. Allerdings hat es gebraucht, das umzusetzen. Der Grund für mein Stottern war falsches, hektisches Atmen. Als ich gelernt habe, dass der Atem kommt und ich darauf vertrauen kann, war es fast ein religiöses Erlebnis. Da war ich allerdings schon 14. Dann hat sich das Stottern gelöst. Ich habe mir aber das Bewusstsein bewahrt, dass das Sprechen nicht selbstverständlich ist. Als ich mit dem Pastorenberuf anfing, war ich noch mal intensiv in logopädischer Behandlung, um das öffentliche, deutliche, laute, sichere Sprechen zu lernen.

Herr Zimmermann, wie war das bei Ihnen?
Zimmermann: Die ersten vier Jahre, in denen ich gestottert habe, waren ein Albtraum. Ich wollte nie in die Schule, habe viele Krankheiten simuliert. Das war meine Flucht.
Mit zehn habe ich ein halbes Jahr in einer Spezialklinik für Stotternde verbracht. Das war eine große Veränderung. Dort wurde sich das erste Mal wirklich um mich gekümmert. Es gab den ersten leichten Aufbruch, allmählich konnte ich mich auch wieder mit Freunden verständigen. Aber erst mit dem siebten Schuljahr wurde die Zwergschule in dem kleinen Dorf, in dem ich lebte, geschlossen und ich durfte in die eine Hauptschule in der Nachbargemeinde gehen. Da habe ich das erste Mal erlebt, dass es für jede Jahrgangsstufe eine eigene Klasse gab. Das war wie eine Offenbarung! Was vorher nicht funktionierte, klappte auf einmal. Ich konnte mich nie konzentrieren, wenn andere geredet haben. In einer Zwergschule wurde der Unterricht immer parallel für einen anderen Teil der Schüler gemacht. Das war neben dem Stottern wahnsinnig anstrengend für mich. Zwar habe ich auch auf der Hauptschule weiter mit dem Stottern gehadert, aber das Umfeld war ein anderes.
Irgendwann kam das Atmen auch bei mir automatisch und es wurde besser. Aber selbst heute habe ich immer noch Situationen, in denen ich innehalten und neu beginnen muss. Das passiert glücklicherweise nicht mehr so oft. Natürlich hat das Stottern große Defizite in der Schule mit sich gebracht, z. B. habe ich nie eine Fremdsprache richtig gelernt. Es hat einfach nicht funktioniert. Ich musste mich auf die eine Sprache konzentrieren und war froh, dass ich die hinbekomme. Am Anfang haben die Leute auch gesagt: „Du wirst nie frei reden können. Auch wenn du das Stottern im Griff hast, bleibst du behindert und wirst viele Sachen nicht machen können.“ Das Verrückte ist, dass ich gerade das freie Reden vor vielen Menschen heute unglaublich gern und viel mache. Die Leute, die mir gesagt haben, was ich alles nicht kann, hatten einfach Unrecht.
Das Stottern hat mein Leben stark geprägt. Dadurch habe ich auch bestimmte Interessen ausgebildet. Ich habe ein großes Interesse an der Natur und bin sehr gern allein in der Natur unterwegs. Durch das Stottern war ich als Kind meist allein draußen. Ich wollte auch gar nicht mit den anderen Kindern spielen, da hätte ich ja reden müssen.

Heute ist das öffentliche Sprechen essenzieller Kern Ihrer beiden Berufe. Herr Claussen, Sie haben auch einen eigenen Podcast. Das ist ein Medium, welches exklusiv über die Sprache funktioniert. Suchen Sie sich bewusst sprachliche Herausforderungen?
Claussen: Ich suche mir Gelegenheiten, um zu und mit anderen Menschen zu sprechen. Das hat aber nichts mehr mit meinem Stottern zu tun. Es bereitet mir einfach Freude. Aber mir ist bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist. Deshalb bereite ich mich auf das Sprechen bewusst vor, etwa indem ich mich richtig hinsetze oder -stelle, ein, zwei ruhige Atemzüge nehme. Das habe ich automatisiert. Aber ich habe immer Lampenfieber – sogar bei einer kleinen Taufe. Und ich bin immer froh, wenn ich es geschafft habe.

Wie ist das bei Ihnen, Herr Zimmermann? Sie geben nahezu täglich Interviews und führen zahlreiche Gespräche, da muss die Sprache auf den Punkt kommen.
Zimmermann: Es gibt bestimmte Sachen, die mir leichtfallen. Dazu zählt heute, frei zu sprechen. Das habe ich geübt. Ich habe z. B. Rhetorikseminare besucht. Das war anfangs sehr aufregend, aber ich habe nützliche Techniken gelernt: warten, Scheibenwischerblick, richtig atmen usw. Daran halte ich mich fest. Das freie Sprechen ist nicht von heute auf morgen gekommen. Es war ein langer Weg voller Arbeit. Dadurch war ich besonders gefordert. Unterm Strich hat es meine Entwicklung positiv beeinflusst, dass ich Stotterer bin. Bei allen Problemen, die es mir brachte,
bin ich mir sicher, dass ich heute nicht das machen würde, was ich tue, wenn ich nicht gestottert hätte. Höchstwahrscheinlich wäre ich einen viel normaleren Weg gegangen.
Anderes aber bereitet mir noch immer erhebliche Schwierigkeiten. Beispielsweise habe ich Probleme, Namen oder Begriffe in Fremdsprachen auszusprechen, ich verfalle dann wieder ins Stottern. Aber ich versuche, das Problem zu umgehen. Solche Begriffe deutsche ich alle ein.

Claussen: Ein Sprachreiniger.

Zimmermann: Genau, ich reinige für mich die Sprache. Ich versuche, auch Namen von Personen mit schwieriger Aussprache zu umgehen. Oder wenn nicht möglich, dann benenne ich offen das Problem und sage: „Sie müssen mir helfen, Ihren Namen richtig auszusprechen“. Manche Leute halten das für eine Zumutung. Aber das hat in meinem Fall nichts mit Rassismus zu tun. Ich kann sie eben nicht einfach aussprechen. Ich sehe es als eine Form von Behinderung, die von außen nicht erkannt wird.
Aber ich möchte auch nicht die ganze Zeit darüber reden und mich auf Podiumsdiskussionen oder anderen Veranstaltungen erklären.

Claussen: Es besteht die Gefahr, dass man sich selbst oder andere mit der Opferkategorie belegt.

Zimmermann: Das Stottern behindert heute nicht mehr mein Leben, also möchte ich damit nicht hausieren gehen. Auch erst in den letzten Jahren spreche ich offen über das Thema. Früher habe ich mit niemand darüber geredet, ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen.

Claussen: Für uns beide ist das Stottern kein Dauerthema mehr. Dennoch waren wir in besonderer Weise angerührt von der Gedichtrezitation von Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden.

Beide – Gorman und Biden – hatten im Kindesalter eine Sprechbehinderung. Das rhythmische Sprechen half ihnen dabei, diese zu überwinden. Was hat Sie an der Gedichtrezitation von Amanda Gorman besonders berührt?
Claussen: Er steht auf der Bühne im hohen Alter, sie rezitiert mit dieser jugendlichen Sprachschönheit. Beide haben diese Geschichte, die mich mit ihnen verbindet. So seltsam es klingt: Ich fühlte mich da von den beiden repräsentiert. Lustig, nicht? Fremdes Land, was habe ich mit denen zu tun? Aber ich fühlte mich repräsentiert.

Zimmermann: Ich denke, dass Stottern dazu führen kann, dass man bestimmte Sachen intensiver machen muss und damit letztendlich stärker und erfolgreicher ist. Es gibt erstaunlich viele Stotterer, aus denen was geworden ist.

Claussen: Auch für mich war das Stottern rückblickend wichtig. Aber wenn es das nicht gewesen wäre, wäre es was anderes gewesen. Es gibt eben nicht das normale Kind, den normalen Jugendlichen. Jeder hat eine Herausforderung. Bei dem Einen ist es das Stottern, bei dem Anderen die Akne, bei dem Dritten die geschiedenen Eltern, bei dem Nächsten die Unsportlichkeit … Jeder bekommt hoffentlich nur eine Aufgabe, mit der leben lernt und an der er wächst.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Copyright: Alle Rechte bei Initiative kulturelle Integration

Adresse: https://www.kulturelle-integration.de/2021/09/02/stottern-geduld-und-religioese-erlebnisse/